Ein Maturand schreibt mir: “Kannst du mich am Bahnhof hohlen?”. Wie
schlimm ist es, wenn Jugendliche nach dem Gehör schreiben und sich nicht mehr
an Regeln halten? Was ist wichtiger: der Inhalt oder die sprachliche Form? (uk)
In jüngster Zeit erlebten wir in der Schule die grosse Gegenbewegung zu
der als zu formalistisch kritisierten Ära der Vorherrschaft der Rechtschreibung
über den Inhalt. Deutschnoten wurden nämlich zu einem beträchtlichen Teil von
der Fähigkeit, korrekt zu schreiben, bestimmt. Heute werden Fehler nicht mehr
als so schlimm betrachtet, Hauptsache die Kinder können sich ausdrücken und
sich verständigen. Der Inhalt drängt sich vor die formale Korrektheit – auch
wenn man nichts zu sagen hat. So entsteht dann warme Luft gespickt mit Fehlern.
Dabei geht leicht vergessen, dass auch die Form Inhalte transportieren kann. Wie
im Leben gilt auch für die Sprache, dass manchmal die Verpackung sogar
wichtiger als der Inhalt ist.
Seit Generationen beklagen sich Lehrer über die schlechten Kenntnisse
ihrer Schüler in der Rechtschreibung. Das ist nichts Neues. Wenn man der
Gesellschaft für deutsche Sprache glauben will, dann haben sich die
Rechtschreibkenntnisse der Bevölkerung in den letzten 20 Jahren nicht
verschlechtert. Wörter wie ‚Lebensstandard‘ oder ‚Rhythmus‘ konnten sowohl
früher wie heute nur von einer Minderheit korrekt geschrieben werden. Wenn sich
die Rechtschreibung also nicht verschlechtert hat, muss allerdings festgestellt
werden, dass sie sich auch nicht verbessert hat. Angesichts der Explosion der
höheren Bildungsabschlüsse hätte man eigentlich etwas anderes erwarten dürfen.
Eines ist klar: Die Rechtschreibereform zu Beginn des Jahrhunderts hat
nicht geholfen. Sie legte den Grundstein für eine Beliebigkeit, die zu
Unsicherheit und schliesslich zu Gleichgültigkeit führte. Noch immer unklar sind
beispielsweise die Kommasetzung, die Getrennt- und Zusammenschreibung oder die
Worttrennung am Zeilenende. Wenn selbst Zeitungen sich für unterschiedliche
Regeln entscheiden, wo sollen denn wir Normalbürger uns noch orientieren?
Doch das ganze Elend nur mit der gescheiterten Rechtschreibereform zu
erklären, greift zu kurz. Der anfangs erwähnte Fehler ist bei allen Varianten
der Rechtschreibung falsch. Mittlerweile spricht man sogar an den Universitäten
von einem „Sprachnotstand“. Studenten können nicht mehr genau formulieren,
Abschlussarbeiten zeigen grosse Mängel an sprachlicher Ausdruckfähigkeit,
gepaart mit zahllosen plumpen Rechtschreibefehlern.
Regeln schränken die sprachliche Bewegungsfreiheit zwar ein, doch geben
sie gleichzeitig Stütze und Sicherheit. Wer mal den Unterschied zwischen ‚das‘
und ‚dass‘ begriffen hat, nutzt die gewonnene Sicherheit für präzisiere
Konstruktionen. Dass jeder fünfte Schüler am Ende der obligatorischen Schulzeit
weder lesen noch schreiben kann, ist nicht nur ein bildungspolitischer, sondern
auch ein sozialpolitischer Skandal. Und der geht nach der Schule weiter: In der
Schweiz haben laut der internationalen ALL-Erhebung (Adult Literacy and Lifeskills) rund 800‘000
Erwachsene Probleme mit der Alltagssprache. Sie können nicht (richtig) lesen
oder schreiben.
Wo liegen die Ursachen? Bisher wurde versucht, der grassierenden
Rechtschreibeschwäche mit individualisierter Didaktik, neuen Unterrichtsmethoden,
noch mehr Fehlertoleranz und dem Einbezug von Laptops und Tablets zu begegnen.
Dass es gerade diese Massnahmen sind, welche die Probleme mitverursacht haben
könnten, darauf kommen die wenigsten. Der beste Rechtschreibeprüfer ist
nutzlos, wenn man Grundsätzliches nicht beherrscht.
Wir stehen an einem entscheidenden Punkt: Die Schule muss den Schülern
rechnen, lesen und schreiben beibringen. Wir dürfen es nicht zulassen, dass ein
beträchtlicher Teil unserer Jugend die Schule ohne solide Kenntnisse in diesen
drei Kulturtechniken verlässt. Das ist das Minimalziel, das wir in der Schule zu
erfüllen haben. Dafür müssen wir kämpfen, dafür müssen wir (endlich)
Prioritäten setzen.
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