In jeder Unterrichtsstunde sind zwei Erwachsene anwesend, oft sogar drei, Bild: Grapatin, Niklas
Mit Trisomie 21 aufs Gymnasium, Frankfurter Allgemeine, 16.7. von Angelika Fey
Sieben Mädchen stehen vor der Tafel, Meryem steht
mittendrin. Stolz streckt sie den Arm in die Höhe, zeigt der Klasse eine
Limette. Erst hatte sie die Hand gehoben, in der sie eine Orange hielt. Eine
Mitschülerin flüsterte ihr daraufhin etwas ins Ohr, Meryem korrigierte sich.
Während sie jetzt das Obst in der richtigen Reihenfolge präsentiert, liest ein
anderes der sieben Mädchen hastig einen Text vor. Das kurze Referat ist das
Ergebnis einer Erdkundestunde, die den Anbau von Südfrüchten behandelte.
Meryem hat Trisomie 21, sie ist geistig behindert.
Dennoch geht sie aufs Gymnasium, in die fünfte Klasse der Marienschule, einer
katholischen Mädchenschule in Offenbach. Die Zwölfjährige hat zwei weitere
geistig behinderte Mitschülerinnen, Aysenur und Kali. Die Klasse 5a ist damit
eine sogenannte Inklusionsklasse: Sie besteht aus drei behinderten Schülerinnen
und 17 nichtbehinderten.
Die ganze Erdkundestunde über, an deren Ende der
kleine Vortrag steht, sind die Kinder zusammen. Vor Meryem auf ihrem Pult liegen
eine Orange, eine Limette und eine Zitrone. Vorsichtig streicht sie mit den
Fingern immer wieder über die Früchte, umfasst sie. Einen Platz weiter übt ihre
Freundin Aysenur mit Förderschullehrerin Ute Heichen das Lesen: „Was steht
hier?“ „Limette“, sagt die zierliche Aysenur so leise, dass sie kaum zu
verstehen ist. Aber sie liest auf Anhieb richtig. Die beiden Mädchen sitzen mit
den anderen Schülerinnen der Referatsgruppe an zwei Tischen. Während Meryem und
Aysenur Lesen trainieren, schreiben die nichtbehinderten Mädchen einen
Vortragstext. Dafür verwenden sie Artikel und Grafiken, die der Erdkundelehrer
ausgeteilt hat.
Fremdwörter und komplexe Arbeitsblätter
Das Team, das die Klasse unterrichtet, hat klar
abgegrenzte Aufgaben. Der Fachlehrer unterrichtet so, wie es dem Niveau am
Gymnasium entspricht. Er verwendet in seinen Erklärungen Fremdwörter, die
Arbeitsblätter sind komplex aufgebaut, und der Unterricht schreitet schnell
voran. Dafür, dass die drei Inklusionskinder auch etwas lernen, sorgt Förderschullehrerin
Ute Heichen. Unterstützt wird sie von Inklusionshelferin Sarah, die gerade ihr
freiwilliges soziales Jahr macht. In jeder Unterrichtsstunde sind zwei
Erwachsene anwesend, oft sogar drei.
Als Förderschullehrerin müsse sie einschätzen, ob
die behinderten Kinder dem Stoff noch folgen können, erklärt Ute Heichen im
Anschluss an die Erdkundestunde. Sie versuche, den Stoff des
Gymnasialunterrichts zu vereinfachen. Wo das nicht mehr möglich sei, arbeite
sie mit ihren Schützlingen an einem eigenen Lernprogramm. „In Mathematik zum
Beispiel rechnet die Klasse mit wahnsinnig hohen Zahlen, da können die Mädchen
nicht mehr mitmachen.“ Mathematisch geschult werden sie trotzdem, nur lernen
sie in einem eigenem Tempo. Ute Heichen holt Meryems Matheheft aus dem Regal
und zeigt auf die Aufgaben. „Meryem rechnet mit Hilfsmitteln im Zahlenraum bis
30“, sagt Heichen. Für sie steht fest, dass die Inklusionskinder auf dem
Gymnasium nicht zu kurz kommen: „Im Vergleich zu Kindern, die auf die
Förderschule gehen, sind die drei Mädchen definitiv weiter im Lesen, Rechnen
und Schreiben.“
Meryems Mutter, Margot Gürbüz, wirkt glücklich,
wenn sie von den Fähigkeiten ihrer Tochter berichtet. Unlängst habe sie einen
Brief bekommen mit der Bitte, dass Meryem Badesachen mitbringen solle. „Den
Brief konnte sie alleine lesen und hat auch alles verstanden, was drin steht.“
Gürbüz, eine große, energische Frau, spricht mit Begeisterung über ihr Kind und
davon, dass sie es nie verzärtelt habe wegen seiner Besonderheit. Sie erzählt,
wie sie Meryem beobachtet habe, als sie unter einem Baby-Trapez lag, einem
