Wie weit kann integriert werden? Bild: Urs Jaudas
Die Grenzen der Integration, Tages Anzeiger, 7.5. von Raphaela Birrer
Nikolai* versteht nicht. Zum dritten Mal fordert
ihn die Lehrerin auf, den Zettel mit den besuchten Berufswahlkursen abzugeben.
Bloss: Welchen Zettel? Und welche Kurse? Die Lehrerin ruft ihn nach vorne und
erklärt ihm, worum es geht. Sie merkt, dass sich Nikolai weder an den Zettel
noch an das gesamte Berufswahlthema erinnert. Während des Gesprächs rumort es
im Klassenzimmer. Die zweite Lehrerin sammelt die Hausaufgaben ein. Hinter
ihrem Rücken wird über Pulte hinweg geredet, geschubst und geboxt; Gegenstände
fliegen, und laute Flüche fallen. Drei Viertel der Schüler haben die
Hausaufgaben nicht gemacht. Blerim* wird ausfallend, steht auf, schlägt seinen
Banknachbarn. Die erste Viertelstunde der Deutschlektion ist bereits vorbei,
doch statt über Kommaregeln zu sprechen, hat die Klasse nur über Disziplin
geredet. Alltag in dieser Sek-C-Klasse in einer Schweizer
Agglomerationsgemeinde, wie die beiden Lehrerinnen später sagen werden.
Kein geordneter Unterricht
Nikolai und Blerim sind zwei von sieben Schülern im
Schulzimmer, die zuvor eine Kleinklasse oder eine Sonderschule besuchten. Nun
werden sie in der Regelklasse unterrichtet. So sieht es das schweizweit
verbreitete Konzept der «schulischen Integration» vor, das die Gemeinde vor
zwei Jahren eingeführt hat. Dabei sollen möglichst alle Kinder – auch jene mit
besonderem Förderbedarf – gemeinsam geschult werden. Wegen der Mehrbelastung
stehen den Lehrern lektionenweise Heilpädagogen zur Seite. «Seither komme ich mir
manchmal vor wie in einem Zirkus, aber statt der Direktorin bin ich die
Löwenbändigerin. An einen geordneten Unterricht ist nicht mehr zu denken», sagt
Klassenlehrerin Yvonne Koller*, eine Pädagogin mit jahrzehntelanger Erfahrung.
Eine solch prekäre Situation habe sie noch nie erlebt. Aus Angst vor der
Reaktion der Schulleitung will sie anonym bleiben.
Die Sonderschüler in die Regelklassen zu
integrieren, ist ein politischer Auftrag. Das Behindertengleichstellungsgesetz
sowie vielerorts auch die Volksschulgesetze verpflichten die Kantone dazu. Mehr
integrativer Unterricht, deutlich weniger Separation in Sonderschulen und
Kleinklassen, lautet die Vorgabe. In diesem Prozess sind die Kantone
unterschiedlich weit fortgeschritten. Um überall ein vergleichbares Angebot
für Kinder mit (Lern-)Behinderungen zu gewährleisten, trat 2011 ein
Sonderpädagogikkonkordat in Kraft. Bislang sind 16 Kantone beigetreten,
darunter auch Zürich.
Die sieben ehemaligen Kleinklassen- und
Sonderschüler in Kollers Klasse haben beispielsweise geistige Behinderungen
(wie Nikolai), Verhaltensstörungen (wie Blerim), Aufmerksamkeitsdefizite oder
leiden unter Legasthenie. Die anderen zwei Drittel ihrer Sek-C-Klasse seien
lernschwach – und ausnahmslos alle Schüler entstammten schwierigen familiären
Verhältnissen, so Koller. Für diese herausfordernde Klassenkonstellation fehle
ihr die Unterstützung. Flavia Meier*, die zweite Lehrerin im Klassenzimmer, ist
nur während fünf Lektionen pro Woche anwesend – und gar nicht als
Förderlehrerin ausgebildet. Weil es nicht ausreichend Heilpädagogen gibt,
springen Fachlehrer in die Lücke.
