Erst
Lehrer, dann Lehrerausbildner, Lehrbuchautor, Lehrgangmitentwickler,
Mitarbeiter an verschiedenen Forschungsprojekten, Schulpflegepräsident einer
Oberstufe und Mitglied der Freinet-Gruppe Schweiz, die sich für eine Erziehung
ohne Zwang einsetzt: Um die Schule und den Beruf des Lehrers drehte sich Donatus
Stemmles ganzes bisheriges Leben. Ende 2018 will der 69-Jährige
definitiv in Pension gehen. Ganz wird er der Schule aber nicht den Rücken
kehren: Acht Enkelinnen und Enkel dürfen mit seinem Interesse rechnen.
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Ist mit 69 Jahren noch in der Lehrerbildung tätig: Donatus Stemmle, Bild: Dan Cermak
Für Donatus Stemmle werden Lehrer nicht bald durch Roboter ersetzt, Migros Magazin, 10.8. von Esther Banz
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Donatus Stemmle, Sie werden dieses Jahr 70 Jahre alt und sind längst
pensioniert. Warum treffen wir uns trotzdem an der Pädagogischen Hochschule in
Zürich (PHZH), wo Lehrer ausgebildet werden?
Stimmt, eigentlich bin ich in Pension (lacht). Ich gebe hier nur noch
ein Modul in Natur-Mensch-Gesellschaft und ein anderes an der Fachhochschule
Nordwestschweiz. Weil ich sehr ungern damit aufhöre.
Die Zahl der Studierenden an der PHZH ist beeindruckend: Im nächsten
Semester werden 3550 Männer und Frauen studieren. Das ist rekordverdächtig.
Ja, der Beruf ist unvermindert beliebt, und Klassenlehrer werden nicht
so bald durch Roboter ersetzt werden.
Man liest viel über die Nöte der Lehrer heute: Jeder Dritte leidet an
anhaltenden depressiven Beschwerden, und ebenso viele Lehrer seien
Burn-out-gefährdet, besagt eine Nationalfondsstudie aus dem Jahr 2014. Was
macht den Beruf so schwierig?
Es sind verschiedene Faktoren, aber einer scheint mir besonders
gewichtig: die hohen Ansprüche. Damit meine ich die Ansprüche, die eine
Lehrerin oder ein Lehrer an die eigene Leistung hat: Man deckt mehrere Fächer
ab und will es in jedem richtig gut machen. Und dann sind da noch die
Vorstellungen vieler ehrgeiziger und oft selber akademisch gebildeter Eltern.
Sie erwarten – natürlich zu Recht –, dass ihr Kind bestmöglich gefördert wird.
Die Kinder sind heutzutage erfreulicherweise selbstbewusster, widersprechen
und können einen langweiligen Unterricht stören. Früher erwartete man von den
Kindern Gehorsam und von den Lehrern Strenge. Wenn ein Schüler eins an die
Ohren kriegte, erzählte er das besser nicht zu Hause, sonst gabs dort noch eins
drauf. Ein Kind musste gehorchen, das war einfach so, es gab kein Wenn und
Aber. Der Lehrer war unantastbar.
Man erzog die Kinder nicht unbedingt zu mündigen, selbstbewussten
Mitmenschen.
Genau. Heute indes erwartet die Gesellschaft, dass Kinder in der Schule
zu eigenständig denkenden und eigenverantwortlich handelnden Bürgern und
Bürgerinnen erzogen werden. Die Heranwachsenden sollen ihre Stärken und Schwächen
erkennen, Auftrittskompetenz erlangen und selbst verantworten, was sie tun.
Das klingt fantastisch. Man würde erwarten, es herrsche
Friede-Freude-Eierkuchen, alle seien wunschlos glücklich.
Die positive Wirkung heutiger Pädagogik sehen natürlich nicht alle
gleich. Es gibt in konservativen Kreisen Eltern, die die züchtigende Hand
vermissen. Und dann gibt es Eltern, die ihre eigene berufliche
Wunschvorstellung auf ihr Kind projizieren. Zudem wirkt sich das heutige
Konsumdenken aus: Man meint, Erfolg könne man kaufen, man hätte ein Anrecht
darauf, und man fühlt sich befähigt, die Qualität des Unterrichts selber zu
beurteilen, denn man ist ja auch mal in die Schule gegangen.
