Wer schwache Lehrer deckt, schadet den Schülern, Bild: Jean Gaumy
Das Recht kennt keinen Trottelparagrafen, NZZ, 24.6. von Joachim Günter
«Lehrer-Bashing»
ist unfruchtbar. Vor Verunglimpfungen muss man sich hüten. Jeder Berufsstand
kennt glänzende Vertreter und Versager. Doch wenn Schüler leiden, dann nur in
zweiter Linie unter der Last der Stunden oder der Fülle des Stoffs. Auf den
Pädagogen kommt es an. Gelingt es ihm, die Klasse durch den Stil seines
Unterrichts zu begeistern, dann werden selbst schwierigste Hürden gemeistert.
Jeder, der einmal eine Schule besucht hat, kennt diese Erfahrung: Der
Fachlehrer wechselt, und plötzlich blühen Schüler auf, bringen bessere Noten
nach Hause. Leider trifft auch das Umgekehrte zu. Unfähige Lehrer können die
Biografien ihrer Schützlinge nachhaltig ruinieren. Sie beeinflussen Berufswege,
verbauen Lebenschancen. Sollten nicht also stets nur die Besten unsere Kinder
unterrichten? Schliesslich ist Bildung die wichtigste Ressource moderner
Gesellschaften, und an den Jungen hängt die Zukunft. Aber «Unfähigkeit» ist ein
hartes Wort. Es klingt, als seien scheiternde Lehrer selber schuld.
Jeder dritte Lehrer überlastet
Mitgefühl ist
angebracht: Lehrer haben es schwer. Kein Berufsstand scheint so stark von
psychischen Erkrankungen bedroht. Eine für die gesamte Schweiz repräsentative
Studie dazu wird erst im Herbst veröffentlicht. Für Zürich wurden unlängst
Zahlen publik, wonach hochgerechnet jeder zehnte Lehrer das Risiko hat, ein
Burnout zu erleiden. Zu diesem Ergebnis kommt eine von Daniel Frey, dem
ehemaligen Direktor der Stadtzürcher Schulgesundheitsdienste, geleitete
Untersuchung. In Deutschland liegen die Verhältnisse ähnlich. Vorzeitige
Pensionierungen aufgrund von Erschöpfung, Angst und Depression sind weit
verbreitet. Mangels präziserer Bezeichnungen gilt auch dort Burnout als die
unter Lehrern häufigste Krankheit. Jeder Dritte fühlt sich überlastet.
Zu viel
Mitgefühl ist schädlich: Wer schwache Lehrer deckt, schadet den Schülern. Man
kommt nicht an der Tatsache vorbei, dass manche Lehrkraft auf ihrem Posten eine
Fehlbesetzung ist. Dazu gehören die Jungen, die sich aus Unentschiedenheit für
ein Lehramtsstudium entschieden haben und im Beruf dann jäh den «Praxisschock»
erleiden, ebenso wie die Altgedienten, längst Versteinerten, die nach Schema F
unterrichten, sich um Didaktik nicht kümmern, Schüler als Gegner betrachten und
die Schuld für unterdurchschnittliche Lernleistungen wahlweise in der
«Faulheit», «Dummheit», «Verwahrlosung» oder einem angeblich konstitutionellen
Desinteresse der Kinder und Jugendlichen suchen.
In
Kalifornien hat ein Richter Anfang Juni ein – noch nicht rechtskräftiges –
Urteil gefällt, wonach Schulen inkompetente Lehrer entlassen dürfen. Dass
derlei überhaupt von Gerichten entschieden werden muss, zeigt die Schwierigkeit
an, die es macht, Fehlbesetzungen zu korrigieren, wenn Lehrer Beamte sind oder
in beamtenähnlichen Beschäftigungsverhältnissen stehen. Das ist in Deutschland,
wo Gymnasiallehrer seit 1810 ein Staatsexamen ablegen müssen, weil angeblich
nur Beamte für die juristisch valide Dignität des Abiturs bürgen, nicht anders
als in den USA, wo die Gewerkschaften erklären, Lehrer müssten unkündbar sein,
weil nur dies die akademische Freiheit garantiere. Rauswürfe wegen Inkompetenz
werden damit praktisch unmöglich. Um es mit dem Berliner Professor Hans-Peter
Füssel zu sagen, einem Spezialisten für Steuerungsprobleme in modernen
Bildungssystemen: «Das deutsche Beamtenrecht kennt keinen Trottelparagrafen.»
In der Schweiz gibt es kein Beamtentum, jedoch herrschen analoge Verhältnisse.
Um als Lehrer gefeuert zu werden, muss man schon ein schweres Disziplinardelikt
begangen haben. Eine Waffe in den Unterricht mitzubringen oder Schüler sexuell
zu belästigen, das knickt die Karriere. Unfähigkeit tut dies nicht.
