Mainstreams folgen meist einem
ähnlichen Muster. Die Geschichte geht etwa so: Es wird ein Unbehagen an den
bestehenden Verhältnissen diagnostiziert und formuliert, die Notwendigkeit
einer Veränderung ausgerufen, deren Richtung vorgegeben, die Entwicklung -
zusehends Eigendynamik entfaltend – verstetigt, mit dem Merkmal des
Paradigmenwechsels versehen, als gegeben und nicht befragbar hingenommen,
schließlich als notwendig und damit alternativlos erachtet. So geschehen im
Kontext der Kompetenzbasierung und Output-Steuerung von Schule und Unterricht.
Kompetenzbasierung und Digitalisierung als rückwärtsgewandte Ideologien, Burkard Chwalek, Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V., 18.4.
Erste Reaktionen auf diese Umsteuerung
anlässlich zahlreicher Fortbildungsveranstaltungen und Diskussionen gaben
zunächst von der Sache her wenig Anlass zur Annahme einer Zwangsläufigkeit.
Viele Kolleginnen und Kollegen werden gewichtige Einwände von damals in
Erinnerung haben1 : Die überhastet vorgenommene Umschreibung von Lernzielen in
Kompetenzen, die sich - ansonsten formulierungsgleich - häufig nur durch die
Ersetzung des Modalverbs „sollen“ von den traditionellen Katalogen abhoben,
seien doch nichts Neues, schon gar nichts radikal Neues. Auch die propagierte
Output-Steuerung, mit der Unterricht jetzt angeblich erstmals vom Ende her
durchdacht werde, markiere keine kategoriale Wende in der Blickrichtung auf
schulisches Handeln, gerade so, als hätten Lehrkräfte bislang Stunden, Reihen,
Leistungserhebungen und dgl. nicht von den zu erreichenden Zielen her gedacht,
als habe man sich dessen niemals zuvor in ausformulierten Erwartungshorizonten,
die die in den Blick genommenen Prozesse, Lernstrategien und Ergebnisse
dokumentierten, vergewissert. Linguistisch geschulte Lehrkräfte machten zudem
auf die Problematik der Messbarkeit von Kompetenzen aufmerksam, die lediglich
durch Rückschlüsse aus Performanzen annäherungsweise und unscharf erfassbar
seien2 . Das Wort vom Etikettenschwindel machte die Runde. Selbst die
unabweisbaren Hinweise auf die logische Unhaltbarkeit eines Versuches, Aussagen
über prognostizierte Lernleistungen in der Zukunft als Istzustände in der
Gegenwart auszuweisen, wurden einfach beiseitegeschoben wie auch Erfahrungen
aus der Wissenschaftsgeschichte mit Beispielen für die Hochstilisierung einer
kleinen Verschiebung innerhalb eines bestehenden Systems zu einem neuen
Paradigma3 im Innovationseifer untergingen. Die behauptete Unumkehrbarkeit war
und ist somit nicht in der Sache begründet, sie wurde verordnet und administrativ
erzwungen.
Inzwischen hat die Kritik am
Kompetenzmodell mit guten Gründen zusehends an Fahrt aufgenommen, Zug um Zug
legt sie dessen basale Schwächen bloß und stellt die vielfältigen und
verstreuten Vorbehalte aus der Praxis auf ein immer breiter abgesichertes
theoretisches Fundament4 .
Zweierlei ist daraus abzuleiten.
