Dem System ausgeliefert: Notengebung, Bild: tradebit.de
Der wundersame Sprung der Noten vor der Gymiprüfung, Tages Anzeiger, 5.2. von Marius Huber
Auf den ersten Blick
fragt man sich, warum die Mathenote im Zeugnis des 12-jährigen Luca* überhaupt
Anlass zu Diskussionen geben sollte. Der Sechstklässler, der in einer Zürcher
Agglomerationsgemeinde zur Schule geht, ist ein klarer Fall: Note
4,5 – das ist das Fazit der Gesamtbeurteilung seiner Lehrerin. Der Durchschnitt
von Lucas Prüfungsnoten liegt zwar etwas höher, suggeriert aber nichts anderes.
Trotzdem steht im Zeugnis, das die Lehrerin dieser Tage ausgestellt hat, bei
Mathematik eine 5.
Mit übertriebenem
Wohlwollen hat das nichts zu tun. Das wäre nicht ihre Art, sagt die Lehrerin.
Sie sei auch nicht anfällig für Druckversuche von Eltern, die in diesen Tagen
oft anrufen, um über die Zeugnisse zu diskutieren. Der Fall ist komplizierter,
und er wirft ein Licht auf ungeschriebene Gesetze, die im Kanton Zürich an der
Schwelle zum Gymnasium spielen – denn Lucas Eltern wollen, dass ihr
sprachbegabter Sohn die Aufnahmeprüfung macht.
Ein
Teufelskreis von Vermutungen
Hinter den Kulissen
dreht sich ein Teufelskreis. Gymilehrer gehen davon aus, dass Primarlehrer zu
gnädig benoten, und urteilen deshalb selber strenger. Primarlehrer gehen davon
aus, dass Gymilehrer übermässig streng urteilen, und heben deshalb selbst die Noten
an. Es ist ein System von selbsterfüllenden Prophezeiuungen, in denen das
erwartete Verhalten der Gegenseite vom eigenen Verhalten erzwungen wird.
Der Hintergrund ist
folgender: Wenn ein Kind im Kanton Zürich nach der 6. Klasse ans Gymnasium
will, zählen seine Erfahrungsnoten in Deutsch und Mathematik gleich viel wie
jene aus den Aufnahmeprüfungen. Am Schluss entscheidet der Durchschnitt, der
über einer 4,5 liegen muss. Nun wissen die Eltern von Luca genau wie dessen
Lehrerin, dass dieses Ziel mit einer Erfahrungsnote von 4,5 fast unerreichbar
ist. Das bestätigt Harry Huwyler, der Präsident des Verbands der Zürcher
Mittelstufenlehrkräfte (ZKM). Er könne sich an keinen Schüler erinnern, der den
Sprung unter solchen Voraussetzungen geschafft habe. Eine 5 im Schnitt sei das
Minimum.
Die
einen runden auf, die anderen ab
Lucas Lehrerin fürchtet,
dass sie unter Druck geriete, wenn sie hart bleiben und auf ihrer Einschätzung
beharren würde. Denn die Eltern haben ein starkes Argument: Viele andere Lehrer
verhalten sich in der gleichen Situation kulant und runden grosszügig auf, wenn
sie einem Kind eine Gymikarriere zutrauen – auch das bestätigt Huwyler, der
aber betont, dass keine reinen Fantasienoten verteilt würden.
Die Crux daran ist, dass
sich die Verantwortlichen für die Aufnahmeprüfungen auf grosszügig aufgerundete
Erfahrungsnoten eingestellt haben. Sie halten dagegen, indem sie die Prüfungen
besonders streng bewerten und so den Notenschnitt drücken (siehe Infobox oben
rechts).
