«Toi, tu es
le garde-barrière, et moi, je suis le mécanicien.» So versuchte ein Französisch-Lehrmittel vor Jahrzehnten, Schüler
zum Sprechen zu animieren. Bahnwärter gab es schon damals längst nicht mehr.
Und worüber sich die beiden zum Rollenspiel gezwungenen blutigen Anfänger
hätten austauschen können, bleibt bis heute ein Rätsel. Familienintern dient
der Satz seither als Marker für allerlei absurde Alltagssituationen. Gewiss,
der Sprachunterricht hat sich in den letzten zehn, zwanzig Jahren enorm
weiterentwickelt. Ein schwieriges Geschäft ist er trotzdem geblieben. So hat
sich im letzten Herbst eine Gruppe von Eltern aus dem bernischen Wilderswil
medienwirksam darüber beklagt, dass ihr Nachwuchs in der siebten Klasse nach
351 Lektionen Französisch kaum einen geraden Satz über die Lippen bringe.
Schuld daran seien die Verlegung des Französischunterrichts von der fünften in
die dritte Klasse und das neue Lehrmittel, das nicht Grammatik und
Rechtschreibung in den Vordergrund stelle, sondern spielerisch in die Sprache
einführe.
Wie viel Sprache darf es sein, NZZ, 11.6. von Walter Bernet
Das Beispiel steht für viele ähnliche, die mit jeder Neuerung im
Fremdsprachenunterricht verbunden waren und sind. Sie alle erinnern an die
Äusserungen des Ärgers über die «heutige Jugend», die sich seit 2500 Jahren der
immergleichen Worte bedienen. Der Mechanismus ist einfach: Man nimmt ein durch
die Erinnerung verklärtes Idealbild zum Massstab und misst daran die Gegenwart,
die sich an ganz anderen Kriterien orientiert. Ein paar korrekte französische
oder englische Sätze nützen wenig, wenn ihr Preis ein verbreiteter Verzicht auf
das Sprechen aus Angst vor Fehlern ist. Oder man stellt Ansprüche, die in der
Realität nicht zu erfüllen sind. Wirklich beherrschen lernt man eine Fremdsprache
auch heute noch, wenn man sich länger im Sprachgebiet aufhält.
Wir stehen vor einer Reihe von Volksabstimmungen über den
Fremdsprachenunterricht in der Volksschule: In mehreren Kantonen wird die
Verlegung des Unterrichts in einer zweiten Fremdsprache auf die Oberstufe
gefordert. Diese Forderung ist bereits vor einem Jahrzehnt in verschiedenen
Kantonen zurückgewiesen worden. Jetzt hat sie im Windschatten der Kritik am
Lehrplan 21 wieder an Kraft gewonnen – allerdings hat sie letztes Jahr im
Kanton Nidwalden auch schon einen Dämpfer erlebt. Die Initiativen sind deshalb
knifflig, weil sie am Sprachenkompromiss der Erziehungsdirektoren von 2004
rütteln, der auch der Harmonisierung der Volksschulen in der zweiten Hälfte des
letzten Jahrzehnts widerstanden hat. Damals war der Zürcher Erziehungsdirektor
Ernst Buschor mit der Einführung von Frühenglisch vorgeprescht und hatte
namentlich in der Romandie einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Vom
Sprachenstreit war fortan die Rede. Im mühsam errungenen Kompromiss einigte man
sich darauf, Englisch als Erstsprache in der Ostschweiz zu akzeptieren, machte
aber das Unterrichten einer zweiten Landessprache in der Primarstufe zur
Bedingung.
Die gültige Regelung ist also zwar im Hintergrund pädagogisch
motiviert, aber bildungs- und staatspolitisch geprägt. In der Ostschweiz laufen
die Abstimmungen darum in erster Linie auf einen Entscheid für oder gegen
Französisch in der Primarstufe hinaus. Dies zeigt das Beispiel des Thurgaus,
der bereits beschlossen hat, mit dem Französischunterricht erst in der
Sekundarstufe zu beginnen. Er handelte sich die ernstzunehmende Drohung des
Bundesrats ein, das Unterrichten der zweiten Landessprache in der Primarstufe
über eine Änderung des nationalen Sprachengesetzes durchzusetzen. Der Thurgau
müsste dann das beliebte, mindestens anfänglich leichter zu erlernende und im
Alltag der Kinder präsente Englisch in die Sekundarschule verschieben, will er
am Prinzip festhalten, in der Primarstufe nur eine Fremdsprache anzubieten.