Zunächst wären die Verantwortlichen bildungspolitischer Entscheidungen gut
beraten gewesen, die Bedeutung der geäußerten Vorbehalte erfahrener
Praktikerinnen und Praktiker höher zu veranschlagen. Denn erstens ist eine
solchermaßen einschneidende, fundamentale Umgestaltung des Bildungswesens auf
dem Verwaltungsweg der zentralen gesellschaftlichen Aufgabe von Schule als
genuinem Ort von Demokratieerziehung und Pluralismus gegenläufig. Derart
grundsätzliche Entscheidungen verlangen die Bindung an einen breiten
öffentlichen Diskurs aller Beteiligten. Und zweitens treten die Verluste eines
Vorgehens immer sichtbarer zutage, das glaubt auf Erfahrungen pädagogischer
Praxis und dort gesammelter Wissensbestände verzichten, das bildungspolitische
Agieren der erziehungswissenschaftlichen und (fach)didaktischen Reflexion
entziehen und es weitgehend einer Expertokratie überlassen zu können. Es
sollten deshalb zudem die immer deutlicher erkennbaren Fehlentwicklungen Anlass
sein, auf anderen Feldern kategorialen (oder zumindest als kategorial
angesehenen) Umdenkens mit etwas mehr Bedachtsamkeit ans Werk zu gehen. Gemeint
ist ein weiterer Megatrend, die sogenannte „Digitalisierung der Bildung“. Beidem
nämlich, der Kompetenzbasierung wie auch der „Digitalisierung der Bildung“,
inhärieren vom grundsätzlichen Zugriff auf Unterricht und Schule her, man
könnte auch sagen von den ideologischen Grundannahmen her, vergleichbare
unerwünschte und schädliche (Neben)Effekte. Die folgende Kritik beansprucht
demzufolge nicht, in erster Linie neue Einzelaspekte in die Diskussion
einzubringen, sie versucht vielmehr, an drei Problemfeldern die gemeinsame
Basis der Unzulänglichkeiten beider Konzeptionen aufzuspüren und dabei einen
Aspekt zu akzentuieren, der bislang wohl weniger Beachtung gefunden hat. Es
handelt sich um die möglicherweise zunächst etwas überraschende These, dass
sich die vorgebliche Modernität und Innovativität des Reformprozesses aus einem
keineswegs neuen, nach vorne gerichteten, sondern alten und rückwärtsgewandten
Denken mit staunenswertem Beharrungsvermögen speist, das mit guten Gründen z.
T. schon seit der Antike kritisiert wurde. Ruht aber die Theorie auf tönernen
Füßen, ist ihre Überführung in Praxis keineswegs selbstverständlich, Offenheit
einem Umdenken gegenüber wäre das schon.
Funktionalisierung
der Unterrichtsgegenstände und daraus resultierende Beliebigkeit der Inhalte
Das zentrale Wesensmerkmal der
Kompetenzbasierung5 , der Ausrichtung und Konzentration des Unterrichts auf die
Vermittlung von Kompetenzen, sind die Unterordnung des jeweiligen Gegenstandes
unter die Ausbildung und Schulung allgemeiner Fähig- und Fertigkeiten, der
Primat der Funktion und der ihr dienenden Methoden gegenüber dem Inhalt.
Scheinbare Plausibilität gewinnt das Konzept aus der Auffassung, in Anbetracht
galoppierender Vermehrung des Wissens müsse der Versuch seiner Akkumulation
notwendig ins Leere laufen, unabdingbar sei vielmehr, die Lernenden zu
befähigen, sich das zur Bewältigung einer Aufgabe oder eines Problems
notwendige Wissen effizient zu beschaffen und zu organisieren. Auch wenn das
Argument Richtiges enthält, aber wie jede Halbwahrheit eben auch viel Unwahres6
, stößt es in diesem ganz allgemeinen Sinn nicht nur kaum auf Widerspruch, es
wird vielmehr unmittelbar die Nähe zu den Verfechtern einer umfassenden
Digitalisierung der Schulen und unterrichtlichen Handelns ansichtig. Denn ohne
Zweifel sind digitale Speicher-, Verarbeitungs- und Distributionswerkzeuge effiziente
Instrumente zur Beschaffung und Organisation von Wissen. Richtiger muss es
allerdings heißen: zur Beschaffung und Organisation von Informationen, deren
Einordnung in sinnvolle Zusammenhänge indes ein Wissen voraussetzt, das die
Informationen zu generieren von sich selbst her gar nicht in der Lage sind.
Dazu müssen nämlich in vertieften gedanklichen Auseinandersetzungen mit
komplexen inhaltlichen Gegenständen Ordnungsstrukturen und Kriterien erarbeitet
und verfügbar gemacht worden sein, die als vernünftig einsehbarer Bezugsrahmen
fungieren können. An dieser Notwendigkeit scheitert die angesprochene
Plausibilität und ist ihrer Vordergründigkeit überführt. Ein konkretes Beispiel
aus der Unterrichtspraxis, dem Fach Geschichte vermag dies zu verdeutlichen.