Beide Lehrerinnen betonen, motiviert für den
integrativen Unterricht zu sein. Aber: «In jeder Lektion spüren wir die
Grenzen des Konzepts. Wir werden weder den Kindern mit besonderen
Förderbedürfnissen noch den regulären Schülern gerecht.» In ihrer Gemeinde sei
das C-Niveau, die schwächste Leistungsstufe der Sek, ohnehin schon
überdurchschnittlich tief, und die sozialen Probleme in den Klassen seien
gross. Mit der schulischen Integration habe sich die Situation «drastisch
verschärft». «Man kann doch dieses System nicht beliebig über jede Gemeinde
stülpen – unabhängig davon, wie die Voraussetzungen der Schüler dort sind»,
finden sie.
«Eine unkoordinierte Baustelle»
Für Jürg Brühlmann vom Lehrerdachverband ist dieser Fall ein klassisches
Beispiel für die grundlegenden Probleme mit der schulischen Integration. «Sie
ist schweizweit eine grosse, unkoordinierte Baustelle. Die
Umsetzungsunterschiede zwischen den Kantonen und Gemeinden sind enorm. Viele Schulen sind
mit dem Tempo schlichtweg überfordert. Es ist dilettantisch, die Probleme in
die einzelnen Schulzimmer zu verschieben.» Eine derart grosse Reform
funktioniere nicht auf Knopfdruck – umso mehr, als sie in den Kantonen mit Sparmassnahmen
einhergehe. «Statt Budgets zu kürzen, müsste in Weiterbildung, in die lokale
Entwicklung von Integrationsmodellen und in den überregionalen
Erfahrungsaustausch investiert werden», sagt Brühlmann.
Experten sind sich einig: Wenn viele ehemalige
Sonderschüler auf eine leistungsschwache Klasse treffen, können sich die
Integrationsprobleme verschärfen. Beatrice Kronenberg, Direktorin der Stiftung
Schweizer Zentrum für Heil- und Sonderpädagogik, betont, dass die Tragfähigkeit
der Regelklasse eine entscheidende Rolle für das Gelingen der Integration
spiele. Trotzdem warnt sie davor, in sozial belasteten Gemeinden davon
abzusehen: Migrantenkinder aus sozioökonomisch schwierigen Verhältnissen seien
in den Sonderschulen ohnehin schon überrepräsentiert – «nicht weil sie
behindert, sondern weil sie sozial benachteiligt sind».
Die kritischen Stimmen aus der Lehrerschaft finden
bei Christoph Eymann, Präsident der Erziehungsdirektorenkonferenz, Gehör. Auch
er sagt: «Die schulische Integration ist heute eine der grössten
Herausforderungen der Volksschule; die Lehrer leisten sehr gute Arbeit.» Eymann
ist der Meinung, dass gewisse Schwierigkeiten bestehen bleiben werden. «Die
Schule versagt aber nicht, wenn die Integration nicht in jedem Fall klappt. Wir
dürfen nicht den Anspruch haben, alle Schüler gleich weit zu bringen. Die
Sonderbeschulung muss weiterhin möglich sein.» Vielleicht werde sich in einem
Jahrzehnt ein neues System etablieren, wie besonders förderbedürftige Schüler
unterrichtet werden – aber bis dahin führe kein Weg an der integrativen Schule
vorbei.
Diese Flexibilität in der Umsetzung des neuen
Konzepts wünschten sich die betroffenen Lehrerinnen Koller und Meier auch in
ihrer Gemeinde. «Doch bei uns wird trotz offensichtlicher Mängel nicht mehr
daran gerüttelt. Das ist frustrierend.»
* Namen geändert
Erfolgreicher Unterricht in heterogenen
AntwortenLöschenLerngruppen auf der Volksschulstufe des Kantons Zürich
http://www.bi.zh.ch/internet/bildungsdirektion/de/unsere_direktion/veroeffentlichungen1/jcr:content/contentPar/publication_39/publicationitems/titel_wird_aus_dam_e_0/download.spooler.download.1372833028941.pdf/Kurzfassung_Erfolgreicher+Unterricht+in+heterogenen+Lerngruppen+auf+der+Volksschulstufe+des+Kantons+Z%C3%BCrich_Prof.+Dr.+Reusser.pdf
www.archiv-der-zukunft.de - Wie Schulen gelingen.
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