1. Oktober 2014

Was die Schule erreichen muss

Ein Maturand schreibt mir: “Kannst du mich am Bahnhof hohlen?”. Wie schlimm ist es, wenn Jugendliche nach dem Gehör schreiben und sich nicht mehr an Regeln halten? Was ist wichtiger: der Inhalt oder die sprachliche Form? (uk)




Könnte es sein, dass individualisierter Unterricht und Computer nicht die Lösung sondern das Problem sind? Bild: Merkur online

Was die Schule erreichen muss, Südostschweiz-Blog, von Urs Kalberer, 1.10.


In jüngster Zeit erlebten wir in der Schule die grosse Gegenbewegung zu der als zu formalistisch kritisierten Ära der Vorherrschaft der Rechtschreibung über den Inhalt. Deutschnoten wurden nämlich zu einem beträchtlichen Teil von der Fähigkeit, korrekt zu schreiben, bestimmt. Heute werden Fehler nicht mehr als so schlimm betrachtet, Hauptsache die Kinder können sich ausdrücken und sich verständigen. Der Inhalt drängt sich vor die formale Korrektheit – auch wenn man nichts zu sagen hat. So entsteht dann warme Luft gespickt mit Fehlern. Dabei geht leicht vergessen, dass auch die Form Inhalte transportieren kann. Wie im Leben gilt auch für die Sprache, dass manchmal die Verpackung sogar wichtiger als der Inhalt ist.

Seit Generationen beklagen sich Lehrer über die schlechten Kenntnisse ihrer Schüler in der Rechtschreibung. Das ist nichts Neues. Wenn man der Gesellschaft für deutsche Sprache glauben will, dann haben sich die Rechtschreibkenntnisse der Bevölkerung in den letzten 20 Jahren nicht verschlechtert. Wörter wie ‚Lebensstandard‘ oder ‚Rhythmus‘ konnten sowohl früher wie heute nur von einer Minderheit korrekt geschrieben werden. Wenn sich die Rechtschreibung also nicht verschlechtert hat, muss allerdings festgestellt werden, dass sie sich auch nicht verbessert hat. Angesichts der Explosion der höheren Bildungsabschlüsse hätte man eigentlich etwas anderes erwarten dürfen.

Eines ist klar: Die Rechtschreibereform zu Beginn des Jahrhunderts hat nicht geholfen. Sie legte den Grundstein für eine Beliebigkeit, die zu Unsicherheit und schliesslich zu Gleichgültigkeit führte. Noch immer unklar sind beispielsweise die Kommasetzung, die Getrennt- und Zusammenschreibung oder die Worttrennung am Zeilenende. Wenn selbst Zeitungen sich für unterschiedliche Regeln entscheiden, wo sollen denn wir Normalbürger uns noch orientieren?

Doch das ganze Elend nur mit der gescheiterten Rechtschreibereform zu erklären, greift zu kurz. Der anfangs erwähnte Fehler ist bei allen Varianten der Rechtschreibung falsch. Mittlerweile spricht man sogar an den Universitäten von einem „Sprachnotstand“. Studenten können nicht mehr genau formulieren, Abschlussarbeiten zeigen grosse Mängel an sprachlicher Ausdruckfähigkeit, gepaart mit zahllosen plumpen Rechtschreibefehlern.

Regeln schränken die sprachliche Bewegungsfreiheit zwar ein, doch geben sie gleichzeitig Stütze und Sicherheit. Wer mal den Unterschied zwischen ‚das‘ und ‚dass‘ begriffen hat, nutzt die gewonnene Sicherheit für präzisiere Konstruktionen. Dass jeder fünfte Schüler am Ende der obligatorischen Schulzeit weder lesen noch schreiben kann, ist nicht nur ein bildungspolitischer, sondern auch ein sozialpolitischer Skandal. Und der geht nach der Schule weiter: In der Schweiz haben laut der internationalen ALL-Erhebung (Adult Literacy and Lifeskills) rund 800‘000 Erwachsene Probleme mit der Alltagssprache. Sie können nicht (richtig) lesen oder schreiben.

Wo liegen die Ursachen? Bisher wurde versucht, der grassierenden Rechtschreibeschwäche mit individualisierter Didaktik, neuen Unterrichtsmethoden, noch mehr Fehlertoleranz und dem Einbezug von Laptops und Tablets zu begegnen. Dass es gerade diese Massnahmen sind, welche die Probleme mitverursacht haben könnten, darauf kommen die wenigsten. Der beste Rechtschreibeprüfer ist nutzlos, wenn man Grundsätzliches nicht beherrscht.


Wir stehen an einem entscheidenden Punkt: Die Schule muss den Schülern rechnen, lesen und schreiben beibringen. Wir dürfen es nicht zulassen, dass ein beträchtlicher Teil unserer Jugend die Schule ohne solide Kenntnisse in diesen drei Kulturtechniken verlässt. Das ist das Minimalziel, das wir in der Schule zu erfüllen haben. Dafür müssen wir kämpfen, dafür müssen wir (endlich) Prioritäten setzen. 

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