20. Oktober 2014

Arbeiten während der Schulzeit?

Der Ökonom Reiner Eichenberger macht sich Gedanken darüber, wie die Sozialhilfe für Teenager entlastet werden könnte. 




Einsätze in der Gastronomie oder Gartenarbeit, Bild: SRF

"Ausbildung und Arbeit könnten kombiniert werden", NZZ, 20.10. von Daniela Kuhn


Herr Eichenberger, es gibt in der Schweiz wieder genügend Lehrstellen, dennoch beziehen relativ viele Schulabgänger Sozialhilfe. Wie kommt das?
Die Gesamtsumme an Lehrstellen sagt nichts darüber, dass viele Jugendliche die für eine Lehrstelle erforderlichen Qualifikationen nicht mitbringen. Zudem berücksichtigt sie weder die grossen regionalen Unterschiede noch die Tatsache, dass manche Jugendliche zu Recht spezifische berufliche Vorstellungen haben, die sich nicht sofort umsetzen lassen. Überdies vernachlässigt sie auch die entwicklungspsychologische Situation.
Inwiefern?
Viele 16-Jährige haben grosse persönliche und familiäre Probleme. Für manche von ihnen ist es der falsche Moment, eine Lehrstelle zu finden. Doch diese schwierige Lebensphase geht vorbei. Die meisten «Problemjugendlichen» könnten dann auch beruflich ihren Weg finden. Die Sozialpolitik berücksichtigt diese biografischen Aspekte zu wenig.
Diese Probleme sind schon in der Schule sichtbar. Sollte hier mehr getan werden?
Es wird schon viel getan, aber es gibt noch fruchtbare Ansatzpunkte. Manche Schüler aus schwierigen Verhältnissen erleben die Schule tagtäglich als Frustration. Sie bekommen ständig zu hören, wie ungenügend ihre Leistung ist. Keinem Erwachsenen würde eine solche Situation zugemutet. Mitunter kommen noch unqualifizierte Lehrpersonen hinzu. Nicht alle, aber viele dieser Schüler würden neben der Schule gerne arbeiten. Ihnen sollte man dazu Möglichkeiten geben.
Wie stellen Sie sich das vor?
Ausbildung und Arbeit können kombiniert werden. In Entwicklungsländern werden mit Mischmodellen gute Erfahrungen gemacht. Ich könnte mir vorstellen, dass Schüler beispielsweise zwei Tage in der Woche in der Gastronomie oder in der Gartenarbeit Einsätze leisten könnten. Solche Einsätze würden das Selbstvertrauen stärken und erst noch einen kleinen Lohn einbringen. Die Schulzeit würde entsprechend länger, sie könnte ja auch in zwölf Jahren absolviert werden.
Arbeitgeber kalkulieren knallhart. IV-Bezüger sind fast nicht mehr ins Arbeitsleben zu integrieren. Wie sollten sich also Teilzeitarbeitsplätze für Jugendliche mit grossen Problemen finden lassen?
Wenn die Gesellschaft will, dass möglichst wenig junge Menschen in der Sozialhilfe enden, soll sie dafür bezahlen. Der Staat sollte den Arbeitgebern oder direkt an die Empfänger einen Lohnzuschuss geben, so dass die betroffenen Jungen angemessene, wenn auch niedrige Löhne erhalten. Im Vergleich zu den Kosten, die aus langfristiger Sozialhilfe entstehen, wäre die Finanzierung eines Mischmodells ein Klacks.
Und nach der verlängerten Schulzeit, wie würde es weitergehen?
Wenn ihre schwierige Phase vorbei ist, sollen diese jungen Leute eine zweite Chance erhalten, zum Beispiel mit Lehren für Erwachsene.
Könnten das auch Stipendien sein? Im Kanton Waadt läuft ein Projekt, bei dem Schulabgänger ohne Lehrstellen statt Sozialhilfe Stipendien erhalten.
Ich kenne das Modell nicht. Aber natürlich klingt Stipendien besser als Sozialhilfe. Vielleicht sind sie deshalb weniger stigmatisierend, aber gerade das würde die Eintrittsschwelle senken. So oder so: Die Anreize, zu arbeiten, sollten dadurch gestärkt werden, dass niemand mit Sozialhilfe mehr erhält als mit einem kleinen eigenen Verdienst. Das kann der Staat unterstützen, indem er Tieflohnbezügern für jeden selbstverdienten Franken eine Zulage bezahlt. In den USA wird das in Form des «Earned Income Tax Credit» praktiziert. Die Grundausstattung wird damit zwar tiefer, aber der Anreiz zur Arbeit und die Einkommen der Leistungsempfänger steigen.
Sie wünschen jungen Menschen also Arbeitsbedingungen in Niedriglohnsegmenten wie in den USA. Entspricht das einem modernen Verständnis von Sozialpolitik?
Natürlich wünsche ich mir nicht eine Einkommensverteilung wie in den USA. Aber: Viele unserer Sozialarbeiter und Linken haben ein Bild der US-Sozialpolitik, das bestenfalls aus den 1980er Jahren stammt. Seither haben die USA gerade bei der Sozialhilfe für Arbeitende grosse Innovationen wie eben den «Earned Income Tax Credit» eingeführt. Er ist eine fruchtbare Weiterentwicklung der negativen Einkommenssteuer.
Der junge Mann, den ich im Winterthurer Programm «Trampolin» getroffen habe, schämte sich dafür, Sozialhilfe zu beziehen. Meinen Sie, die Sozialhilfe sei für Jugendliche attraktiv?
Allzu viele junge Leute glauben, die Sozialhilfe sei sehr grosszügig. Deshalb müsste unbedingt völlige Klarheit über die tatsächlichen Zahlungen herrschen. Da sind die Politik und die Skos gefordert.
Und was denken Sie - sind Sie der Meinung, die Sozialhilfe sei in der Schweiz grosszügig?

Das hängt davon ab, wo jemand Sozialhilfe beantragt. Für viele Menschen ist die psychische Schwelle, Sozialhilfe zu beantragen, sehr hoch. Sie hätten zwar Anrecht auf Unterstützung, aber sie beziehen sie nicht. Unser Sozialhilfesystem überlebt nur, wenn das so bleibt.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen