In einem ausgezeichneten, weil vorbildlich kritischen Interviewmit Monica Gschwind hat Telebasel diese Woche aufgezeigt, was alles faul ist amverweigerten Handschlag von Therwil. Nachdem die Baselbieter Erziehungsdirektorin,
also die Chefin aller Schulen im Kanton, mehrere Male betont hatte, dass sie
das Verhalten der beiden Schüler nicht in Ordnung findet, aber sie trotzdem
darauf bestand, die Sache erst mit einem juristischen Gutachten klären zu
lassen, fragte Adrian Plachesi, der Journalist: «Und wenn das Gutachten zum
Schluss kommt, dass die beiden Buben den Handschlag verweigern dürfen. Was tun
Sie dann?»
Larifari in Therwil, Basler Zeitung, 9.4. Kommentar von Markus Somm
Darauf
wusste Gschwind nichts zu entgegnen – ausser, dass sie erneut beteuerte, für
wie unkorrekt sie das Benehmen der beiden Buben halte. Fast verzweifelt klang
Gschwind, als sie wiederholte, sie möchte keinen «Schnellschuss» abgeben,
weswegen Geduld vonnöten sei. Auch wollte sie erst wissen, wie die anderen
Kantone solches handhabten oder was die EDK dazu meinte. Dass Gschwind nicht
noch ein Gutachten der UNO und der Arabischen Liga abwartete: Man wäre darauf
gefasst gewesen.
Regieren
in der Schweiz im Jahr 2016: Niemand übernimmt Verantwortung, niemand findet
ein klares Wort, niemand ist da. Wenn eine Regierungsrätin nicht mehr in der
Lage ist, respektloses Verhalten zweier pubertierender Buben so zu verurteilen
und zu unterbinden, wie man sich das seit jeher gewohnt war: Dann sind wir in
Schwierigkeiten. Verräterisch war, wie Gschwind darauf hinwies, die beiden
Buben hätten ein Recht, beschult zu werden. Gewiss, doch heisst das, dass wir
uns alles gefallen lassen müssen, weil wir unsere Hausordnung – ob in der
Schule oder anderswo – nicht mehr durchsetzen können?
Denn
was die Schweiz erschüttert, ist ja nicht die Tatsache allein, dass zwei
adoleszente Männer unter dem Vorwand der Religion ihrer Lehrerin den
landesüblichen Respekt vorenthalten, sondern auch, wie sich unsere Behörden
nicht mehr trauen, dagegen vorzugehen. Mit Unbehagen fragt man sich, was alles an
Zumutungen noch denkbar ist? Was tut eine Schule, wenn ein Jüngling aus religiösen
Gründen nicht mehr im gleichen Zimmer wie die Mädchen sitzen will? Oder was
unternimmt ein Lehrer, wenn ein Schüler einfach die Hausaufgaben versäumt, weil
er stattdessen im Koran lesen musste? Warten wir auch dann gebannt auf ein
Gutachten der Juristen?
Kampf
der Autoritäten
Selten
hat ein Ereignis, das auf den ersten Blick so trivial erscheint, so viele
Miseren der Gegenwart in sich vereinigt: Natürlich offenbart Therwil unsere
fast pathologische Angst, gegenüber einer vor Kurzem eingewanderten Minderheit
klarzustellen, dass wir (noch) nicht in einem muslimischen Land leben – aber
Therwil verdeutlicht auch den spektakulären Zusammenbruch dessen, was man
früher «Erziehung» nannte. Wenn zwei Jugendliche in der Schule rebellieren –
und um das handelt es sich auch in Therwil – stand früher ausser Zweifel, wie
man damit umgeht: Man unterbindet es, man setzt etwas dagegen, man zeigt, wer
der Chef ist. Als wir an der Kantonsschule freche Flugblätter verteilten oder
einen Sitzstreik organisierten, dann wurden wir einfach bestraft. Der Fantasie
der Lehrerschaft waren keine Grenzen gesetzt. Selbstverständlich hatten wir
eine Sanktion auch vorausgesehen – wenn nicht insgeheim sogar erhofft. Junge Menschen
– besonders Männer – suchen den Streit mit den Autoritäten. Und diese
Autoritäten verderben die jungen Menschen, wenn sie nicht reagieren – oder noch
schlimmer: nachgeben.
Der
Rektor der betroffenen Sekundarschule in Therwil, Jürg Lauener, und seine
Lehrer betrieben eine Art von Appeasement, wie sie selbst unter modernen
Politikern selten zu beobachten ist. Statt Klartext zu reden und ein
Mindestmass von Disziplin durchzusetzen, baute man eine therapeutische
Gruppenpraxis auf: Man berief eine «Krisensitzung» ein, rang um Verständnis,
lud die Eltern ein und schloss einen Kompromiss, der weiter ging, als das, was
die Rebellen gefordert hatten. Weil es angeblich im Islam einem Mann untersagt
sein soll, einer Frau die Hand zu geben, hatten die beiden Lausbuben von einem
Tag auf den andern beschlossen, ihrer Lehrerin den Händedruck zu verweigern.
Um
diese offensichtliche Diskriminierung einer Frau ungeschehen zu machen, wählte
Lauener einen originellen, aber schändlichen Ausweg: Er bot den Rebellen an,
einfach gar niemanden mehr mit einem Handschlag zu grüssen, also auch den
Männern vorzuenthalten, was in unseren Breitengraden seit Jahrhunderten als
guter Anstand gilt. Lauener ist damit ein Meisterstück der Unterwerfung
gelungen. Das wirkt so, als ob man einen Angreifer, der drauf und dran ist,
einen zu schlagen, als Kompromiss vorschlägt, auch den Kollegen, der neben
einem steht, zu verprügeln. Das war kein Kompromiss, wo beide Seiten
nachgegeben hätten, sondern es war eine Kapitulation. Wären wir wirklich
überrascht, wenn in Therwil die Schüler künftig die Lehrer ausbilden würden?
