Irgendetwas hat gefehlt.
Unvermittelt stehen Jugendliche auf dem Pausenplatz, schwatzen und albern
herum. Nach 20 Minuten sind sie ebenso plötzlich wieder weg. «Einen Gong gibt
es hier nicht», erklärt Schulleiter Gregory Turkawka. Ein Detail, scheinbar belanglos
– und doch richtungsweisend. Im Sekundarschulhaus Seehalde im zürcherischen
Niederhasli regeln die Schülerinnen und Schüler vieles in eigener
Verantwortung.
Schulleiter Turkawka: "Das ist kein Experiment! Wir bilden exakt den Lehrplan ab." Bild: Hanna Jaray
Sind Noten überflüssig? Beobachter, 5.8. von Birthe Homann und Daniel Benz
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Sogar das Heiligtum der
Schulen, das Mass aller Dinge, arrangieren hier die Lernenden teils in Eigenregie:
die Noten.
Nach den Ferien, zu Semesterbeginn,
legen die Schülerinnen und Schüler in den Kernfächern Mathematik, Deutsch,
Englisch und Französisch ihre persönlichen Notenziele fest. Dann versuchen sie
diese
in ihrem eigenen Tempo zu erreichen, mit so viel Unterstützung
durch die Lehrpersonen, wie sie dafür benötigen. Auf «Kann-Listen» haken sie
den Stoff ab, den sie beherrschen. Das sorgfältige Führen dieser Listen bringt
Punkte. Weitere Punkte können sich die Lernenden durch Reflexion, Planung
und Fachberatung erarbeiten. Die Punkte machen zusammen bis zu 30 Prozent der
Zeugnisnote aus. Die restlichen 70 Prozent bilden Leistungsnachweise durch
Fachtests oder mündliche Prüfungen.
Eine
Frage der Transparenz
Das Prinzip, die
Schülerinnen und Schüler zu Managern ihrer eigenen Zensuren zu machen, findet
bei immer mehr Fachleuten Zustimmung. «Die abstrakte Ziffer bekommt Inhalt,
wenn die Schüler miterleben, wie es dazu gekommen ist», sagt Martin Schäfer,
Rektor der Pädagogischen Hochschule Bern. «So ist es die Note des Jugendlichen
und nicht die des Lehrers.»
Diese transparente Art
der Notengebung ist nur ein Aspekt einer Organisationsform, die die
Sekundarschule Niederhasli für ihre 240 Lernenden im Schuljahr 2013/14
eingeführt hat. Das Modell stellt das selbstorganisierte Lernen – Fachkürzel:
SOL – ins Zentrum. Dafür wurden die alten Klassenstrukturen aufgelöst und
altersdurchmischte Stammgruppen der Niveaus A oder B geschaffen. Zugleich hat
man die Lerninhalte digital aufbereitet, alle Schüler arbeiten mit Tablets.
Schulleiter Turkawka,
ein 45-jähriger Quereinsteiger, früher im Medienbereich tätig und Mitgründer
des Kurierdienstes Veloblitz, kennt die Reflexe, die Formeln wie
«Selbstorganisation» und «Altersdurchmischung» auslösen. Deshalb stellt er
klar, noch ehe er gefragt wird: «Das ist kein Experiment! Wir bilden exakt das
ab, was bezüglich Lehrplan und Beurteilung im Gesetz steht.»
Bezüglich des bisherigen
Lehrplans, wohlgemerkt. Denn das neue Regelwerk, der umstrittene Lehrplan 21,
soll in den meisten Kantonen erst noch eingeführt werden. Für kontroverse
Debatten sorgt er wegen seiner Grundausrichtung auf Kompetenzen. Es ist nicht
mehr in erster Linie massgeblich, was die Kinder wissen, sondern was sie können
sollen. Und weil solche übergreifenden Fähigkeiten nicht ausschliesslich wie
Wissen abgefragt und beurteilt werden können, entfacht der Lehrplan 21 die alte
Diskussion um die Rolle von Noten neu.
Ziffern,
Sätze oder was?
Soll man schulische
Leistung künftig anders messen als mit den – nur vermeintlich – präzisen
Ziffern 1 bis 6? Etwa mit ausformulierten Bewertungen? Einem sauberen Schnitt
zwischen «bestanden» und «nicht bestanden»? Oder stellt sich gar die
Schwarz-Weiss-Frage: Gibt es eine Schule ganz ohne Noten?
«Eine Beurteilung mit
Noten ist auch mit dem Lehrplan 21 möglich», steht dazu vorsichtig in den Informationen
zum neuen Regelwerk. Bloss noch als Option? Christoph Mylaeus, Geschäftsleiter
der federführenden Deutschschweizer Erziehungsdirektoren-Konferenz, präzisiert:
Der neue Lehrplan definiere die Form der Leistungsbeurteilung nicht. Daher:
«Die Lehrpersonen werden weiterhin die Lernziele setzen und deren Erreichen
überprüfen. Die Kantone planen nicht, die Notenzeugnisse abzuschaffen.»
Das sei zurzeit auch
unrealistisch, sagt Tina Hascher vom Institut für Erziehungswissenschaft der
Universität Bern. «Eigentlich müsste man gemäss Lehrplan 21 keine Noten geben,
aber so weit sind wir noch nicht». Die Prognose: Die Zensuren bleiben der
Volksschule einstweilen erhalten – aber die Art, wie sie entstehen, wird sich
verändern.
Was
braucht es für schulischen Erfolg?
Das führt zurück nach
Niederhasli, in Gregory Turkawkas Büro, wo man sich in einem behaglichen
Studio wähnt: orangefarbenes Sofa, niedriger Couchtisch. Aus der Anlage plätschert
Popmusik, aber Turkawka übertönt sie locker, als er mit Verve von den
Ursprüngen des Modells in der «Seehalde» erzählt. «Unsere Leitfrage war: Was
brauchen die Schüler, um erfolgreich zu sein im Leben?» Nur für den jeweils
erforderlichen Notenschnitt zu büffeln, um sich von Stufe zu Stufe
weiterzuhangeln, schien dafür nicht ausreichend.
Damals, 2011, war die
Kompetenzorientierung des Lehrplans 21 bereits absehbar. Ebenso die in
staksigem Amtsdeutsch formulierte Absicht, «das Lernen verstärkt als
selbstgesteuerten Prozess zu verstehen». Ausgerichtet auf diese Punkte, entstand
eine Struktur, die die Schüler in ihrem dreijährigen Zyklus an der Oberstufe
«zu Experten ihres Lernens» machen soll, so der Schulleiter. Ein Element ist
die hohe Gewichtung der überfachlichen Kompetenzen wie Teamfähigkeit oder
Termintreue – die Soft Skills auf der zweiten, unbenoteten Seite des
Zeugnisses, die gerade künftige Lehrmeister stark beachten.
«Hier
kann niemand schlüüfe»
Die Selbstorganisation
ist im Schulhaus Seehalde sichtbar. Anderswo ist es zu Unterrichtszeiten in den
Gängen totenstill, doch hier sind die Lernenden unterwegs – um sich Wissen für
die angestrebte Zeugnisnote zu beschaffen. Ziel sind vor allem die Lernateliers
«Magrathea», «Flow» und «Viva», eine Art Grossraumbüros für die individuelle
Vertiefung der Lerninhalte. Für die Fachberatung stehen neben den Lehrpersonen
auch begabte Kollegen zur Verfügung: Schüler können andere Schüler, die im
Stoff schon weiter sind und sich im Lernstadium «Fortgeschritten» oder
«Experte» befinden, gezielt um Rat fragen.
Von aussen betrachtet,
läuft das scheinbar zufällig ab. Das Gegenmittel ist eine ganze Palette von
Orientierungs- und Übungsinstrumenten. Sie stellen für jedes Semester sicher,
dass in allen Fächern die erforderlichen Stoffgebiete gemäss Lehrplan
behandelt werden. Die Schüler müssen die entsprechenden Dokumente minutiös
führen: «Niemand kann schlüüfe», sagt Gregory Turkawka. Das System sei
anspruchsvoll, findet der reformfreudige Schulleiter.