Mit der Integration von Kindern, die zuvor aufgrund ihres Verhaltens
oder einer Behinderung in Kleinklassen respektive einer Sonderschule
unterrichtet wurden, sind die Klassen heterogener geworden. Was bedeutet das
für den Unterricht?
Sie sprechen das sogenannte Classroom-Management an. Das ist in der Tat
die grosse Sorge angehender Lehrerinnen und Lehrer: Wie schaffe ich es, eine
grosse und höchst vielseitige Klasse zu führen? Ich habe eine hochbegabte
Schülerin, Kinder mit ADHS und insgesamt acht Sprachen im Klassenzimmer
vertreten. Wenn ich ein Mensch bin, der gut mit der Vielfalt umgehen kann, eine
positive Grundeinstellung Kindern mit speziellen Bedürfnissen gegenüber hat und
das als sportliche Herausforderung angeht, gelingt es eher, als wenn ich von
vornherein damit schon Mühe habe. Dann sehe ich alles, was gegen die Disziplin
in der Klasse wirkt, gegen mich und mein Unterrichtsziel gerichtet. Das ist
anstrengend.
Ist das Unterrichten einer derartigen Klasse alleine nicht fast
unmöglich?
Doch. Aber genau diese Vielfalt ist heute für viele Lehrerinnen und
Lehrer Realität. Heilpädagogen sind nur wenige Stunden pro Woche in einer
Klasse, die restlichen Stunden ist man mit den Kindern alleine, sollte
differenzieren, jedem sinnvolle Aufgaben geben und gleichzeitig etwas für die
Gemeinschaftsbildung machen. Immer dann, wenn eine Assistenz da ist, gelingt
das, aber in all den anderen Stunden eben weniger. Trotzdem gibt es für das
Gelingen der Integration nicht mehr Geld. Ideal wäre ein Team-Teaching von drei
Lehrkräften auf zwei Klassen.
Kann man wenigstens mit gutem Zusprechen im Lehrerzimmer rechnen?
Nicht unbedingt. Es ist gut möglich, dass ich als Lehrerin, die bereits
am Limit ist, dort von einem Kollegen zu hören bekomme, wie gut er es mit
derselben Klasse habe. Das kann dann schnell das Gefühl auslösen, selber schuld
zu sein am nicht gelingenden Classroom-Management. Und dann ist es kein weiter
Weg mehr in den Kreisel des Burn-outs.
«Das Magazin» des «Tages-Anzeigers» erzählte kürzlich die Geschichte
einer Lehrerin, die den Beruf nach 20 Jahren erschöpft an den Nagel hängte.
Drei Jungs störten den Unterricht, eine Mutter machte Druck – aber letztlich
war das Verhalten des Schulleiters ausschlaggebend. Er liess die Lehrerin
offenbar alleine. Die Schulleitung scheint heute eine zentrale Rolle zu spielen
für die Arbeitsqualität der Lehrer.
Ja, unbedingt. Aber das ist relativ neu. Bis um die Jahrtausendwende
herum gab es keine Schulleitungen, man war als Lehrer sein eigener Herr und
Meister. Es gab zwar Schulhausvorsteher, aber deren Aufgaben waren vor allem
administrativer Natur, nicht pädagogischer. Und einmal im Jahr kam ein
Inspektor, der hauptsächlich auf Äusserlichkeiten achtete: Stehen alle Schuhe
in einer Reihe? Sind alle Bücher gut eingebunden? Ist die Wandtafelschrift
schön? Gibt es genügend Aufsätze? Macht der Lehrer Diktate? Wird Schriftdeutsch
gesprochen? Er machte sich Notizen und gab einen Bericht ab, auf Anfrage
schriftlich. Dann war er wieder für ein Jahr weg. Was er immer sehen wollte,
war das Unterrichtsheft – ob es nachgeführt ist. Aber über die Art und Weise
des Unterrichts wurde wenig gesprochen, denn es galt die Lehr- und
Methodenfreiheit der Lehrpersonen.
Wie steht es um diese heute?
Es gibt sie noch. Aber die Administration ist näher am Unterricht und
hat mehr Macht.
Wie das?
