Chancengleichheit in der Schule? Fehlanzeige! Beobachter, 15.4. von Susanne Loacker
Samantha
Sengupta lacht. «Chancengleichheit? Das ist ein illusorisches Ziel!» Die
37-Jährige arbeitete lange Jahre als Primarlehrerin in Zürich, «in Gegenden mit
hohem Migrationsanteil». Sengupta hat den Glauben daran verloren, dass sich in
der Schule und später im Beruf diejenigen durchsetzen, die am talentiertesten
sind. Und das, obwohl Chancengleichheit einer der Grundpfeiler unserer
Gesellschaft ist.
Ungleichheit
beginnt früh. Kinder, die die Gymiprüfung absolvieren sollen, müssen wissen,
was Ausdrücke wie «jemandem die Stirn bieten» oder «zur Besinnung kommen»
bedeuten. Das fällt Schülern leicht, die zu Hause deutsch sprechen. Die anderen
haben Pech gehabt. Damit es gar nicht so weit kommt, hat sich Sengupta
entschieden, bei der Caritas das Projekt Copilot zu starten. Ihr neues Ziel lautet:
die Startchancen der Migrantenkinder wenigstens ein bisschen zu verbessern.
Oft
sind es Bagatellen, an denen bestimmte Kinder scheitern, sagt Samantha
Sengupta. So müssen Eltern einen Stapel Papier durchlesen, wenn sie ihr Kind
für den Kindergarten anmelden wollen. «Viele sind dann schon überfordert und
merken nicht, dass sie ihr Kind für den Hort separat anmelden müssten.» Für
Kinder aus Migrationsfamilien ist der Hort aber derjenige Ort, wo sie Deutsch
lernen können – und müssen. Denn im Kindergarten sind genügend
Deutschkenntnisse Voraussetzung, um am Unterricht teilzuhaben.
Das
Caritas-Projekt Copilot versucht es mit Teamwork: Freiwillige, in der Regel mit
pädagogischem Hintergrund, helfen Eltern, die neu in der Schweiz leben und kaum
Deutsch sprechen. Dabei sei wichtig, dass die Eltern «Chef» bleiben und die
Berater sich nicht in Erziehungsfragen einmischen, sagt Sengupta. Die
Pilotphase ist auf drei Jahre angelegt, aber bereits heute sehr erfolgreich. Im
ersten Jahr wollte man 18 Familien Unterstützung vermitteln. Doch es meldeten
sich so viele freiwillige Helferinnen und Helfer und auch die Nachfrage war so
gross, dass bereits 30 Tandems unterwegs sind. Die Rückmeldungen sind durchwegs
positiv.
Deutsch
für Anfänger
In
Basel gibt es seit 2008 ein ähnliches Frühförderungsprojekt. Kinder, die zu
schlecht Deutsch für den Kindergarten sprechen, besuchen an zwei Halbtagen oder
an einem ganzen Tag eine Sprach-Spielgruppe. Der Kanton zahlt. Nun, nach acht
Jahren, zeigt sich: Die Eltern sind begeistert vom Angebot, weil es sie
entlastet und weil ihnen die externe Kinderbetreuung die Möglichkeit gibt,
mehr zu arbeiten. Und die Kinder lernen so gut Deutsch, dass sie im
Kindergarten nicht automatisch Aussenseiter sind. Eine Win-win-Situation.
«Es
ist absolut notwendig, Kinder mit schlechten Bildungschancen möglichst früh
abzuholen», sagt der Bildungsforscher Urs Moser von der Uni Zürich im Interview mit dem Beobachter.
Für ihn ist Chancengleichheit eine hehre und wichtige Forderung – aber auch
eine Illusion. In einer grossangelegten Studie hat er nach den Gründen für die
Ungleichheit gesucht und Erstaunliches gefunden: Es ist der soziale Status der
Eltern, der über Erfolg oder Misserfolg der Kinder in der Schule entscheidet –
und nicht in erster Linie die Muttersprache.
Nur wenige Migrantenkinder
schaffen es
«Die
Schule muss für Kinder und Jugendliche Zusatzangebote schaffen», sagt deshalb
Jürg Brühlmann, Pädagogikexperte beim Dachverband der Lehrerinnen und Lehrer.
Primar- und Sekundarschulen müssten kostenlose Vorbereitungskurse für die
Gymiprüfung anbieten. Wenn sie es nicht tun, werden Kinder von Migranten keine
echte Chance auf eine Erstklassausbildung haben. Es bleibe bei der alten
Gleichung: je teurer der Boden, desto höher die Gymiquote. «Es darf nicht sein,
dass der Schulerfolg in erster Linie vom Portemonnaie der Eltern abhängt.»
Die
Realität sieht anders aus. Deutschsprachige Kinder in Zürich erreichen eine
Gymiquote von 50 Prozent, Kinder aus mazedonischen oder portugiesischen Familien
eine Quote von zwei Prozent. «Ganz klar, hier stimmt etwas nicht», sagt
Brühlmann. Seit es Pisa-Studien gibt, ist es noch deutlicher: Kinder aus dem
europäischen Süden landen überdurchschnittlich oft in tieferen Schulniveaus.
Entsprechend eingeschränkt ist ihr berufliches Vorankommen. «Frühe Förderung,
schulische Aufgabenhilfe und Vorbereitung aufs Gymi könnten zumindest etwas
mehr Gerechtigkeit schaffen.»