Im kompetenzbasierten LP Geschichte
der Sekundarstufe I des Landes RLP ist das Thema Nationalsozialismus im
obligatorischen Basisteil fakultativ oder verpflichtend aufgenommen. Fakultativ
etwa kann die Machtübertragung 1933 behandelt werden, austauschbar indes gegen
z. B. die Oktoberrevolution 1917 oder die Novemberrevolution von 1918. Mit
anderen Worten: Die Behandlung des Themas „Machtübertragung 1933“ intendiert
von vornherein nicht die sachliche Erschließung des historischen Phänomens,
sondern ist funktionalisiert auf die Vermittlung einer von diesem gelösten
Kompetenz, Strukturen, Merkmale und dgl. von Machtübergängen überhaupt zu
erarbeiten. Eine bizarre Konsequenz dieser Unterordnung des historischen
Gegenstandes unter die Kompetenz wird an anderer Stelle erschreckend sichtbar.
Die im LP vorgenommene Funktionalisierung des Themas „Der Holocaust als
Zivilisationsbruch“ nimmt diesen, innerhalb des Kompetenzmodells ganz
folgerichtig umgesetzt, explizit als Mittel zur Erreichung eines allgemeinen Ziels,
nämlich am Beispiel zu verstehen, was Zivilisationsbruch überhaupt bedeutet.
Der Sachverhalt an sich ist schon kaum noch verständlich. Er legt überdies eine
fundamentale Brüchigkeit des Kompetenzmodells bloß, indem er auf
Voraussetzungen verweist, die dieses selbst leugnet. Soll an einem historischen
Phänomen erarbeitet und begriffen werden, was an ihm der Zivilisationsbruch
ist, so ist das ein überaus voraussetzungsreiches Unterfangen. Man muss nämlich
nicht nur theoretisches Wissen haben über die Begriffe bzw. Kategorien
„Zivilisation“ und „historische Brüche“ und diese von verwandten, aber durch
spezifische Differenzen unterschiedene abgrenzen können, sondern auch über
konkrete historische Konstellationen, die möglicherweise unter diese Begriffe
bzw. Kategorien fallen oder eben auch nicht. All das wird indes nicht durch
Kompetenzen verfügbar gemacht.
Man wird der Verluste gewahr, die eine
Gesellschaft einholen, wenn sie glaubt sich der Mühen entledigen zu können,
Rechenschaft darüber abzulegen, wessen und warum sie sich dessen erinnert.
Die Überschneidung von
Kompetenzausrichtung und digitalgestützter Informationsbeschaffung besteht in
ihrem Verfehlen der Sache und ihrer Bedeutung: Der kompetenzbasierte Zugang
weist, wie gezeigt, unmittelbar über diese hinaus, ein sich auf digitale
Hilfsmittel verlassender bleibt notwendig dahinter zurück, weil die Dimension
der Informationsbeschaffung gar nicht an Sinn und Bedeutung heranreicht. Beider
Scheitern ist Resultat der von außen an die Sache herangetragenen Zwecksetzung,
ihrer Unterwerfung unter das Diktat der Verwertbarkeit im Blick auf anderes,
ihrer geforderten Anschlussfähigkeit. Beide bedrohen in ihrer Einseitigkeit
dementsprechend das jeweilige Fach in seiner Substanz. Wollen kann man das nur
von vorgängigen, ideologischen Anschauungen her, deren Verfechter die Aufgabe
schulischen Arbeitens nicht mehr in der Sacherschließung erblicken.