Die Lehrpersonen einer Schule müssen ein gemeinsames pädagogisches
Profil entwickeln; das ist erwünscht, und ich finde das auch positiv. Es hat aber
selbstverständlich die Kehrseite, dass die einzelne Lehrperson etwas von ihrer
Autonomie verliert. Hat sie einen guten Stand im Team, kann sie ihre
Vorstellung von Unterricht behaupten. Als Junglehrerin, oder wenn man das «Heu
nicht auf der gleichen Bühne hat» wie die Schulleitung, kann der Alltag mühsam
werden.
In anderen Ländern können die Lehrer nur davon träumen, inhaltliche
Freiheiten zu haben oder nur schon wählen zu können, wo sie unterrichten.
Ja, das ist ein Privileg. In Deutschland zum Beispiel wird man
administrativ an eine Stelle gebunden oder versetzt. Und in Frankreich gibt es
standardisierte Jahresprüfungen, die die Lehrfreiheit sehr stark einschränken.
Wer wird eigentlich Lehrer, Lehrerin?
Das kann ich nicht allgemein beantworten. Aufgrund der
Motivationsschreiben der Studierenden fiel mir auf: Viele waren in der Pfadi
oder leiteten eine Jugendriege. Oder sie hatten eine Lehrerin, die zum Vorbild
wurde.
Was hat es mit dem Klischee auf sich, Lehrer seien mehrheitlich
linksgrün?
Ich möchte nicht behaupten, ein rechtskonservativ denkender Mensch denke
weniger differenziert, aber man muss schon interessiert und offen sein und es
genauer wissen wollen mit der Komplexität der Welt, ihren Problemen auch, und
sich für die Vielfalt an Menschen interessieren. In der Schule löse ich zwar
nicht die Flüchtlingsprobleme, aber ich habe sie, die Flüchtlingskinder, und
muss eine positive Haltung ihnen gegenüber entwickeln. Ich habe
unvoreingenommen zu sein, um mit jedem Kind eine Beziehung aufbauen zu können –
ob es aus dem Kanton Glarus kommt oder aus Ghana. Und wenn ich einer bin, der
es schafft, die Kinder für die Vielfalt in ihrem Lebensraum zu begeistern, ist
es auch nicht verwunderlich, wenn ich mich durch das angeeignete Wissen um
Lebensräume und die Stadtentwicklung oder um die heutige Landwirtschaft und
ihre Nachhaltigkeit oder ums Klima sorge.
Wer wird also sicher nicht Lehrer?
Jemand, der ganz andere Berufsinteressen hat oder der in erster Linie an
Geld und Karriere denkt. Man verdient zwar anständig als Lehrperson, aber nicht
übermässig.
Dafür haben Lehrerinnen und Lehrer mehr Ferien als alle andern.
Das wird immer wieder behauptet. Lehrer machen in einer Unterrichtswoche
Überstunden und während der unterrichtsfreien Wochen, in denen die Kinder
Ferien haben, kompensieren sie oder machen Weiterbildung und bereiten den
Unterricht vor.
Sie unterrichteten in den vergangenen Jahren auch quer einsteigende
Lehrerinnen und Lehrer, viele von ihnen über 40-Jährige. Was sind das für
Leute?
Viele kommen aus kreativen Berufen: Schauspieler, Fotografinnen,
Journalistinnen, Architekten, Gärtnerinnen, aber auch ein Pfarrer oder eine
Frauenärztin waren schon dabei.
Warum kommen so viele aus kreativen Berufen?
Auch der Lehrberuf hat viel mit Kreativität zu tun. Ich kann mit den
Kindern Themen
individuell aufbereiten, indem wir sie verschriftlichen, Plakate für eine
Ausstellung anfertigen, Filme drehen, Theater aufführen, musizieren. Von daher
ist das Unterrichten wie eine offene Tür. Der Lehrerberuf ist sehr vielseitig,
wie die Menschen, die zur Schule gehen.
Früher waren die Lehrer mehrheitlich männlich, jetzt unterrichten vor
allem in der Primarschule hauptsächlich Frauen. Womit hat das zu tun?
