Es drängt sich der Verdacht auf, dass
sich weder ehemalige Kollegen noch die Justiz ernsthaft mit dem Fall Jegge
befassen wollen.
Zürcher Justiz und Bildungselite geben ein trauriges Bild ab, Sonntagszeitung, 8.10. von Arthur Rutishauser
Wer es noch nicht wusste, der konnte sich am letzten Donnerstag im
Dok-Film des SRF davon überzeugen. Fredy Büllig, Ex-Lehrer, Ernst Atzenweiler,
ehemaliger Bezirksschulpfleger, und Hans Rothweiler, früher der zuständige
Projektleiter in der Erziehungsdirektion, schauten freundlich lächelnd, aber
uneinsichtig auf ihre Vergangenheit zurück. Sie alle hatten es sträflich
unterlassen, bei Jürg Jegge nachzuhaken, als Gerüchte aufkamen, dass er es mit
der Nähe zu den Jugendlichen, die ihm anvertraut waren, übertrieb. So war es
möglich, dass Jegges dunkle Seite jahrelang unentdeckt blieb und es immer mehr
Opfer gab. Es ist ein trauriges Bild, das die Zürcher Bildungselite im Fall
Jegge abgibt.
Jetzt drängt sich der Eindruck auf, nicht nur die ehemaligen Kollegen hätten
keine Lust, sich ernsthaft mit dem Fall auseinanderzusetzen, sondern auch die
Justiz. Wie kann es sonst sein, dass kein Einziger der Mitarbeiter, die heute
bei Jegges Stiftung Märtplatz arbeiten und die Zeit mit Jegge noch miterlebt
haben, von der Staatsanwaltschaft befragt wurde? Dies, obwohl die
Staatsanwaltschaft die Namen von möglichen Zeugen kannte und angeblich
«intensive Ermittlungen» durchgeführt.
Ob nach so vielen Jahren wirklich noch eine Anklage möglich ist, lässt
sich natürlich nicht sagen. Doch man kann wenigstens erwarten, dass es die
Staatsanwaltschaft ernsthaft versucht. Es darf doch nicht der Eindruck
entstehen, dass einer, der jahrelang blind verehrt und als Autor und
Fernsehstar schweizweit gefeiert wurde, einfach davonkommt, weil niemand in der
Vergangenheit rühren will. Sonst dauert es nicht lange, bis Forderungen nach
Gesetzesverschärfungen laut werden. Dabei geht es hier eigentlich nur darum,
dass bestehendes Recht umgesetzt wird. Und das mindestens ist man den Opfern
schuldig. Immerhin wurden die Taten in einer staatlich unterstützten
Institution begangen.
Eine Gesetzesänderung braucht es wohl in einem anderen problematischen
Fall, den unsere Reporter Nadja Pastega und Roland Gamp (Seite 17)
ausrecherchiert haben. 18 Monate bedingt erhielt letzte Woche eine Mutter für
eine Kindestötung. Sie ging kaltblütig vor, warf ihr Baby in einen Eimer und
zeigte nicht einmal vor Gericht wirklich Reue. Und trotzdem musste sie nicht
einmal ins Gefängnis. Doch das unverständliche Urteil ist gesetzeskonform. Die
entsprechende Strafbestimmung stammt aus dem Jahr 1942, als man offenbar lieber
Milde walten liess, als die Abtreibung zu legalisieren. Das ist heute
glücklicherweise anders, darum ist es schlicht unverständlich, warum sich hier
Justizministerin Simonetta Sommaruga gegen die von links bis rechts geforderte
Gesetzesverschärfung stemmt.
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