Holzgestell, von dem Ringe und Figuren herabhängen. „Wenn man ein normales Kind
unter so ein Trapez legt, dann spielt es. Auch eine halbe Stunde lang.“ Bei
Meryem sei dies nicht so gewesen. „Sie hat ein paar Mal geguckt, und dann ist
sie weggedriftet, hat ins Nichts gestarrt.“ In diesem Moment habe sie als
Mutter beschlossen: „Entweder das Kind schläft, dann hat es seine Ruhe. Oder
das Kind ist wach, dann muss ich mich mit ihm beschäftigen.“
Mehrkosten von etwa 100.000 Euro
Als die Tochter ein halbes Jahr alt war, hat Margot
Gürbüz sie in einem Regel-Kindergarten angemeldet. Später hat sie Meryem die
Waldschule in Offenbach besuchen lassen, eine Regel-Grundschule. Dort war
Meryem schon mit Aysenur und Kali in einer Klasse und wurde von Ute Heichen
betreut. 3682 Kinder mit Förderbedarf haben laut Kultusministerium im
vergangenen Jahr in Hessen eine staatliche Regel-Grundschule besucht, darunter
321 mit geistigen Behinderungen. Inklusion ist ein Kunstwort, geschaffen, um
den Anspruch aller auf Teilhabe an allen Formen von Bildung zu dokumentieren:
Wer nicht will, dass seine Kinder Förderschulen besuchen, soll sie auch nicht
auf eine schicken müssen. Inzwischen arbeiten zahlreiche Grundschulen inklusiv.
Den Wechsel auf weiterführende Schulen bewältigen vornehmlich geistig
behinderte Kinder selten: Nur drei haben im vergangenen Jahr ein staatliches
Gymnasium besucht, die drei Mädchen auf der Offenbacher Privatschule werden vom
Kultusministerium nicht mitgezählt. Und dass jemand wie Meryem, mit Trisomie
21, ein Gymnasium besucht, ist unter den seltenen Fällen der seltenste.
„Das ist eine ganz neue Situation für uns“, sagt
Marie Luise Trocholepczy, die Leiterin der Marienschule. Im Jahr 2012 fragten die
Eltern von Meryem, Aysenur und Kali, ob die Schule die drei Mädchen im Herbst
2014 aufnehmen würde. Erst wurde viel beraten, aber weil das Kollegium der
Schulleiterin Unterstützung zusicherte, stimmte der Schulträger, die Diözese
Mainz, der Aufnahme zu. „Für uns steht fest, Maßgabe ist das Wohl des Kindes“,
sagt Trocholepczy. Bildungspolitische Überlegungen, die mit dem Thema verbunden
seien, sollten hintanstehen, meint die Pädagogin. „Man muss wirklich gucken, wo
ist Inklusion sinnvoll, wo ist sie nur ideologisch gewollt.“ Damit das
Miteinander von behinderten und nichtbehinderten Kindern gut funktioniert,
gelten für die Klasse 5a besondere Bedingungen. Statt wie üblich an der Schule
25 Mädchen zählt sie nur 20. Der Klassenlehrerin werden zwei zusätzliche
Stunden zugestanden, für Vorbereitungen zu Hause und Gespräche mit der Klasse.
Direkt gegenüber dem Klassenzimmer können die Inklusionskinder einen eigenen
Raum nutzen, etwa wenn die anderen Kinder eine Arbeit schreiben. „Insgesamt
haben wir für zwei Schuljahre Mehrkosten von etwa 100.000 Euro“, sagt
Trocholepczy. Auch das Gehalt der Förderschullehrerin Ute Heichen bezahlt das
Bistum.
Seit sechs Jahren wird über Inklusion an Schulen
erbittert gestritten, auch in Hessen. 2009 hat Deutschland die Behindertenrechtskonvention
der Vereinten Nationen unterschrieben. Das Abkommen sieht vor, dass Behinderte
genauso Teil der Gesellschaft sein sollen wie nichtbehinderte Menschen. Das
Thema hat menschliche und politische Facetten, Hoffnungen sind damit verbunden,
auch Ängste und Befürchtungen, fast immer drehen sie sich darum, was passiert,
wenn Kinder dem Grundschulalter entwachsen. Müssen die Eltern behinderter
Kinder dann eine Trennung hinnehmen? Haben, wenn sie das ablehnen, die anderen
Beteiligten keine Wahlmöglichkeit mehr? Sind Lehrer, vor allem am Gymnasium,
mit der Betreuung geistig oder auch körperlich stark eingeschränkter Schüler
überfordert? Und auch: Werden Förderschulen personell ausgedünnt, weil die
Lehrkräfte an Regelschulen einspringen, wird das Niveau an den Förderschulen
sinken, wenn die besten und bravsten ihrer potentiellen Schüler Regelschulen
besuchen?