Wäre das so schlimm? Im Kanton Zürich hat sich der Lehrerinnen-
und Lehrerverband (ZLV) zum Aushängeschild der Volksinitiative gegen die zweite
Fremdsprache in der Primarstufe entwickelt. Er findet: nein. Und er
argumentiert damit, dass er an einer sowohl pädagogisch wie auch politisch
tragfähigen Lösung interessiert sei. Die Frage lautet: Ist sein Rezept besser
als die bestehende Lösung mit zwei Fremdsprachen in der Primarstufe? Politisch
ist das offensichtlich nicht der Fall; der Kompromiss ist nach wie vor akzeptiert.
Über die pädagogischen Argumente streiten sich die Experten. Fakt ist, dass es
keine Evidenzen gibt, die eindeutig für das eine oder das andere Modell
sprechen. So entpuppen sich die seit Jahren wenig veränderten pädagogischen
Positionen sowohl der Befürworter wie der Gegner der frühen Mehrsprachigkeit
als stark von den grundsätzlichen Einstellungen gegenüber Veränderungen in der
Schule (und der Gesellschaft) geprägt.
Das Leiden im frühen Französischunterricht
Wie viel Deutsch braucht es, bevor man sinnvollerweise mit
Fremdsprachen beginnt? Beeinflusst das Erlernen von Fremdsprachen nicht
umgekehrt die Kompetenz in Deutsch positiv? So und ähnlich lauten die Fragen.
Zu sprachlastig sei die Primarstufe, kritisieren die Initianten. So komme das
Interesse der Schüler an Naturwissenschaft, Geschichte und Technik zu kurz.
Generell überfordere und entmutige der Fremdsprachenunterricht die Schüler.
Fragt sich nur, ob die Motivation in der Sekundarstufe grösser wäre und ob dort
andere wichtige Inhalte nicht ebenso Gefahr liefen, verdrängt zu werden.
Letztlich geht es in diesen Diskussionen um die Frage, welcher Fächer- und
Themenmix in welcher Phase der Volksschulbildung am sinnvollsten ist. Die
Antwort muss primär aus der Schule kommen. Dort kollidieren die
gesellschaftlichen Erwartungen mit den pädagogischen Alltagserfahrungen. Im
Kanton Zürich wird das laufende Vernehmlassungsverfahren zum Lehrplan 21 ein
Ergebnis liefern.
Trotzdem kann die Lösung der Fremdsprachenfrage nicht einfach an
die Schule delegiert werden. Wir leben in einem Land, in dem nicht vier,
sondern hundert Sprachen gesprochen werden. Wir bewegen uns im Pendlerzug, auf
dem Sportplatz, im Büro und auf dem Pausenplatz in einer polyglotten
Gesellschaft. Von der Schule muss erwartet werden, dass sie nicht nur dafür
sorgt, dass Deutschschweizer und Romands sich untereinander in einer
Landessprache austauschen und mit dem Rest der Welt auf Englisch verständigen
können. Sie muss Lust auf mehr erzeugen, dazu anregen, sich auch auf andere
Sprachen und die dahintersteckenden Kulturen einzulassen, auch ohne Anspruch
auf Perfektion. Sie muss, würden die Wissenschafter sagen, den Boden für die
funktionale Mehrsprachigkeit unserer Gesellschaft bereiten.
Wie aber will sie dieses Ziel erreichen, wenn es ihr in einem
Vierteljahrhundert mit Frühfranzösisch nicht gelungen ist, bei Lehrern und
Schülern verbreitet Begeisterung oder wenigstens Freude am Kennenlernen des
Nachbarn und seiner Sprache zu wecken? Mit der Verlegung des Unterrichts auf
die Sekundarstufe kommt man diesem Ziel nicht näher. Und die Feststellung, man
gelange nur mit wenigstens sechs Wochenstunden auf einen grünen Zweig, hilft
nicht weiter. Ihr kann auf keiner Volksschulstufe entsprochen werden. Verbessern
lässt sich die Motivation von Lehrkräften und Schülern auf zwei Weisen. Erstens
muss der Unterricht stärker auf das Erleben statt das Erlernen einer Sprache
setzen. Dazu gehören das Sprechen, das Hören und das Schreiben in realen
Situationen statt in abstrakten Rollenspielen, aber auch wechselseitige Besuche
und Sprachaustausch. Französisch darf sich nicht wie ein Berg von unbewältigtem
Lernstoff anfühlen. Deshalb sind zweitens die Erwartungen realistischer
einzuschätzen. Von Primarschülern grammatikalische Kompetenzen einzufordern,
die ihnen nicht zugänglich sind, ist kontraproduktiv. Für viele Schüler endet
der Fremdsprachenunterricht nach der Volksschule. Wenn diese bis dann ein
persönliches Maximum an sprachlichen Fähigkeiten erworben und dabei die Lust
nicht verloren haben, hat die Schule alles richtig gemacht.
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