In der Schullandschaft
stösst das Modell aus dem Zürcher Unterland auf reges Interesse. Soeben hat es
den Lissa-Preis 2016 erhalten, den die Stiftung für hochbegabte Kinder
verleiht. Gelobt wurde das Projekt für sein «an den individuellen
Begabungspotenzialen aller Lernenden orientiertes Lernkonzept». Auch in
anderen Schulen – Wädenswil, Basel, Neftenbach – setzt man auf
selbstorganisiertes Lernen, im luzernischen Entlebuch sogar auf der
Primarstufe.
In Niederhasli bricht
man aber wohl am radikalsten mit der Tradition. Und doch: Selbst hier
verbringen die Schüler nur acht bis zehn Stunden pro Woche in freien
Lernphasen. Der Rest der 32 bis 36 Lektionen ist gewöhnlicher Fachunterricht –
auch in der klassischsten aller Formen: die Lehrperson frontal vor der Klasse. Die
«Revolution von Niederhasli», wie es in Medienberichten schon hiess, ist
womöglich nur ein Revolutiönli.
Der
Lehrer machts aus
Das hilft vielleicht,
die Methodendiskussion etwas gelassener zu führen. Dafür sprechen etwa die
Erkenntnisse des Bildungsforschers John Hattie. Nach Auswertung von über 50000
Einzelstudien kommt der Neuseeländer zum Schluss: Das weitaus Wichtigste für
den Lernerfolg der Schüler sind die Fähigkeiten der Lehrer. Das mag banal
klingen, birgt aber bildungspolitisch Sprengkraft. Vor allem wenn man auf die
Faktoren mit vergleichsweise wenig Effekt schaut. Die Unterschiede zwischen
traditionellem Frontalunterricht und offenen Formen sind gemäss Hattie minim.
Der Schlüssel ist nicht die Form, sondern die Qualität des Unterrichts.
In seiner Untersuchung
«Visible Learning» listet Hattie 138 Wirksamkeitsfaktoren für eine gute Lernentwicklung
auf. Weit oben auf der Skala steht das Feedback durch die Lehrperson, Noten
hingegen spielen keine Rolle. «Leider verwechseln viele Lehrer Feedback mit
Noten», so der Bildungsforscher in einem Interview. «Gutes Feedback meldet dem
Schüler hingegen zurück, wo er bei einer Aufgabe richtige, wo falsche Wege
gegangen ist und wie er noch anspruchsvollere Ziele erreichen kann.»
Solche sachlichen Beurteilungen
von Schulleistungen können reine Ziffernnoten nicht erbringen. Das ist unter
Experten unbestritten. Dafür sind sie zu undifferenziert, von zu vielen
Störfaktoren beeinflusst. «Objektive Noten gibt es nicht», fasst ein Zürcher
Mittelstufenlehrer nach langjähriger Praxis im Klassenzimmer seine Probleme mit
Schulnoten zusammen. Die Aussagekraft einer nackten 4,5 ist gering. Das zeigt
sich etwa daran, dass derselbe durchschnittlich begabte Schüler in einem
schwächeren Umfeld bessere Zensuren bekommt als in einem stärkeren. Weil eben
nicht die Fortschritte des einzelnen Kindes bewertet werden, sondern stets der
Vergleich mit den anderen aus der Klasse gezogen wird. Man misst Felix an Emma
und Emma an Julian, statt zu schauen: Was kann Felix im Sommer 2016, was er im
Herbst davor noch nicht konnte?
Angesichts solcher
Schwächen erstaunt es Martin Schäfer von der Pädagogischen Hochschule Bern,
wie unantastbar die Noten im Schweizer Schulsystem sind. «Dabei sind sie eigentlich
nur noch ein Kommunikationsmittel», sagt er. «Für die Selektion haben sie
ihren Wert, fürs Lernen nicht.» Schäfer, als Rektor für die Ausbildung der
Berner Lehrpersonen verantwortlich, erhofft sich durch
die Philosophie des
Lehrplans 21 eine Gewichtsverlagerung. Die Begleitung des Lernprozesses werde
an Bedeutung gewinnen, vermutet er – der Weg zur Note wird wichtiger werden
als die Note selber.