Meryem, Aysenur und Kali sind seit fast einem Jahr
auf der Marienschule. „Inzwischen werden die Mädchen ganz normal behandelt.
Wenn sie etwas anstellen, werden sie auch ausgeschimpft“, erzählt
Klassenlehrerin Tanja Korn. Auf der Klassenfahrt nach Koblenz wurden die drei
auf die Zimmer der anderen Mädchen verteilt. Sie hätten ihnen abends vorgelesen
und sie zugedeckt. „Wie bei einer kleinen Schwester.“ Auch die 17
nichtbehinderten Schülerinnen profitierten, sagt Korn, sie hätten „von Anfang
an Rücksichtnahme gelernt“. Die einzige Sorge aller Beteiligten ist der Blick
in die Zukunft: „Wann kommt der Punkt, an dem wir merken: Die Schere geht zu
weit auseinander?“, fragt sich die Klassenlehrerin. Für das nächste Schuljahr,
also für die sechste Klasse, ist bereits entschieden, dass die Inklusionskinder
am Gymnasium verbleiben.
Mit geschlossenen Augen
Die Frage „Wie lange noch?“ stellt sich bei anderen
Behinderungen nicht. Luise Dieter sitzt im Mathematikunterricht der neunten
Klasse. Das Thema der Stunde ist die allgemeine Sinusfunktion. Konzentriert
kneift das Mädchen die geschlossenen Augen zusammen. Auf der Tischplatte vor
ihr steht ein Laptop. Mit der rechten Hand tippt Luise auf der Tastatur,
gleichzeitig fährt sie mit den Fingerspitzen der linken Hand über die
Braillezeile, die unter dem Laptop liegt.
Luise Dieter ist von Geburt an blind. Sie hat eine
Zäpfchendystrophie und kann nur zwischen Hell und Dunkel unterscheiden, jedoch
keine Farben oder Kontraste sehen. Auf der Braillezeile kann sie in
Blindenschrift lesen, was sie auf der Tastatur geschrieben hat. Die
Fünfzehnjährige überprüft, welche Werte sie mit Hilfe des Tabellenprogramms
Excel errechnet hat. Dabei hilft ihr Maike Sauer, ihre Förderschullehrerin.
Luises Klassenkameraden benutzen für die gleiche Aufgabe den Taschenrechner und
tragen die Ergebnisse mit dem Kugelschreiber auf dem Arbeitsblatt ein.
In ihrer Klasse ist Luise die einzige Blinde. Auch
sie ist ein Inklusionskind auf einem Regel-Gymnasium. Sie besucht die
Albertus-Magnus-Schule im südhessischen Viernheim. Das Gymnasium ist, wie die
Marienschule in Offenbach, eine katholische Privatschule des Bistums Mainz. Die
meisten blinden Kinder gehen auf spezielle Schulen und Internate, etwa in
Marburg. Aber das wollte Luise nicht. „Ich finde es schön, in der Heimat zu
bleiben. Bei meiner Familie“, sagt sie. Außerdem weiß sie zu schätzen, dass sie
an der Regelschule früh gelernt hat, mit einem normalen Computer zu arbeiten
und nicht eine spezielle Schreibmaschinen für Blinde verwendet. „Dadurch kann
ich viele Sachen selbständiger machen.“
Im Klassenzimmer ist der Platz neben Luise frei.
Dass Luise in der Klasse keine Freunde hat, weil sie blind ist, bezweifelt ihre
Mutter. „Früher war Luise mit den Jungen zusammen. Die haben sie mitgenommen
zum Spielen.“ Aber seit der Pubertät habe sich dies geändert. „Ab da ist Luise
ein bisschen wie eine Seifenblase schwerelos durch den Raum geschwebt.“ Die
Jungen seien nun lieber für sich, und zu den Mädchen habe Luise wenig Kontakt.
Die Hoffnung besteht, dass sich die Lage bessert, wenn Luise in die Oberstufe
kommt. In Kursen mit unterschiedlicher Zusammensetzung der Schüler könnte sie
wieder Anschluss finden. Die Frage bleibt, ob Luise auf einer reinen
Blindenschule nicht leichter Teil der Gemeinschaft werden könnte. Sie selbst
scheint sich an der Situation aber nicht zu stören. In ihrem Judoclub habe sie
Freunde gefunden, erzählt Luise. Und an der Albertus-Magnus-Schule fühle sie
sich wohl. „Ich finde, dass die Lehrer sehr gut auf mich achten.“
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