Noch wissen Lehrer, Eltern und Schüler nicht, in welche Richtung es gehen soll, Bild: Keystone
Volksschule im Würgegriff der Politik, Basler Zeitung, 6.8. von Daniel Ballmer
Das süsse Nichtstun hat bald ein Ende. Bereits am Montag beginnt
in vielen Kantonen wieder die Schule. Diese Gelegenheit für einen Weckruf
wollte die SP gestern keinesfalls verpassen. Zwar sei die Volksschule Sache der
Kantone, ihre verfassungsrechtlich vorgeschriebene Harmonisierung mache sie
aber zum nationalen Politikum. Doch genau diese Harmonisierung drohe nun zu
scheitern, warnte der Berner Nationalrat Matthias Aebischer vor den Medien. Der
Präsident der Bildungskommission verwies auf Kräfte, die die Harmonisierung
torpedierten. Dazu kämen Kantone, die just «in dieser heiklen Phase der
Vereinheitlichung des Lehrplanes ihr Bildungsbudget kürzen».
Streit um zweite Landessprache
Tatsächlich
ist von einer Harmonisierung immer weniger zu spüren. Für die SP etwa steht der
Fremdsprachenunterricht an oberster Stelle. Das hat sie gestern mehrfach
betont. Ein Abbau kommt für die Partei gar nicht infrage. «Zwei Fremdsprachen
in der Primarschule sind bildungs- und gesellschaftspolitisch wichtig.
Insbesondere ist das Erlernen einer zweiten Landessprache unverzichtbar»,
betonte der Walliser Nationalrat Mathias Reynard. Die SP will sich auf allen
Ebenen dafür einsetzen – im Interesse der Kinder wie auch im Interesse des
Landes. Für sie ist nicht nachvollziehbar, dass derzeit in mehreren Kantonen
Bestrebungen im Gang sind, den eingeschlagenen Weg bei den Fremdsprachen wieder
zu verlassen.
Zu
den gescholtenen Kritikern zählt etwa die SVP. Statt auf zwei Fremdsprachen
möchte sie mehr Gewicht auf die Grundfähigkeiten in Mathematik und Deutsch
legen. Klagen von Lehrbetrieben seien alarmierend: Der Rucksack der
Schulabgänger werde von Jahr zu Jahr kleiner. Als Grund nennt die SVP in einem
Positionspapier den «frühen, mit zu vielen Stunden dotierten»
Fremdsprachenunterricht. Er habe andere Fächer auf der Primarstufe in den
Hintergrund gedrängt. Ein Land wie die Schweiz, dessen Wirtschaft hier grosse
Forschungsplätze unterhält, könne sich eine Vernachlässigung
naturwissenschaftlich-technischer Grundlagenausbildung aber nicht leisten. Für
die SVP braucht es eine «rigorose Korrektur»: Naturwissenschaftliche Fächer
müssten auf Kosten des Fremdsprachen-Unterrichts wieder aufgewertet und mit
deutlich mehr Lektionen dotiert werden.
Das Wirrwarr wächst
Jede
der grossen Parteien hat wieder eine etwas andere Meinung, will die
Schwerpunkte woanders setzen. Lehrer und Schüler wissen nicht, wie ihnen
geschieht – und noch viel weniger, was sie dereinst tatsächlich erwarten wird.
Bei dem bildungspolitischen Jekami wollen auch FDP und CVP die
Naturwissenschaften und Technik stärker fördern. In der Volksschule hätten sie
einen «bescheidenen Stellenwert», schreibt die CVP in ihrem Positionspapier.
Gleichzeitig leide die Schweizer Volkswirtschaft an einem erheblichen Mangel an
Arbeitskräften. Dabei weist die FDP auch auf das duale Bildungssystem als eine
der Stärken der Schweiz hin.
Selbst
für die Grünen ist ein früher Start mit mehreren Fremdsprachen «nicht
dringend». Wichtig sei, dass am Ende der obligatorischen Schulzeit Standards in
zwei Fremdsprachen erreicht werden. Die Grünen möchten lieber einen anderen
Schwerpunkt setzen. Sie wünschen sich einen Ausbau im musisch-kreativen Bereich.
So soll das Gleichgewicht zwischen kognitiver, kreativer, psychischer und
sozialer Kompetenz erreicht werden. Ein Ansatz, der es wohl wiederum in
bürgerlichen Reihen schwer haben dürfte. Das Wirrwarr jedenfalls wächst.
Mit
dem Lehrplan 21 steht die wohl grösste und wichtigste Schulreform bevor. Schon
im Mai 2006 hatte das Volk einen Verfassungsartikel angenommen, der die Schweiz
als einheitlichen Bildungsraum definiert. Die Mammutaufgabe ist aber noch
längst nicht bewältigt. Im Gegenteil: In den vergangenen Wochen ist die Kritik
stark gewachsen. In mindestens sechs Kantonen soll das Volk aufgrund von
Initiativen über die Einführung entscheiden. Offen bleibt, ob die angestrebte
Harmonisierung doch noch erreicht werden kann oder ob es nach Annahmen der
Initiativen beim föderalen Flickenteppich bleibt.
Es wäre nicht das
erste Mal im Schweizer Bildungswesen: Wo über die Kantonsgrenzen hinweg
Einheitlichkeit geschaffen werden soll, bleibt das Chaos meist genauso gross
wie vorher.
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