Forneck: Clou des selbstgesteuerten Lernens erkannt. Bild: FHNW
Professionalisierung statt Innovationsabstinenz, NZZ, 31.7. von Hermann Forneck
Roland Reichenbach
beklagt in der NZZ vom 26. 7. 14 einen pädagogischen Gottesdienst, dem die
Innovation «selbstgesteuertes Lernen» entstamme. Das kulturelle «Mantra» habe
die Tendenz, alles, was vom Selbst komme, positiv zu bewerten. Deshalb will
Reichenbach der Schule die Selbststeuerung des Lernens austreiben und macht
sich für den lehrerzentrierten Unterricht stark. Seine polemische Zuspitzung
führt aber in die falsche Richtung, weil der eigentliche Clou des
selbstgesteuerten Lernens von ihm verkannt wird.
Wie angemessen ist der
Begriff?
War im 19.
Jahrhundert die Schule die zentrale Institution des kanonisierten und
systematisierten Zugangs zum Wissen, so hat sie seit einigen Jahrzehnten diese
Funktion weitgehend verloren. Der Lehrervortrag im 19. und in der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts, also der lehrerzentrierte Unterricht, verband die
Kenntnisnahme von etwas Unbekanntem mit der vertieften Beschäftigung mit einer
Sache. Schüler benötigen heute keinen Lehrervortrag, wenn es um Tiere in Afrika
geht. Sie haben in ihrer Lebenswelt durch die Revolutionierung der medialen
Repräsentation der Wirklichkeit immer schon einen Zugang zum Wissen, wie
afrikanische Tiere aussehen, wie sie klassifiziert sind usw. Was Schule heute
vielmehr leisten muss, ist, anzuleiten, diesem meist zusammenhanglosen,
unsystematischen Wissen einen sowohl persönlich als auch gesellschaftlich
bedeutungsvollen Zusammenhang zu geben. Im Zuge dieser Funktion sollen
Lehrpersonen von einfachen Wissensvermittlungs-Funktionen entlastet werden.
Zugleich sollen sie dadurch frei werden, «höherwertige» lerndiagnostische,
lernfördernde und unterstützende Aufgaben zu übernehmen. Die Steuerungsfunktion
der Lehrperson wird im selbstgesteuerten Lernen bezüglich der stofflichen
Vermittlung auf apersonale Medien übertragen, und die Einflussnahme auf den
Lernprozess wird intensiviert. Die erziehungswissenschaftlichen und
fachdidaktischen Bemühungen zur Entwicklung selbstgesteuerten Lernens zielen
also auf eine qualitative Aufwertung der professionellen Tätigkeit der Lehrpersonen,
die durch einen Funktionswechsel der öffentlichen Schule notwendig wird.
Im Zuge dieser
Funktionsverlagerung kommt es nicht zu einem Zurückdrängen der Didaktik,
sondern zu einem Bedeutungsgewinn der didaktischen Aufbereitung von
Lernmaterialien, bis hin zu wohldurchdachten Lernarchitekturen. Lernmaterialien
können didaktisch und methodisch sehr sorgfältig und für unterschiedlich
lernende Schüler entwickelt werden. Solche Lernmaterialien enthalten für
Lehrpersonen Hintergrundanalysen über zu erwartende Lernschwierigkeiten,
diagnostische Hilfsmittel und ausgearbeitete Fördermassnahmen mit Lernaufgaben.
Zugleich wird der Lehrer vom Frontalunterricht entlastet und kann sehr intensiv
das individuelle Lernen befördern, was fördern und fordern, verbindliches
Einhalten von Abmachungen, individuelle Hilfestellungen, qualitative Bewertung
des Lernergebnisses einschliesst.
Innovation und
Bildungssystem
Das Lehr- und
Lerngeschehen ist also auf einem ganz anderen Niveau realisierbar, als dies der
«lehrerzentrierte Unterricht» vermag. Man darf also nicht der begrifflichen
Oberfläche selbstgesteuertes Lernen aufsitzen, denn bei einem analytischen
Blick verbirgt sich hinter der Vokabel der Selbststeuerung eine qualitative
Verbesserung von Lehr- und Lernprozessen und kein pädagogisches Mantra.
Zu einem wesentlichen Bereich der Forschung und Entwicklung
pädagogischer Hochschulen gehört die Entwicklung des oben angedeuteten
Lernmaterials, der pädagogischen Diagnostik und der Förderungsoptionen. Auf
dieser Ebene erfüllen sie einen wesentlichen Beitrag zu einer praktisch
bedeutsamen Entwicklungs- und empirischen Forschungsarbeit, die nachhaltig
unsere Schulen verbessern hilft. So hat das Bildungssystem eine reelle Chance,
sich von pädagogischen Glaubenskriegen fernzuhalten. Analytisch geht diese
Forschung und Entwicklung von der Einsicht aus, dass es nicht pädagogische
Begriffe sind, die pädagogische Wirkungen prägen, sondern dass analytisch
durchdrungene und empirisch auf ihre Wirkungen geprüfte Konzepte auch seriös
umgesetzt werden müssen, um erfolgreich sein zu können. Dann aber wird die
Innovationskritik Reichenbachs und ihre falsche Alternative, die Wahl zwischen
einem monatlichen oder einem hundertjährigen Innovationszyklus, inhaltlich
wenig überzeugend. Vielmehr stehen wir vor der Alternative, ob wir genügend
empirisch abgestütztes Wissen, sorgfältig entwickeltes Material und
didaktisches Know-how haben, um eine sinnvolle Entwicklung zu wagen, oder ob
wir, angesichts des Fehlens dieser Voraussetzungen, eine Innovation noch nicht
umsetzen. In Letzterem, nämlich der Einführung von pädagogischen Innovationen,
für die wir die Erfolgsbedingungen noch nicht geschaffen haben, liegt die
Problematik vieler gegenwärtiger Innovationen. Die zukunftsweisende Perspektive
liegt nicht in einer Innovationsabstinenz, sondern in einer
Professionalisierung des schulischen Wandels.
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