Natürlich
schätzen wir die Religionsfreiheit, aber auch diese ist wie viele andere
Freiheiten nicht absolut gesetzt – ab und zu gerät sie in Konflikt mit anderen
Menschenrechten. Wie immer man diese Rechte im Einzelnen gegeneinander abwägt:
Ist es eine unzumutbare Belastung, wenn ein vierzehnjähriger, muslimischer
Junge einer (christlichen oder agnostischen) Lehrerin die Hand geben muss –
oder hat die Frau nicht genauso ein Recht darauf, dass sie von allen ihren
Schülern gleich respektvoll behandelt wird? Oder hat eine weibliche Christin
mit anderen Worten weniger Rechte als ein männlicher Muslim? Wie immer man
diesen Konflikt beurteilt: Darüber könnten wir nun seitenlange Dissertationen
verfassen. Und ich bin überzeugt, dass kluge Köpfe zu sehr unterschiedlichen
Befunden kommen könnten, sodass am Ende wieder niemand zu wissen scheint, wie
man in Therwil hätte entscheiden müssen.
Vom
Wesen des Händedrucks
Doch
– wir alle ahnen es – die Sache ist sehr viel banaler. Wenn wir diesen
syrischen Immigranten, die erst seit wenigen Jahren hier leben, eine Ausbildung
bezahlen – in einem der besten und teuersten Bildungssystemen der Welt, ohne
dass sie oder ihre Vorfahren je auch nur einen kleinsten Beitrag dazu geleistet
haben –, dann können wir mit gutem Grund mehr Dankbarkeit erwarten. Und eine
solche Dankbarkeit drückt sich auch darin aus, dass man sich an die Regeln
hält, die man in der neuen Heimat vorfindet. Zu diesen Regeln gehört es, dass
wir uns im Westen per Handschlag begrüssen – unabhängig von Alter, Geschlecht,
politischer Gesinnung, sexueller Orientierung, Einkommen oder ob wir uns vegetarisch
ernähren oder mit Fleisch. Alles andere gilt als Kränkung, als schwere
Kränkung.
Wer
sich auf die Flucht begibt und in einem neuen Land ankommt, das freundlich oder
zivilisiert genug ist, dass es einem Schutz bietet: Er weiss, wie man sich
benimmt. Er weiss, was sich gehört. Manche Bräuche der Einheimischen mag er kurios
finden, einige stören ihn, andere widersprechen seiner Religion – nie aber
würde es einem dankbaren, echten Flüchtling einfallen, sich darüber zu
beklagen, geschweige denn die Einheimischen bewusst vor den Kopf zu stossen.
Haben die Juden, die sich während der Nazi-Zeit in die Schweiz retteten (es
waren leider viel zu wenige, die wir aufnahmen), je darüber beschwert, dass wir
– mehrheitlich alles Christen – damals noch am Samstagmorgen, dem heiligen Tag
der Juden, arbeiteten und manche der Juden das ebenfalls zu tun hatten? Wer
einwandert, muss nicht alles aufgeben, was er mitbringt – er muss aber
Kompromisse schliessen, mehr Kompromisse als die Einheimischen. Überall auf
der Welt gilt das, selbst in Syrien.
Wehret
den Anfängen
Vor
Jahren hat der amerikanische Politiker Rudolph Giuliani die Stadt New York
befriedet, indem er als Bürgermeister seine Polizei anwies, jedes Vergehen, es
mag noch so gering erscheinen, sofort und hart zu ahnden. Man nannte seinen
Ansatz die «Broken windows theory», die Theorie der gebrochenen
Fensterscheiben, weil Giuliani buchstäblich verlangte, jeden Teenager, der ein
Fenster einwarf oder eine Wand besprayte, zu verhaften und zu büssen. Zuerst
wurde Giuliani belächelt, von manchen gar bekämpft als ein gefährlicher
Vereinfacher, ein Simpel, der die komplexe Welt der Kriminalität im Zeichen der
fortschreitenden Globalisierung nicht begriff, dann tauchten die ersten
Resultate auf, und sie strahlten hell. Bald war New York eine der sichersten
Städte Amerikas, nirgendwo gingen weniger Scheiben in die Brüche, nirgendwo
wurden aber auch so wenige Leute ermordet. Giulianis Null-Toleranz-Politik war
ein Durchbruch. Er hatte recht bekommen.
Das
gleiche gilt in der Integrationspolitik. Wollen wir, dass diese jungen Syrer
je reüssieren in unserem Land, dann haben wir ihnen von Anfang an klarzumachen,
was von ihnen erwartet wird – und diese Erkenntnis gewähren wir ihnen nur, wenn
wir jeden Verstoss gegen unsere Werte, er mag noch so bedeutungslos wirken,
sofort ahnden. Deshalb ist die Kuddelmuddel-Strategie der Therwiler
Schulbehörde so falsch: Weil sie im scheinbar Kleinen nachgibt, ohne daran zu denken,
was für Schlüsse die Betroffenen für das Grosse ziehen. Und deshalb hätte
Monica Gschwind sofort einschreiten und das tun müssen, was sie ja persönlich,
wie sie im Gespräch mit Telebasel sagte, auch findet: dass das Verhalten
dieser beiden Buben nicht korrekt war. Und was nicht korrekt ist, muss
korrigiert werden. Nicht von ungefähr steckt im Begriff Regierungsrat das Wort
Regieren.
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