Schäfer hat das früher
als Lehrer an einer öffentlichen Schule in Köniz BE selbst erlebt. Dort
verzichtete man zehn Jahre lang gänzlich auf Zensuren – das gibt es heute nur
noch in privaten Instituten wie den Steiner-Schulen. Als Kriterium genügte
die Unterscheidung «erfüllt» und «nicht erfüllt». Eine gute Erfahrung: «So sind
wir weggekommen von der Fixierung auf die Noten und haben stattdessen mehr über
die Kinder geredet: Was können sie, was nicht?»
Schweden
benotet besonders spät
Am ehesten dürfte sich
die Notengläubigkeit in den unteren Primarklassen aufweichen. In
gutföderalistischer Manier unterscheiden sich die Beurteilungssysteme in der
Schweiz von Kanton zu Kanton. Basel-Stadt geht heute am weitesten: Noten gibt
es dort erst ab der fünften Primarklasse. «Genügt vollkommen», findet Dieter
Baur, Leiter Volksschulen des Kantons. Das sei kein Plädoyer gegen Zeugnisse
und den Leistungsgedanken an der Schule, doch die Kinder sollten sich zuerst
«im geschützten Rahmen» daran gewöhnen können. Andernorts ist der Trend zu
späten Zensuren noch ausgeprägter. In Schweden etwa wird erst ab der achten
Klasse benotet.
Wie weit sich die
Schweiz in diese Richtung bewegt, muss sich erst weisen. So oder so wird man
das Richtig oder Falsch jeglicher Massnahmen kontrovers debattieren – die
Schule ist ein Zankapfel erster Güte. Das erlebt auch Gregory Turkawka. Das
Konzept des selbstorganisierten Lernens, das sein Team an der Sek Niederhasli etabliert
hat, hat bis heute Gegner. Die Kinder seien mit dem Schulstoff im Rückstand,
die Arbeitsunterlagen ungenügend, die Begleitung durch die Lehrpersonen sei
mangelhaft, so die häufigsten Vorwürfe.
«Seehalde»
hat den Test bestanden
Das pionierhafte Modell
ist sein «Baby», das wird klar, wenn man Turkawka auf die Kritik anspricht.
Er kontert Punkt für Punkt dezidiert, hat auch schon eine Richtigstellung im Internet
publiziert. Und lässt nicht unerwähnt, dass von den 53 Personen, die Ende 2015
– erfolglos – eine Aufsichtsbeschwerde beim Volksschulamt eingereicht haben,
gerade mal neun eigene Kinder im Schulhaus hatten und das Konzept somit aus
eigener Anschauung kannten.
Turkawkas stärkstes
Argument ist statistisch erfasst: die Resultate der Stellwerktests. Damit wird
für die Berufswahl in der ganzen Deutschschweiz das Wissen aller Zweite-Sek-Schüler
in Mathematik, Französisch, Deutsch, Englisch und Naturwissenschaften
erhoben. Resultat: 2016 verbesserten sich die Lernenden aus Niederhasli
gegenüber 2015 in allen Bereichen. Gemessen an den Bewertungen von 2011, bevor
die Selbstorganisation Einzug hielt, ist das Leistungsniveau auf der Stufe
Sek A in etwa stabil geblieben. Die schwächeren B-Schüler, von den Kritikern
als Verlierer des Konzepts des selbstbestimmten Lernens gesehen, haben sich
demgegenüber in allen Fächern teils deutlich verbessert. «Ich würde meinen:
Note ‹gut›», sagt der Schulleiter.
"Die Unterschiede zwischen traditionellem Frontalunterricht und offenen Formen sind gemäss Hattie minim" - Eine sehr eigenwillige Interpretation der Ergebnisse von Hattie.
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