Bildungsforscher
Moser pflichtet bei: «Es kann nicht sein, dass wir das Zepter den privaten
Anbietern überlassen. Natürlich ist es ein lukratives Geschäft für die
Nachhilfeschulen. Aber es wäre deutlich sinnvoller, Zusatzangebote innerhalb
des normalen Unterrichts zu schaffen.» Das ist bitter nötig. 2014 haben im
reichen Schulkreis Zürichberg über 42 Prozent der Sechstklässler die
Aufnahmeprüfung fürs Langzeitgymnasium geschafft, in der Flughafengemeinde Höri
waren es nur fünf Prozent. In ärmeren Gemeinden sind viele Kinder gleich
doppelt benachteiligt: Die Eltern können dem Sohn oder der Tochter bei den
Hausaufgaben nur schlecht helfen, und zudem fehlt das Geld, den Nachwuchs in
einen teuren Gymi-Vorbereitungskurs zu schicken.
Expat-Kids:
systematisch gefördert
An
der Oberstufe geht es im selben Stil weiter, am ärgsten in städtischen
Gebieten. Dort hat sicheine eigentliche Nachhilfeindustrie gebildet.
Offizielle Zahlen gibt es nicht, aber Insider sagen unabhängig voneinander:
Zwei von drei Gymischülern erhalten mehr oder weniger regelmässig privaten
Stützunterricht. Darunter zwar auch Jugendliche, die wegen längerer Krankheit,
Problemen mit einem Lehrer, eines Schulwechsels oder einer persönlichen Krise
Unterstützung bekommen. Für sie ist Nachhilfe absolut sinnvoll. Doch für viele
Schüler gehören jahrelange Privatstunden in mehreren Fächern zum Alltag. Die
Zahl der Anbieter wächst, und immer mehr Studenten bessern mit Nachhilfe ihr
Budget auf. Es ist weiterhin so, dass man auch ohne Stütze die Matur besteht.
Es wird bloss immer schwieriger.
Aus diesem
Teufelskreis gibt es fast kein Entrinnen. Am Zürichberg und an der Goldküste
wohnen viele Eltern, die gut ausgebildet sind und das internationale
Arbeitsumfeld bestens kennen. Sie organisieren ihren Kindern systematisch einen
möglichst guten Start ins Erwerbsleben. Und ein guter Start heisst: Matura.
Heute legen zwar 20 Prozent der Schweizer Jugendlichen eine gymnasiale Matura
ab – 1980 waren es nur halb so viele. Im internationalen Vergleich ist das
aber noch immer wenig. In den 34 OECD-Ländern liegt die Maturaquote im Schnitt
bei 60 Prozent. So verwundert es nicht, dass Eltern aus Deutschland oder
Skandinavien alles unternehmen, damit ihre Kinder eine Matura machen, vor allem
dann, wenn sie nicht ewig in der Schweiz bleiben wollen. Globale Firmen kennen
wohl Bachelor und Master, das KV aber eher nicht. Wenn ihre Kinder im
Heimatland Erfolg haben sollen, bleibt den Eltern keine andere Lösung.
«Dass
alle ans Gymnasium drängen, ist Quatsch»
«Es
ist entscheidend, dass das Schweizer Bildungssystem international kompatibel
ist», sagt der Wirtschaftspädagoge Rolf Dubs von der Uni St. Gallen. Er
begrüsst es deshalb, dass der Bundesrat im Februar für Schulabschlüsse endlich
eine neue Terminologie eingeführt hat, die internationalen Standards
entspricht. «Jetzt haben auch junge Berufsleute, die eine Lehre gemacht haben,
kein Problem mehr mit den Bezeichnungen für ihre Ausbildung.» Dass alle ans
Gymi drängen, sei «Quatsch» und «alles andere als zielführend», sagt der
frühere Rektor der Uni St. Gallen. Die Folge sei, dass sich die Hürden im
Bildungssystem einfach nach hinten verlagerten, etwa an die Uni, wo
Privatlehrer weitgehend machtlos sind – mit dem Resultat, dass das Scheitern
womöglich noch schmerzhafter ist. «Bei uns an der Uni St. Gallen gibt es zu Beginn
des Studiums ein Assessment-Jahr mit vielen Prüfungen und Arbeiten. Das tun
wir, weil wir so die Schwachen aussortieren können.»
Auch
das hat Folgen. Dubs beobachtet, dass an den Schweizer Unis immer mehr
Studenten sogenannte Negativwähler sind: Aus Angst vor dem Scheitern
entscheiden sie sich für vergleichsweise einfache Studienrichtungen und nicht
für dasjenige Fach, das sie besonders interessiert. «Das ist eine direkte
Folge davon, dass man Kinder ans Gymi puscht, die dort nicht hingehören.»
Von
Chancengleichheit will Dubs schon lange nicht mehr sprechen. «Das ist sowieso
eine Illusion.» Es wäre schon ein grosser Schritt vorwärts, wenn wir dafür
sorgen könnten, dass alle mehr oder weniger ähnliche Startbedingungen haben.
Und ausgerechnet da steht die Schweiz nicht besonders gut da. «Wir können und
müssen viel mehr tun und endlich eine Sozial- und Familienpolitik betreiben,
die diesen Namen verdient.»
Vielleicht
erledigt sich der Hype um die Ausbildung von allein. Dubs jedenfalls ist
überzeugt, dass sich die Löhne verschieben werden. «Eines Tages wird nicht
mehr der Akademiker am meisten verdienen, sondern derjenige, dessen Arbeit man
am meisten braucht.» Das kann der Liftmonteur sein oder die
Telekommunikationsfachfrau. «Ich hoffe, dass das den heutigen Gymi-Fanatismus
zumindest etwas mildern wird.» Die Kinder und Jugendlichen werden dankbar sein.
Und die Eltern letztlich auch.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen