Krautz: "Das Mantra vom Segen der Akademisierung ist noch lange nicht verstummt", Bild: Bergische Universität Wuppertal
"Mit den Kompetenzen sinkt das Bildungsniveau", NZZ, 14.7. von Claudia Wirz
Herr Prof. Krautz, Sie sind
gegen Kompetenzen als pädagogisches Konzept. Machen Kompetenzen denn dumm?
Ja, weil durch sie die
Bildung abhandenkommt. Die Kompetenzorientierung vernachlässigt Fachinhalte und
würdigt sie zu reinen Trainingsobjekten herab. Ob Lesekompetenz anhand des
«Faust» oder der Handy-Gebrauchsanweisung erlangt wird, ist dem
kompetenzorientierten System egal. Damit gehen Bildungsinhalte schlicht verloren.
Was sind «Kompetenzen»
überhaupt?
Der Begriff «Kompetenz»
geht auf den Kognitionspsychologen Franz Weinert zurück und ist im
Alltagsverständnis positiv besetzt. Wer will schon einen inkompetenten
Heizungsmonteur? Allerdings beschreibt Kompetenz im schulischen Zusammenhang
eine innere, weder sicht- noch messbare Voraussetzung, etwas zu tun. Der
Fachinhalt ist dafür zweitrangig.
Kompetenzen ohne Bildung -
geht das?
Ja, leider, weil man
Kompetenzen auch ohne Inhalte trainieren kann. Bildung ist etwas anderes. Der
sich Bildende sucht die Auseinandersetzung mit dem Fachinhalt, will den Inhalt
verstehen, Zusammenhänge erkennen und Neuland entdecken. Kurz - er denkt
selber. Das selbständige Denken wird durch Kompetenzen aber weniger gefördert.
Hier geht es vielmehr um Anpassung und trainierbare Fertigkeiten.
Sie kritisieren, dass der
Nutzen der Kompetenzorientierung nicht erwiesen sei. Aber ist es denn der
Schaden?
Es gibt keinen
wissenschaftlich validen Konsens zum Kompetenzbegriff. Das Kompetenzsystem ist
ein Konstrukt der OECD. Trotzdem hält die OECD daran fest. Dabei müssten die
Reformer zuerst einmal beweisen, dass dieses neue System tatsächlich besser ist
als das alte. Diesen Beweis gibt es aber nicht. Man darf in der Pädagogik nicht
einfach etwas ausprobieren, denn damit verbaut man möglicherweise ganzen
Generationen von Schülern die Lebenschancen. Die Kompetenzorientierung bringt
faktisch eine Absenkung des Bildungsniveaus.
Aber auch mehr
Gerechtigkeit?
Das halte ich für reine
Rhetorik, denn dafür gibt es keinerlei Beweise. Klar, es gibt mehr Abschlüsse.
Mehr Abschlüsse bei sinkendem Niveau - das hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun.
Gibt es eine Bildungsblase?
Ja. Wir provozieren
tatsächlich eine Inflation bei den akademischen Abschlüssen. Das Ganze geht auf
die These zurück, dass mehr Akademiker auch mehr Wohlstand bedeuten. Diese
These ist aber ebenfalls nicht belegt, ganz im Gegenteil. Die Schweiz und auch
Deutschland mit dem dualen Berufsbildungssystem und der vergleichsweise tiefen
Jugendarbeitslosigkeit sind der lebendige Gegenbeweis. Das nimmt man
mittlerweile vereinzelt sogar in der OECD zur Kenntnis. Aber das Mantra vom
Segen der Akademisierung ist noch lange nicht verstummt.
Warum hat die OECD
überhaupt eine solche Macht über die nationalen Bildungssysteme?
Die OECD liefert eigentlich
vergleichende Wirtschaftsdaten. Aber sie hat sich schon in den 1960er Jahren
der Bildungspolitik angenommen. Ihr Ziel ist eine Vereinheitlichung des
Bildungswesens in der ganzen OECD, der Abbau lokaler und nationaler Traditionen
und klassischer Inhalte zugunsten der Standardisierung und Vergleichbarkeit.
Dahinter steckt ein ökonomistischer, neoliberaler Glaube. Der Pisa-Test ist das
Kind dieses Denkens. Der angeblich neutrale Pisa-Test führt zu einem völlig
neuen Begriff von Bildung: Es geht nicht um Wissen, sondern um die Fähigkeit,
sich anzupassen. Das steht im krassen Widerspruch zu allem, was die alte
Bildungstradition ausmacht. Komplette Anpassung war nie ihr Ziel.
Ist das gefährlich?
Ich halte diese Entwicklung
für sehr bedenklich. Man muss den jungen Leuten beibringen, selbständig zu
denken und nicht nur äusserlich zu funktionieren. Für die Demokratie ist diese
Entwicklung hochgefährlich. Kulturell ist sie verheerend. Und für die Wirtschaft
ist sie riskant, weil Können und Wissen verloren gehen. Dieses System erzeugt
Menschen, die zwar nach Richtlinien arbeiten können, aber keinen Bezug zu ihrer
Arbeit haben. Schulzimmer werden heute zum Teil gestaltet wie Grossraumbüros,
und im «selbstorganisierten Lernen» arbeitet man an seiner «Sozialkompetenz»
und «Teamfähigkeit». Als durchgängiges pädagogisches Modell funktioniert das
nicht. Lernen ist und bleibt ein Beziehungsgeschehen zwischen Lehrer und
Schülern und der gemeinsamen Sache.
Kann man diese Entwicklung
überhaupt noch aufhalten?
Das ist eine Frage des
politischen Willens. Es braucht eine öffentliche Debatte dazu. Ich bin durchaus
optimistisch, denn es wird in letzter Zeit viel gesprochen über Kompetenzen,
auch durchaus kritisch. Die ganze Sache ist keineswegs unumstritten. Aber man
muss diesen Diskurs auch wollen. Hier sind gerade in der Schweiz mit ihrer
direktdemokratischen Kultur die Politik und auch die Eltern gefragt. Sie sollen
mit den Schulen und in der Öffentlichkeit den Diskurs führen und wo möglich
Abstimmungen provozieren. Denn das Bildungsverständnis der OECD ist am Volk
vorbei eingeführt worden. Dagegen kann man sich wehren.
Soll man den Pisa-Test
abschaffen?
Ja. Denn wir verlieren
dabei nichts und gewinnen viel. Das Geld für die Pisa-Tests könnte man im
Bildungsbereich besser investieren.
Latein muss man noch
richtig büffeln, um es zu verstehen. War die Abschaffung des obligatorischen
Latinums das Ende einer echten europäischen Bildungsbeflissenheit?
Sie sprechen mit einem
ehemaligen Lateinlehrer. Leider kann man heute auch Latein kompetenzorientiert
unterrichten und prüfen. Aber grundsätzlich hat Latein eine sprachliche
Struktur, die sich gegen das Kompetenzsystem wehrt. Latein fördert und fordert
genaues Verstehen und Begründen. Ich halte es - zumindest in einem Teil der
Studiengänge - für hochproblematisch, wenn dieses Bewusstsein nicht mehr
vorhanden ist.
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