6. August 2014

Volksschule im Würgegriff der Politik

Mehr Fremdsprachen? Mehr Mathematik? Der Lehrplan 21spaltet die Parteien mehr denn je.




Noch wissen Lehrer, Eltern und Schüler nicht, in welche Richtung es gehen soll, Bild: Keystone

Volksschule im Würgegriff der Politik, Basler Zeitung, 6.8. von Daniel Ballmer


Das süsse Nichtstun hat bald ein Ende. Bereits am Montag beginnt in vielen Kantonen wieder die Schule. Diese Gelegenheit für einen Weckruf wollte die SP gestern keinesfalls verpassen. Zwar sei die Volksschule Sache der Kantone, ihre verfassungsrechtlich vorgeschriebene Harmonisierung mache sie aber zum nationalen Politikum. Doch genau diese Harmonisierung drohe nun zu scheitern, warnte der Berner Nationalrat Matthias Aebischer vor den Medien. Der Präsident der Bildungskommission verwies auf Kräfte, die die Harmonisierung torpedierten. Dazu kämen Kantone, die just «in dieser heiklen Phase der Vereinheitlichung des Lehrplanes ihr Bildungsbudget kürzen».
Streit um zweite Landessprache
Tatsächlich ist von einer Harmonisierung immer weniger zu spüren. Für die SP etwa steht der Fremdsprachenunterricht an oberster Stelle. Das hat sie gestern mehrfach betont. Ein Abbau kommt für die Partei gar nicht infrage. «Zwei Fremdsprachen in der Primarschule sind bildungs- und gesellschaftspolitisch wichtig. Insbesondere ist das Erlernen einer zweiten Landes­sprache unverzichtbar», betonte der Walliser Nationalrat Mathias Reynard. Die SP will sich auf allen Ebenen dafür einsetzen – im Interesse der Kinder wie auch im Interesse des Landes. Für sie ist nicht nachvollziehbar, dass derzeit in mehreren Kantonen Bestrebungen im Gang sind, den eingeschlagenen Weg bei den Fremdsprachen wieder zu verlassen.
Zu den gescholtenen Kritikern zählt etwa die SVP. Statt auf zwei Fremdsprachen möchte sie mehr Gewicht auf die Grundfähigkeiten in Mathematik und Deutsch legen. Klagen von Lehrbetrieben seien alarmierend: Der Rucksack der Schulabgänger werde von Jahr zu Jahr kleiner. Als Grund nennt die SVP in einem Positionspapier den «frühen, mit zu vielen Stunden dotierten» Fremdsprachenunterricht. Er habe andere Fächer auf der Primarstufe in den Hintergrund gedrängt. Ein Land wie die Schweiz, dessen Wirtschaft hier grosse Forschungsplätze unterhält, könne sich eine Vernachlässigung naturwissenschaftlich-technischer Grundlagenausbildung aber nicht leisten. Für die SVP braucht es eine «rigorose Korrektur»: Naturwissenschaftliche Fächer müssten auf Kosten des Fremdsprachen-Unterrichts wieder aufge­wertet und mit deutlich mehr Lektionen dotiert werden.
Das Wirrwarr wächst
Jede der grossen Parteien hat wieder eine etwas andere Meinung, will die Schwerpunkte woanders setzen. Lehrer und Schüler wissen nicht, wie ihnen geschieht – und noch viel weniger, was sie dereinst tatsächlich erwarten wird. Bei dem bildungspolitischen Jekami wollen auch FDP und CVP die Naturwissenschaften und Technik stärker fördern. In der Volksschule hätten sie einen «bescheidenen Stellenwert», schreibt die CVP in ihrem Positionspapier. Gleichzeitig leide die Schweizer Volkswirtschaft an einem erheblichen Mangel an Arbeitskräften. Dabei weist die FDP auch auf das duale Bildungssystem als eine der Stärken der Schweiz hin.
Selbst für die Grünen ist ein früher Start mit mehreren Fremdsprachen «nicht dringend». Wichtig sei, dass am Ende der obligatorischen Schulzeit Standards in zwei Fremdsprachen erreicht werden. Die Grünen möchten lieber einen anderen Schwerpunkt setzen. Sie wünschen sich einen Ausbau im musisch-kreativen Bereich. So soll das Gleichgewicht zwischen kognitiver, kreativer, psychischer und sozialer Kompetenz erreicht werden. Ein Ansatz, der es wohl wiederum in bürgerlichen Reihen schwer haben dürfte. Das Wirrwarr jedenfalls wächst.
Mit dem Lehrplan 21 steht die wohl grösste und wichtigste Schulreform bevor. Schon im Mai 2006 hatte das Volk einen Verfassungsartikel angenommen, der die Schweiz als einheitlichen Bildungsraum definiert. Die Mammutaufgabe ist aber noch längst nicht bewältigt. Im Gegenteil: In den vergangenen Wochen ist die Kritik stark gewachsen. In mindestens sechs Kantonen soll das Volk aufgrund von Initiativen über die Einführung entscheiden. Offen bleibt, ob die angestrebte Harmonisierung doch noch erreicht werden kann oder ob es nach Annahmen der Initiativen beim föderalen Flickenteppich bleibt.
Es wäre nicht das erste Mal im Schweizer Bildungswesen: Wo über die Kantonsgrenzen hinweg Einheitlichkeit geschaffen werden soll, bleibt das Chaos meist genauso gross wie vorher.

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