Anfälligkeit
für Fremdsteuerung
Die kompetenzimmanente Tendenz zu
inhaltlicher Beliebigkeit impliziert die Anfälligkeit für Fremdsteuerung der
Lernenden, die den Anspruch eines aufgeklärten, die Mündigkeit freier Subjekte
wie die Solidarität als Fundament einer Bürgergesellschaft in den Blick
nehmenden Denkens depraviert. Wird die zu verhandelnde Sache herabgestuft auf
den bloßen Zweck eines Vehikels zu sachfremden Zielen, kann aus der
Beschäftigung mit dieser selbst kaum Interesse, kaum Freude und kaum
intrinsische Motivation erwachsen. Diese müssen künstlich erzeugt und
wachgehalten werden. Jochen Krautz hat diesen Zusammenhang in aller Schärfe
herausgemeißelt7 . Bei Volker Ladenthin findet sich in komprimierter Form das
Ergebnis einer solchen Analyse: Die Lernenden sollen „motiviert sein, das zu
tun, was andere wollen“ und weiter: „So betrachtet … ist die Kompetenztheorie
die bisher ausgeprägteste Form einer Theorie der Fremdsteuerung.“8
Wird dieses ideologische Konstrukt
verfugt mit den Möglichkeiten computergestützter, -gesteuerter und –überwachter
Lernprogramme, ist der Boden bereitet, auf dem eine besonders subtile Form der
Tyrannis wachsen kann. „Die digitale Bildungsrevolution“ von Dräger und
Müller-Eiselt etwa entfaltet exemplarisch deren Programm9 . Mit einem dem
Behaviorismus und der Kybernetik entlehnten System von Konditionierungen sollen
die Lernenden unter Aufbietung manipulativer Strategien dazu verführt werden,
sich scheinbar freiwillig vorgefertigter Lernsoftware anzudienen und ihre
Abhängigkeit von dieser bereitwillig hinzunehmen, deren Entwickler damit
zugleich die Herrschaft über Inhalte gewinnen, die einzig im demokratisch
legitimierten Bildungsauftrag der Politik gründen können. Die Gemeinsamkeit von
Kompetenzbasierung und dem Postulat einer umfassenden Digitalisierung des
Lernens (womit prägnant nur ein sich digitaler Medien bedienendes Lernen gemeint
sein kann) ist im Verständnis von Bildung als Anpassungsleistung zu
lokalisieren, auf Aneignung von Lerngegenständen unter dem Primat ihrer
möglichst unmittelbaren und effizienten Verwertbarkeit.10 Da eine
ausschließliche oder überwiegende Ausrichtung auf Anwendungsbezug den Intellekt
immer an das gerade Gegebene bindet und eine Fixierung auf immer schon
Vorfindliches keine Wissenschaft begründen kann, ist auch der Schule als Ort
von Wissenschaftspropädeutik der Boden entzogen. Wollen kann man das nur, wenn
man die Aufgabe wissenschaftlichen Arbeitens auf die Rolle einer Dienerin
herrschender Tendenzen reduziert, ihr ausschließlich affirmativen Charakter
konzediert.
Rekurrenzen
auf überholte Denkmodelle als Ausweis bildungspolitischer „Modernität“
Wenn die Unterordnung der
Unterrichtsgegenstände, der Inhalte unter die Kompetenzvermittlung Resultat der
grundsätzlich funktionalen Ausrichtung des Unterrichts ist und in
vergleichbarer Weise die dem Kompetenzbegriff inhärente Anfälligkeit für
Fremdsteuerung auf einem Verständnis von Bildung als fortgesetzte
Anpassungsleistung an äußere Anforderungen basiert, so handelt es sich hierbei
keineswegs, wie etwa die sogenannte Klieme-Expertise glauben machen will, um
ein innovatives Konzept11, das der der traditionellen Schule unterstellten
Ausrichtung auf bloße Akkumulation (trägen) Wissens entgegengesetzt wird (und
übrigens auch im Wesentlichen aus dieser Unterstellung und nicht aus der Sache
seine Akzeptanz und Überredungskraft bezieht), sondern ganz im Gegenteil um oft
verkürzende oder auch ungerechtfertigt vereinnahmende Rückgriffe auf durch die
Jahrhunderte hindurch formulierte und diskutierte Modelle, deren gemeinsame
Grundlage das Faktum des naturalen Strebens nach Selbsterhalt ist und die
dieses zum Ausgangs- und einzigen Bezugspunkt der Wesensbestimmung des Menschen
machen. Dieser wird dabei ausschließlich vom Primat des Interesses (und seiner
„naturalen“ Behauptung) vor der Erkenntnis her definiert, bleibt also immer auf
seine rudimentären Anfänge zurückbezogen und auf diese festgelegt. Es ist dann
unerheblich, ob man diese Durchsetzung rein egoistischer Interessen und Ziele
und ihre daraus abgeleitete Rechtfertigung, die immer auch Scheitern auf der
anderen Seite impliziert und dieses somit legitimiert, da jeder Konkurrenzkampf
Verlierer hervorbringt, letztlich egoistischen Genen, einzelnen Lebewesen oder
spekulativ erschlossenen Handlungsträgern zuschreibt wie gesellschaftlichen
(Sub)Systemen, etwa einem auf Selbstoptimierung angelegten Markt, oder einzelnen
Geschichtsverläufen bzw. der Geschichte überhaupt. In Rekurrenzen darauf
Innovativität, Modernität und Fortschritt zu erblicken, mutet durchaus verwegen
an.