«Sonst
würde jeder bestehen»
«Täte man das nicht,
würde jeder bestehen», sagte Hans Keller, der frühere Projektleiter für die
zentralen Aufnahmeprüfungen, einmal gegenüber der NZZ. Sein Nachfolger Martin
Zimmermann, Rektor an der Kantonsschule Wetzikon, sagt, dass man dabei zwei
Ziele verfolge. Primär gehe es darum, aus den vielen guten Primarschülern jene
herauszufiltern, die tatsächlich Chancen auf eine Hochschulkarriere haben.
Andererseits bestehe im
Kanton Zürich ein politischer Wille, die Quote der Mittelschüler ungefähr
konstant zu halten, die derzeit im Langgymnasium bei 13 Prozent und insgesamt bei knapp 20 Prozent liegt. Eine offizielle Weisung dazu
existiert laut Zimmermann zwar nicht. Von einer Zulassungsbeschränkung will
offensichtlich niemand sprechen, weil das politisch ein heisses Eisen wäre. Die
bestehende Quote habe sich aber bewährt, sagt Zimmermann, die Kantonsschulen
könnten ihre Maturanden mit gutem Gewissen an die Hochschulen schicken.
Das
Dilemma mit den «korrekten» Noten
In
diesem System geraten Lucas Lehrerin und alle anderen, die jene Noten verteilen
möchten, die sie als korrekt erachten, in ein Dilemma. Sie müssen davon
ausgehen, dass dieMittelschulen annehmen, ihre Zeugnisnoten
seien grosszügig aufgerundet, und dass sie dies zu korrigieren versuchen.
Bleibt ihnen dann etwas anderes übrig, als selbst genauso aufzurunden, wie man
es von ihnen erwartet? Müssen sie das nicht tun, um zu gewährleisten, dass ihre
Schüler in der Aufnahmeprüfung die gleichen Chancen haben wie jene von anderen
Lehrern?
Martin Zimmermann gibt
den Primarlehrerinnen und -lehrern einen Rat, der verschiedene Interpretationen
zulässt: «Sie sollten jene Noten geben, die sie für korrekt halten.» Darüber
hinaus verweist er genau wie Mittelschulamtschef Marc Kummer darauf, dass das
System durchlässig ist – «auch wenn das für Eltern in dieser Situation nach
einem schwachen Trost klingen mag». Will heissen: Schülerinnen und Schüler
haben immer noch die Chance, aus der Sekundarschule ans Gymi aufzusteigen, wenn
sie das Potenzial dazu haben, aber wegen einer strengen Erfahrungsnote die
Prüfung nicht schafften.
Trotzdem
sind Erfahrungsnoten verlässlich
Der Bildungsforscher Urs
Moser weist darauf hin, dass die Erfahrungsnoten grundsätzlich besser seien als
ihr Ruf. Er spricht von einer «erstaunlichen Standardisierung» der Noten am
Ende der sechsten Klasse: Kinder mit guten Erfahrungsnoten schneiden meist auch
in der Aufnahmeprüfung gut ab. Allerdings zeigen die Daten auch, dass jedes
Vierte mit Erfahrungsnote 5 die Probezeit am Gymi nicht besteht. Wer gemäss
Zeugnis gut ist, ist also oft nicht gut genug.
ZKM-Präsident Huwyler
fände es hilfreich, wenn die Bildungsdirektion beide Seiten darauf hinweisen
würde, dass sie faire Noten setzen sollten. Einen anderen Ausweg sieht er
nicht. Zimmermann sagt, dass es das perfekte System nun mal nicht gebe. «Es
gibt in der Schweiz verschiedene Aufnahmeverfahren, und jedes hat seine
Graubereiche.»
Lucas Lehrerin hat ihre
Konsequenzen gezogen: In Absprache mit der Schulleitung rundete sie die Note in
Mathematik grosszügig auf. Sie tat es mit gemischten Gefühlen. Was soll sie
antworten, wenn Lucas schulisch ebenbürtige Kollegen, die nicht an die
Gymiprüfung gehen, ihre Zeugnisse vergleichen und fragen, weshalb sie anders
als Luca nur eine 4,5 bekommen haben?
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