Je mehr der Lehrberuf Erziehungsberuf wurde, desto mehr galt er in der
Gesellschaft offenbar als femininer Beruf. In den letzten Jahren ist vieles
dazugekommen, das die Schulen an Sozialisation leisten müssen. Ein
gesellschaftlicher Wandel, den ich weder positiv noch negativ bewerten möchte.
Das sind neue schulische Aufgaben, die Frauen offenbar mehr ansprechen als
Männer.
Warum wertet man den Frauenüberhang bei den Lehrpersonen als Problem?
Studien belegen, dass es für Buben in der Schule schwieriger geworden
ist, wenn sie nur von Frauen unterrichtet werden. Buben stören öfters und sind
schulisch weniger erfolgreich als Mädchen. In der Weiterbildung spricht man
deshalb von notwendiger «Bubenarbeit».
Viele Eltern fürchten, ihr Kind könnte in der Schule Pech haben, indem
es an eine «schlechte» Lehrperson gerät. Es gibt ja tatsächlich bessere und
weniger gute Pädagogen.
Oh ja, selbstverständlich, es gibt die ganze Palette, wie in jedem
Beruf.
Was, wenn es zwischen einem Kind und der Lehrperson nicht «geigt», wenn
ein Kind nicht in seinen Fähigkeiten erkannt und gefördert wird, sondern ihm im
Gegenteil sogar die angeborene Lust am Lernen vergeht?
Ich weiss als dreifacher Vater und achtfacher Grossvater, dass das ein
beunruhigendes Szenario ist. Aber es ist tatsächlich schwierig zu erkennen, ob
jemand für mein Kind eine gute Lehrperson ist oder nicht.
Sogar Sie als Insider sagen das?
Klar kann ich eine Lehrperson anders einschätzen als Eltern, die in
ihrem Erwachsenenleben erstmals mit einer Lehrerin zu tun haben. Man stutzt
vielleicht, wenn in einem Lehrgangfach wie Französisch bestimmte Seiten nicht
bearbeitet werden – das kann ein Hinweis dafür sein, dass die Lehrerin oder der
Lehrer weit hinter dem Stoff liegt, der durchgenommen werden sollte. Aber die
Lehrfreiheit erlaubt es auch, mit eigenen Materialien zu arbeiten, insofern
kann man mit seinen Befürchtungen komplett falsch liegen, weil mit gezielteren
Mitteln dieselben Lernziele besser erreicht werden.
Und was ist, wenn eine Lehrperson den Kontakt zum Kind nicht findet?
Das lässt sich leicht feststellen, wenn man den Unterricht besucht und
die Lehrperson darauf anspricht. Aber klar, es gibt überall Leute, die es
schaffen, alle zu täuschen. Zum Glück passiert das nur sehr selten.
Sollen Lehrer alle Kinder gleich behandeln? Und ist das überhaupt
möglich?
Nein, gleich behandeln geht nicht. Aber alle gleich anders, das geht.
Ich muss für jeden Einzelnen und seine Besonderheiten ein Verständnis erlangen.
Einem hyperaktiven Kind wird fast selbstverständlich erlaubt, zwischendurch
umherzugehen, ein introvertiertes hingegen will sanft aus seinen scheinbaren
Tagträumen geweckt werden. Man findet heraus, wo ein Kind ein spezielles
Bedürfnis hat, wo seine Stärken, seine Schwächen sind. Man spricht von
Binnendifferenzierung. Dieser Anspruch ist heute da, und es gibt dafür
Strategien, wie zum Beispiel an einem Auftrag kürzer oder länger dran sein zu
dürfen.
Was raten Sie Eltern im Umgang mit Lehrpersonen?
Nachfragen und das Gespräch suchen, wenn einen etwas irritiert.
Und was raten Sie Lehrpersonen im Umgang mit Eltern?
Keine Kommunikation über E-Mail! Das ist immer heikel, unnötig,
zeitraubend, und man muss sich auch noch für jeden grammatikalischen Fehler
rechtfertigen, der im schnellen Antworten übersehen wurde. Das kostet unnötig
Nerven. Besser bereits beim ersten Elternabend wünschen: Sie können mir gerne
eine E-Mail schreiben, um einen Termin zu vereinbaren, aber nicht mehr.
Inhaltliches besprechen wir persönlich und dafür nehmen wir uns Zeit.
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