Das in solchen gedanklichen
Konstruktionen eines verabsolutierten Selbsterhaltungsstrebens unterstellte
utilitaristische Weltverhalten des Subjekts, dessen Überlebensstrategie die
fortgesetzte Anpassung an die äußere Notwendigkeit ist, die es noch im
Scheitern als Akt der Freiheit begreifen muss, findet sich wieder in der
Definition des Menschen als homo oeconomicus12. Dieses Konzept einer
Dehumanisierung des Menschen ist die leitende Idee sowohl der
Kompetenztheoretiker als auch der Digitalisten und bietet die Erklärung für die
ethische Neutralität beider Modelle13. Fragen nach dem guten Leben, nach Verantwortung,
nach ethischen Prinzipien, nach Werten, die eine Gesellschaft solidarisch
zusammenhalten, schließlich nach Bildung und dem grundgesetzlich verbürgten
Recht auf Entfaltung der Persönlichkeit können bei solchen Grundannahmen einem
von vernünftigen Kriterien geleiteten Diskurs nicht mehr sachangemessen
zugänglich gemacht werden. Das kann man eigentlich nicht einmal mehr wollen.
Beide Tendenzen erweisen sich demnach
konzeptionell als gerade nicht progressiv, modern und innovativ, sondern als bemerkenswert
rückwärtsgewandt, gefangen in alten Denkstrukturen, deren theoretische
Schwächen schon in der Antike selbst und weit darüber hinaus immer erneut
aufgedeckt wurden. In Anbetracht dessen ist es umso erstaunlicher, dass die
Digitalisten und Kompetenztheoretiker diesen Zusammenhang nicht einmal mehr
reflektieren. Sollte ihnen dieser Sachverhalt noch bekannt sein, sollten sie
noch um ihn wissen, dann beweist das einmal mehr die Unsinnigkeit der Junktur
„träges Wissen“, da Trägheit keine Qualität des Wissens sein kann, sondern eine
des Subjekts ist, das Wissen in unterschiedlichen Kontexten aktualisiert.
Fragt man also, worin das
paradigmatisch Neue sich findet, so bleiben von den oft mit großem
terminologischen Aufwand getriebenen Ankündigungen die flächendeckend
eingeführten Standards, ihre institutionalisierten, regelmäßige Überprüfungen
in Test mit limitierten Aufgabenformaten und die technische Weiterentwicklung
der Medien. Das alles betrifft lediglich die äußere Seite von Unterricht und
Schule, Fortschritt verbürgt das nicht. An nichts lässt sich das besser ablesen
als an den digitalen Medien, deren Beherrschung eben auch radikale und
fundamentalistische Kräfte versiert nutzen, um ihre reaktionären und
demokratiefeindlichen Ziele zu verfolgen. Mit modernsten Medien und
inhaltslosen Kompetenzen kann man der größte Feind der Freiheit und der Würde
des Menschen sein. Darüber entscheiden aber nicht die Medien und Kompetenzen,
sondern eine in einem umfassenden Sinne erworbene Bildung. An diesem Sachverhalt
zerschellt auch die anglo-amerikanische Polemik gegen die
„Bildung-for-its-own-sake“. Politologisch gesehen verschafft sich hier die
Binsenwahrheit Geltung, dass etablierte Systeme, wenn ihre theoretischen
Basisannahmen nicht elastisch, sondern dogmatisch sind, zur Erhaltung des
Bestehenden in der Abwehrhaltung gegen Kritik sich strategisch und nicht
sachlich formieren.
Pädagogische
Freiheit
Schule und Unterricht nach Maßgabe des
Kompetenzdenkens und der Forderung nach umfassender „Digitalisierung der Bildung“
sind gleichermaßen Ausdruck und praktische Umsetzung eines reduktionistischen
Welt-und Menschenbildes. Die Welt wird eindimensional verkürzt auf einen
lückenlosen, kausal-deterministischen Ursache-Wirkungskomplex mit notwendiger
Geschehensabfolge14. Der Mensch wird enggeführt auf seinen bloßen Selbsterhalt
und nicht auf ein auch gutes Leben hin entworfen; seine Freiheit emergiert nur
noch im zustimmenden Anprallen an den Notwendigkeiten. Diese Grundüberzeugen
implizieren den Primat des Interesses vor dem Erkennen, das Verständnis von
Bildung als Anpassung, als Zurichtung auf das Dienliche und Vorteilhafte und
die daraus resultierende ethische Indifferenz. Es gibt gute Gründe für die
Überzeugung, dass die theoretischen Grundlagen der Kompetenztheorie und des
Digitalisierungspostulates wissenschaftlich nicht haltbar, jedenfalls
wissenschaftlich nicht konsensfähig sind. Sie schotten sich in ihrem
ausschnitthaft-verabsolutierenden Menschen- und Weltbild überdies ab gegen die
für ein Gemeinwesen unabweisbaren Fragen nach der Begründung von Werten und
ihrer Vermittlung in Schule und Unterricht. Die administrativ verordnete
Verpflichtung der Lehrkräfte auf eine in dieser Weise fragwürdige Ideologie
dürfte einen Zugriff auf die pädagogische Freiheit darstellen, der zumindest
die Frage nach seiner Legitimität aufwirft.