An der
Ruhr-Universität in Bochum oder der TU München studieren Lehramtskandidaten
seit kurzem an sogenannten Schools of Education. Sie sind dort unter sich. Es
ist zweifellos ein Vorzug, wenn jene, die Lehrer werden wollen, die Seminare
nicht mehr mit anderen Absolventen teilen müssen und nicht über alle Fakultäten
verstreut sind. So kann sich leichter ein gemeinschaftliches pädagogisches
Selbstverständnis entwickeln. Jedoch unterliegen die Schools of Education
ebenso wie andere Hochschulen dem Bologna-Prozess und seiner Modularisierung
des Studiums, und die Kultusministerien der Bundesländer, welche die Curricula
festlegen, sorgen sich vor allem um die Aneignung von Fachwissen. Im Verhältnis
dazu ist die Anzahl der Leistungspunkte, die ein Lehramtsstudent in Pädagogik
und Didaktik erbringen muss, allzu gering.
«Der Lehrer
sollte aber mehr Pädagoge sein als Fachwissenschafter», sagt Norbert Seibert,
der an der Universität Passau den Lehrstuhl für Schulpädagogik innehat und als
Schulforscher heftig mit der herkömmlichen Ausbildung hadert. Man dürfe nicht
erst dann reagieren, wenn Lehrer ins Burn-out fallen, im Unterricht ihren Frust
an den Schülern auslassen oder vorzeitig in Pension gehen. Nach – zwar schon
zehn Jahre alten, jedoch nicht überholten – Berechnungen des Bayerischen
Lehrer- und Lehrerinnenverbands kostet jede frühpensionierte Lehrkraft den
Freistaat 375 000 Euro; insgesamt belaufen sich die jährlichen Kosten für
Pensionierungen wegen Dienstunfähigkeit in Bayern auf rund 250 Millionen. Das
ist ein erkleckliches Sümmchen, das besser «vorn» in die Aus- und Fortbildung
gesteckt würde als «hinten» ins kurative System.
Hinzu kommt,
dass es sowohl in Deutschland wie in der Schweiz nicht die Maturanden mit
Bestnoten sind, welche den Lehrerberuf ergreifen. Nun mag man finden, dass
Bestnoten auch gar nicht den Ausschlag geben, da doch die Schule heute
Pädagogen braucht, welche «mit den schwierigsten Schülern und den
verhaltensoriginellsten Eltern umgehen können», wie Norbert Seibert sagt. Da
sind Persönlichkeiten gefragt, die nicht gleich bei der ersten Unverschämtheit
verzagen. Dieselbe deutsche Studie indes, welche die Hinwendung vornehmlich
mittelmässiger Abiturienten zum Lehrerberuf feststellt
(Hochschul-Bildungsreport 2020), spricht überdies davon, es seien gerade die
Personen mit wenig Selbstvertrauen, die Lehrer werden wollten. Was mag sie
locken? Die Aussicht auf Amtsautorität? Dass ihnen niemand widerspricht? Der
Spruch «Lehrer haben vormittags Recht und nachmittags frei» gilt ja kaum noch.
Zu denken
geben muss, dass in Deutschland bis zu vierzig Prozent der fürs Lehramt
Studierenden ihr Studium erfolglos abbrechen, wenn die Motivation dazu von
Anfang an nur schwach ausgeprägt war. Da die Zulassungsbeschränkungen gering
sind, ist es möglich, das Lehramtsstudium als Verlegenheitslösung zu betreiben.
Dabei sollte doch gerade dieser Beruf auch Berufung sein. Um unter den
Kandidaten frühzeitig die Spreu vom Weizen zu trennen, hat die Universität
Passau auf Initiative von Norbert Seibert unter dem Namen «PArcours» eine Art
Eignungsprüfung eingerichtet.
Leider kein obligatorischer Test
Die
Teilnehmer durchlaufen mehrere Übungen mit relativ knapper Vorbereitungszeit.
Sie müssen ihre Motive für die Wahl des Studiums und die Fächerkombination
darlegen und reflektieren, warum ihre persönlichen Eigenschaften sie dafür
prädestinieren. In Gruppendiskussionen gewichten sie Anforderungen an den
Lehrerberuf und verteidigen ihre Einschätzungen. Ein filmisch dokumentierter
Schüler-Lehrer-Konflikt soll analysiert und Lösungsmöglichkeiten sollen
aufgezeigt werden. Ziel ist ein realistischer Blick auf den Beruf und sich. Am
Ende gibt es von den professionellen Beobachtern ein unverblümtes Feedback, das
schon so manchem Studenten einen Ausbildungswechsel angeraten hat. Noch aber
ist die Teilnahme an PArcous freiwillig und das Votum der Jury nicht bindend.
Um die Zahl der Versager im Schuldienst zu vermindern, müsste das Passauer
Modell überall für alle Lehramtsstudenten obligatorisch sein. Das wäre zu ihrem
eigenen Besten – und dem der Schüler, die eher von Versagern verschont blieben.
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