Nach drei Wochen Deutsch lieben die Schüler den Unterricht, weil er spielerisch ist, Bild: Frank Mentha
Le Schulbesuch, Tages Anzeiger, 2.10. von Janine Hosp und Mirjam Fuchs
Noch lieben die achtjährigen Schüler und Schülerinnen im Genfer
Schulhaus Geisendorf den Deutschunterricht – weil er spielerisch ist.
Die geschmeidige Stimme aus dem Lautsprecher sagt:
«Das ist Deutsch. Lektion 1.» Ein Schüler hat seinen Kopf auf die Tischplatte
gelegt, die Augen geschlossen, ein anderer sitzt zusammengesunken auf seinem
Stuhl, der Rest der Klasse hält sich mehr oder weniger aufrecht. Es ist
Montagmorgen, Schulhaus Geisendorf, Genf. Erst vor drei Wochen haben die
Schülerinnen und Schüler begonnen, Deutsch zu lernen. Sie sind acht Jahre alt,
besuchen aber bereits die 5. Klasse, da sie schon als Vierjährige eingeschult
wurden.
Nun, zu Beginn der vierten Woche, nennt der Lehrer
eine Zahl, die Kinder müssen entsprechend viele Finger hochhalten. Fünf, drei,
sieben – einige Kinder schielen auf die Hand des Nachbarn und wechseln rasch
die Finger. Vier, sechs, neun, drei – das Tempo steigt, Leben kommt in die
Füsse unter den Stühlen, die blauen, pink, gestreiften und glitzernden
Turnschuhe beginnen zu wippen und zu treten, und spätestens als der Lehrer sich
wie eine Hexe auf einen Besen setzt und dazu rezitiert «fünf, sechs, alte Hex»,
sind alle Kinder wach. Bei jeder Frage stechen nun 18 durchgestreckte
Zeigefinger in die Luft.
«Sie lieben Deutsch», sagt ihr Lehrer Bernard
Lambelet. Weshalb? Wegen der Spiele, sagt Leticia, wegen der Musik, meint
Julia. Und weil Deutsch etwas Neues für sie ist, fügt ihr Lehrer an. Sie
liebten alles, was neu sei. Die ersten beiden Jahre nähern sie sich der
deutschen Sprache spielerisch an. Aber sobald sie die Grammatik lernen müssen,
der spielerische Ansatz aus dem Unterricht verschwindet, schwindet auch die
Begeisterung. Die Satzstellung bereitet ihnen Mühe, Dativ und Akkusativ sowie
alle Endungen. Dennoch spricht hier niemand davon, dass die Schüler mit Deutsch
und Englisch überfordert sind; Englisch kommt in der 7. Klasse hinzu. Lambelet
erklärt sich das damit, dass die Deutschschweizer Schüler im Grunde noch eine
Sprache mehr lernen müssen – das Hochdeutsche.
Die meisten Eltern können ihren Kindern beim
Deutsch nicht helfen – sie haben den früheren Deutschunterricht nicht in guter
Erinnerung, haben auch nicht viel gelernt, und die Sympathien liegen ohnehin
mehr beim Englischen. In Genf wird es öfter gesprochen als Deutsch. Dennoch
diskutiert die Lehrerschaft kaum darüber, erst Englisch zu lehren und dann
Deutsch – Deutsch ist die Sprache der Mehrheit im Land. So kam es nicht gut an,
dass die Kantone Thurgau und Nidwalden den Franzö-sischunterricht auf das 7.
Schuljahr hinausschoben. Man fühlte sich desavouiert.
Ein Thurgauer in Genf
Just als der Thurgauer Kantonsrat Mitte August
beschlossen hatte, dass künftig Französisch erst auf der Oberstufe gelehrt
wird, und die ganze Romandie in Aufruhr war, trat Samuel Oswald sein Praktikum
bei Bernard Lambelet an. Oswald ist angehender Primarlehrer aus dem Thurgau,
und so war es nicht unbedingt angenehm für ihn, als er im Lehrerzimmer als
Thurgauer vorgestellt wurde. Wie er sagt, sind noch etwa zehn weitere
Studienkollegen von ihm in Genf, und vor allem jene, die voll auf Französisch
setzen und keinen Englischunterricht haben, sind ziemlich ratlos; entweder sie
holen Englisch auf irgendeine Weise nach, oder sie können keine Fremdsprache
unterrichten.
Die Schülerinnen und Schüler gehen von Tisch zu Tisch. Sie führen
Verkaufsgespräche: «Guten Morgen. Ich möchte eine Schokolade bitte», sagt die
Kundin. «Hier bitte», antwortet der Verkäufer und reicht ein Blatt Papier über
das Pult, auf das er eine Schokolade gemalt hat. «Das kostet 3 Franken.» Nach
drei Wochen sprechen die Kinder überraschend gut. Aber am Ende der Schulzeit,
so sagt ihr Lehrer Bernard Lambelet, sei das Ergebnis enttäuschend; es gelinge
nicht, die spielerisch erworbenen Deutschkenntnisse in die Sekundarschule
hinüberzuretten. Zudem empfänden es viele angehende Lehrer als Zwang, Deutsch
zu lernen und sie verreisten auch kaum für ein Praktikum in die Deutschschweiz.
So werde die Begeisterung für die Sprache nie geweckt – und die der Kinder
ebenso wenig.
Janine Hosp
Janine Hosp
Die Fünftklässler in einer Zürcher Primarklasse lernen gern Frühfranzösisch –
auch wenn ihnen die Sprache im Alltag kaum begegnet.
Der Besuch im Schulhaus Untermoos in
Zürich-Altstetten ist eine Zeitreise. «Bonjour la classe», sagt die Lehrerin
Irene Büttner. «Bonjour la classe» antworten die 19 Schülerinnen und Schüler
schüchtern. Dann erklingt «Salut, Ça Va» ab CD, und alle singen mit, erst
zaghaft, dann sicherer. Viel scheint sich in den 18 Jahren, die seit der
eigenen Primarschulzeit im Baselbiet vergangen sind, nicht verändert zu haben.
Nicht nur das Lied, auch das anschliessende Spiel kommt uns bekannt vor. «Dans
mon sac à dos, il y a une banane» sagt die Lehrerin und zeigt den elfjährigen
Kindern, die vor ihr im Kreis sitzen, eine angebräunte Banane, die sie soeben
aus ihrem Rucksack gezogen hat.
Eifrig benennen die Fünftklässler die Namen der
Gegenstände, die der Rucksack freigibt: «une règle», «un livre», «une cahier» –
«un cahier» korrigiert Frau Büttner, die Kinder repetieren folgsam. Seit über
drei Wochen lernt die Klasse Französisch, noch heisst das Lehrmittel «Envol»
und stammt aus dem Jahr 2000. Der Nachfolger erscheint erst Anfang 2017. Auf
den Pulten stehen Boxen mit Karteikärtchen, daneben liegen gelbe Blätter mit
französischen Wörtern in Schnürlischrift. «Das ist zum Wörtli-Lernen», erklärt
Denis*, der neben uns sitzt. Lernt er gern Französisch? «Ja schon. Aber ich mag
lieber Englisch, weil ich das besser kann. Ich war auch schon mal in
Australien», sagt er stolz.
Der Frühenglischunterricht beginnt im Kanton Zürich
bereits in der 2. Klasse. Der Einstieg ins Französische gelinge den
Schülerinnen und Schülern deshalb viel leichter, meint Irene Büttner. «Es ist
die zweite Fremdsprache, die sie lernen. Sie sind daher schon mit Lernmethoden
wie den Vokabelkärtchen, dem Nachsprechen oder der Partnerarbeit vertraut.» Die
30-jährige Lehrerin achtet bei der Planung der Lektionen darauf, der Klasse
viel Sprechzeit einzuräumen und den Frontalunterricht kurz zu halten. «Wir
haben wie im Englisch nur zwei Lektionen pro Woche. In den Partnerarbeiten
sollen die Schülerinnen und Schüler Schüchternheit abbauen und die Aussprache
üben.»
Für die meisten Schülerinnen und Schüler dieser 5. Klasse ist die Schule der
einzige Ort, wo sie mit Französisch in Kontakt kommen. Als wir in die Runde
fragen, wer zu Hause auf Französisch Bücher liest oder Filme schaut, heben nur
wenige die Hand. Es gibt zwar viele zweisprachige Kinder, die daheim Spanisch,
Serbisch, Italienisch oder Albanisch sprechen. Aber abgesehen von Shabani*, der
aus dem Kongo stammt, und Claude*, der Genfer Wurzeln hat, spricht niemand zu
Hause Französisch. Trotzdem gefällt den Kindern die Sprache: «Ich mag es bis
jetzt gut, aber ich habe gehört, dass die Rechtschreibung sehr schwer ist»,
sagt ein Knabe. «Ich fahre nach Frankreich in die Ferien und freue mich, dass
ich die Sprache dann brauchen kann», meint ein zweiter.
Doch lieber Englisch
Ganz anders sieht es mit Englisch aus: Da schnellen
alle Hände nach oben. «Ich schaue Filme auf Englisch mit meinem Vater.» «Ich
schaue auf Youtube Sportvideos, die auf Englisch kommentiert sind.» «Ich lese
Manga-Comics auf Englisch», erzählen die Kinder. Irene Büttner bestätigt:
«Englisch ist heute die Kommunikationssprache Nummer eins und spielt eine
wichtige Rolle im Alltag der Schülerinnen und Schüler.» Aber Französisch sei
mit Spanisch die zweithäufigste Sprache der Welt – und ausserdem eine
Landessprache. Die junge Lehrerin hat ihre Ausbildung in Baden-Württemberg
gemacht und den praktischen Teil im Waadtland absolviert. «Ich bin fasziniert
von der Sprache, und es macht Spass, meine Freude mit den Kindern zu teilen»,
sagt sie.
Die Begeisterung der Lehrerin für das Französische springt im Unterricht
auf die Kinder über. Eifrig beteiligen sie sich am Bilderquiz, bei dem sie
entscheiden müssen, welcher Gegenstand aus dem Rucksack fehlt. «Une gomme», «un
crayon», «une banane» – die Vokabeln kommen ihnen jetzt, am Ende der Stunde,
mühelos über die Lippen.
Mirjam Fuchs
Mirjam Fuchs
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