Anmerkungen:
1) Die sich anschließenden
Formulierungen geben eigene Erinnerungen an die Anfangszeit des
„Paradigmenwechsels“ wieder.
2) Zu diesem logischen Dilemma der
Kompetenzbasierung, dem KompetenzPerformanz-Zirkel vgl. Löwisch, Dieter-Jürgen:
Kompetentes Handeln. Bausteine für eine lebensweltbezogene Bildung, Darmstadt
2000, 87-92. Dazu auch Dammer (vgl. Anm. 4), 113 – 124.
3) Am Beispiel der Hirnforschung ist
dies beleuchtet bei Schmitt, Arbogast: Gehirn und Bewusstsein. Kritische
Überlegungen aus geistesgeschichtlicher Sicht zum Menschenbild der neueren
Hirnforschung. Ein Plädoyer für mehr aristotelische Rationalität, in: Beiträge
zu einer aktuellen Anthropologie, hrsg. v. H.-R. Duncker (Schriften der
wissenschaftlichen Gesellschaft der Johann Wolfgang GoetheUniversität Frankfurt
am Main, 19), Stuttgart 2006, 208 – 283. Vgl. auch ders.: Die Moderne und
Platon. Zwei Grundformen europäischer Rationalität, 2. überarb. Aufl.,
Stuttgart 2008, 15-16, auch mit Verweis auf Jauß, Hans Robert:
Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt 1970. - Ein instruktives
Beispiel bietet erstaunlicherweise die sogenannte Klieme-Expertise selbst:
Klieme, Eckhart u. a.: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Expertise,
hrsg. vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, Berlin 2007, 62-65. Hier
werden die Differenzen zwischen Kompetenzen und dem traditionellen
Bildungsbegriff soweit applaniert, dass man mit Recht fragen kann, worin der
Paradigmenwechsel noch bestehen soll, wenn man diese Frage an die Sache richtet
und nicht auf die äußeren Organisationformen der Testungen bezieht.
4) Aktuelle Literatur zum Thema mit
zahlreichen weiteren Literaturhinweisen z. B.: Brügelmann, Hans: Vermessene
Schulen – standardisierte Schüler. Zu Risiken und Nebenwirkungen von PISA,
Hattie, VerA und Co., Weinheim, Basel 2015. - Dammer, Karl-Heinz: Vermessene
Bildungsforschung. Wissenschaftsgeschichtliche Hintergründe zu einem
neoliberalen Herrschaftsinstrument (= Pädagogik und Politik 8, hrsg. von A.
Bernhard u. a.), Baltmannsweiler 2015. - Frost, Ursula (HRSG.): Unternehmen
Bildung. Die Frankfurter Einsprüche und kontroverse Positionen zur aktuellen
Bildungsreform (Sonderheft zur Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik),
Paderborn u. a. 2006. – Krautz, Jochen: Kompetenzen machen unmündig. Eine
zusammenfassende Kritik zuhanden der demokratischen Öffentlichkeit.
Streitschriften zur Bildung, Heft 1, hrsg. v. d. Fachgruppe Grundschulen der
GEW Berlin, Berlin 2015, 6-21. – Ladenthin, Volker: Kompetenzorientierung als
Indiz pädagogischer Orientierungslosigkeit. In: Profil, Mitgliederzeitschrift
des deutschen Philologenverbandes 9 / 2011, 1-6.
5) Die sog. Klieme-Expertise bezieht
sich (72) auf Weinert, wonach unter Kompetenzen zu verstehen sind „die bei
Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und
Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen
motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um
die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll
nutzen zu können.“
6) Dammer, Bildungsforschung hat
dieses Unwahre der Halbwahrheit in dem mit der sehr treffenden Überschrift
versehenen Kapitel „Der Mythos der Wissensgesellschaft“ (153 – 160) nicht nur
präzise herausgearbeitet und beschrieben, sondern auch seine Funktion im
neoliberalen Konzept ermittelt und bestimmt.
