Die Schweizer Wirtschaft hat ein Problem. Ihr fehlen zunehmend
die Fachkräfte im Mint-Bereich, also in Mathematik, Informatik,
Naturwissenschaften und Technik. Nur wenige junge Menschen in der Schweiz
wählen eine entsprechende Ausbildung. Wieso?
Die Akademien der Wissenschaften Schweiz sehen einen Grund im
Matheunterricht: «Wer schlechte Noten in Mathematik aufweist, wagt sich kaum an
ein Studium in Physik oder Ingenieurwissenschaften», halten sie in einer breit
angelegten Studie fest. Gemäss dem «Mint-Nachwuchsbarometer» sind die
Leistungen von Gymnasiastinnen und Gymnasiasten in Mathe deutlich häufiger
ungenügend als in anderen Fächern. «Nur in der zweiten Landessprache erhalten
die Knaben noch mehr ungenügende Noten; die Mädchen in keinem anderen Fach.»
Grafik: Berner Zeitung
Warum Mathematik zum Hassfach wird, Berner Zeitung, 5.2. von Mirjam Comtesse
Vergällt die Notengebung vielen Schülern die Mathematik,
entmutigt sie die Schüler? «Ja, ich kann das bestätigen», sagt Beat Wälti. Er
ist Dozent an der Pädagogischen Hochschule Bern und unterrichtet dort angehende
Mathelehrer für die Sekundarstufe I. «Stellen Sie sich vor, Sie schreiben einen
Aufsatz, der am Ende einfach falsch ist – undenkbar.»
Im Matheunterricht sollte seiner Meinung nach ebenso wichtig wie
das Resultat sein, dass die Schüler lernen, entscheidende Fragen zu stellen. Er
betont, dass die Lehrer über viel Macht verfügen, weil sie Schülern, die Mühe
haben, sich die mathematische Denkweise und Sprache anzueignen, das Gefühl
geben können, sie seien dumm.
Wälti hat ein Projekt mit drei Sekundar- und drei Realklassen
durchgeführt, in denen die Matheschüler weitgehend ohne Noten beurteilt wurden.
Im Fokus stand die Arbeit während des Unterrichts: Welche Fragen die
Jugendlichen stellten, wie sie sich auf Aufgaben einliessen, wie sie
Vermutungen anstellten, Lösungen abwogen und schliesslich darstellten. Das
Resultat: Die Klassen zeigten auch in Tests überdurchschnittliche Leistungen.
«Aber für die Lehrer ist diese Art von Unterricht natürlich anspruchsvoll»,
meint Wälti.
Leistungen sehr verschieden
Norbert Hungerbühler, Mathematikprofessor an der ETH Zürich,
wehrt sich dagegen, den Lehrern pauschal den Schwarzen Peter zuzuschieben. «In
der Mathematik gibt es eine grosse Leistungsstreuung», erklärt er. «Wenn fünf
Schüler in einer Klasse regelmässig die Note 6 erhalten und fünf regelmässig
ungenügend sind, stellt dies eine enorme didaktische und pädagogische
Herausforderung dar.» Ein Lehrer könne auch nicht einfach die Notenskala
anheben, um das Problem ungenügender Leistungen zu lösen.
Er gibt auch zu bedenken, dass jene, die auf keinen grünen Zweig
kommen, über ihren Unmut lauter reden als die vielen guten Schüler über ihre
Begeisterung. Dies führe in unserer Gesellschaft zum falschen Eindruck,
Mathematik sei unbeliebt.
Erst ab der Sek unbeliebt
Sicher ist: In der Primarschule mögen die meisten Jungen und
Mädchen Mathematik. «Die Abneigung beginnt erst in der Phase der Selektion»,
sagt Franco Caluori. Er ist Professor für Mathematikdidaktik an der
Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz (PH FHNW). «Wer in Mathematik
scheitert, kann oft gewisse Schulen nicht besuchen und einen gewünschten
Ausbildungsweg nicht beschreiten.
Das löst Stress aus und tötet die Lust am Fach.» Im Kanton
Aargau nähmen über 50 Prozent der Kinder in dieser entscheidenden Phase
Mathenachhilfe. «Noch schlimmer wird die Abneigung gegenüber Mathematik in der
Sek II», hält Caluori fest.
Es geht uns zu gut
Trotz all dieser Hürden: Gemäss dem Mint-Nachwuchsbarometer
erachten die befragten Schüler, Studenten und Erwerbstätigen Mathematik und
Naturwissenschaften als wichtig. Wieso entscheiden sich trotzdem nur wenige für
einen Beruf in diesem Bereich? Die Art des Unterrichts vermag dieses Phänomen
nur zum Teil zu erklären. Immerhin wird etwa in osteuropäischen Ländern kaum
innovativer gelehrt als bei uns, trotzdem gibt es prozentual mehr Ingenieure
und Mathematiker.
Die möglichen Antworten sind wenig schmeichelhaft. Franco
Caluori meint: «Wenn Sie Kunst oder Pädagogik studieren, können Sie in einem
Seminar jederzeit mitreden, auch wenn sie wenig oder überhaupt nicht
vorbereitet sind. Aber wenn Sie in einem mathematischen Seminar sitzen und
schlecht vorbereitet sind, dann blamieren Sie sich, wenn Sie den Mund
aufmachen.» Physik, Chemie, Mathematik – diese Fächer seien anstrengend.
Norbert Hungerbühler verweist in diesem Zusammenhang auf die
internationale Rose-Studie (The Relevance ofScience Education). Diese zeigt,
dass das Interesse von Jugendlichen, einen Beruf im Bereich Technik oder
Naturwissenschaften zu ergreifen, abnimmt, je höher der Wohlstand in einem Land
ist. Mit anderen Worten: Unsere Gesellschaft ist so saturiert, dass viele allzu
grosse Anstrengungen lieber meiden.
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