7) Vgl. Krautz, v. a. 9-11.
8) Vgl. Ladenthin, 3.
9) Vgl. Dräger, Jörg; Müller-Eiselt,
Ralph: Die digitale Bildungsrevolution. Der radikale Wandel des Lernens und wie
wir ihn gestalten können, Deutsche VerlagsAnstalt, München 2015. Einblicke in
die aus einer umfassenden Digitalisierung resultierenden Zerrformen von
Unterricht, die Schauder wecken, bietet in komprimierter Darstellung auch der
Beitrag von Ralf Lankau zum ZEIT-Artikel von Fritz Breithaupt „Ein Lehrer für
mich allein“ (ZEIT Nr. 5, 28. Jan. 2016): Lankau, Ralf: Demaskierung des
Digitalen durch ihre Propheten, veröffentlicht auf der Website der Gesellschaft
für Bildung und Wissen am 07.02.2016.
10) Vgl. die in Anm. 4 angeführten
Arbeiten von Dammer, Krautz und Ladenthin,; ferner Graupe, Silja; Krautz,
Jochen: Die Macht der Messung. Wie die OECD mit PISA ein neues Bildungskonzept
durchsetzt, in: Coincidentia. Zeitschrift für europäische Geistesgeschichte.
Beiheft 4, Bernkastel Kues 2014, 139 – 146. Der Artikel macht zudem die
Dimension der mit dem neuen Bildungskonzept verbundenen kulturellen
Entwurzelung bewusst.
11) Das Innovationspathos wird gleich zu
Beginn der Expertise zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards deutlich,
wenn Kompetenzmodelle als „pragmatische Antwort auf die Konstruktions- und
Legitimationsprobleme traditioneller Bildungs- und Lehrplandebatten“ (9)
charakterisiert werden. Die Abwehr gegen die traditionelle Schule nimmt
bisweilen bizarre Formen an, wenn traditionellen Curricula als Nachteil ein
allumfassender (sic!) Anspruch attestiert wird (z. B. 26), gerade so, als hätte
es die intensiven Debatten seit den 60iger Jahren um eine Verschiebung von
inhaltsorientierten zu lernzielorientierten Lehrplänen und zum exemplarischen
Arbeitsunterricht gar nicht gegeben. Was hier zu Legitimationszwecken an
Rhetorik aufgeboten wird, ist entlarvend.
12) Zu einer überzeugenden Kritik vgl.
Brodbeck, Karl-Heinz: Die fragwürdigen Grundlagen der Ökonomie. Eine
philosophische Kritik der modernen Wirtschaftswissenschaften, Darmstadt 22000.
13) Für die Apologeten der „digitalen
Bildungsrevolution“ und ihre säkularen Adventisten wird das ansichtig bei Dräger;
Müller Eiselt und Breithaupt (vgl. Anm. 9). Reichlich Anschauungsmaterial über
die sozialen Verwerfungen und spaltenden Folgen dieser Art von „Fortschritt“
und „Modernität“, die Assoziationen an die reaktionären Zustände zur Zeit der
Industriellen Revolution wecken, findet sich im „Reisebericht“ von Christoph
Keese: Silicon Valley. Was aus dem mächtigsten Tal der Welt auf uns zukommt,
München 2014. Die Prosperitätsverheißungen der Digitalisten sind hier nicht nur
von ihren theoretischen Annahmen her falsch, sie reichen nicht einmal mehr an
Minimalanforderungen eines common sense-Denkens heran.
14) Das logische Problem dahinter
besteht in der schon in der Antike ausführlich diskutierten Frage, ob alles,
was ist (alle Gegenstände, Ereignisse und dgl.) notwendig eine Ursache oder
eine notwendige Ursache hat. Die Kompetenztheoretiker müssen in ihrem Modell
die zweite Auffassung vertreten, die - alles andere als über jeden Zweifel
erhaben - wohl eher auf einen logischen Fehler zurückzuführen ist (vgl. dazu Schmitt,
Die Moderne und Platon, 460 – 466, fehlerhafter Gebrauch des modalen Prädikats
„notwendig“).
Bingen, Dr. Burkard Chwalek
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