Das Schweizer Bildungssystem sei sozial ungerecht, kritisiert der
Schweizerische Wissenschaftsrat. Die Lösung sieht er in mehr schulischer
Gleichmacherei.
Nivellierung nach unten, Weltwoche, 9.1. von Katharina Fontana
Es ist ein düsteres Bild, das der Schweizerische Wissenschaftsrat (SWR)vom hiesigen Bildungssystem zeichnet. Das System sei nicht nur ineffizient,
sondern gegenüber Kindern aus sozial benachteiligten Schichten auch ungerecht,
schreibt das Gremium in einer Publikation, die kürzlich veröffentlicht wurde.
Chancengerechtigkeit bleibe in der Schweiz eine Utopie, die Situation sei
unhaltbar, es bestehe dringender Handlungsbedarf, meinen die sechzehn Experten,
die den Bundesrat in Bildungsthemen beraten. Und warten mit einer Reihe von
Empfehlungen auf, die sie der Politik ans Herz legen, etwa mit Blick auf die
bevorstehende Bildungs- und Forschungsbotschaft 2021–2024.
Nun ist hierzulande wohl kaum jemand der Meinung, dass die Schule alles
perfekt mache und das Schweizer Bildungssystem in jeder Hinsicht Bestnoten
verdiene. Dennoch sind die Töne, die der SWR anschlägt, erstaunlich negativ.
Und noch erstaunlicher ist, wie das Expertengremium des Bundesrates das
Schulsystem «sozial gerechter» machen will und welche Neuerungen ihm dabei
vorschweben. Seine Ideen dürften zahlreichen Eltern schulpflichtiger Kinder die
Haare zu Berg stehen lassen.
Gegen «liberal-konservative Sichtweise»
Die «Leistungsideologie», gemäss der es Begabung und Anstrengung sind,
die in der Schule belohnt werden sollen, hält der SWR für problematisch. Diese
«liberal-konservative Sichtweise von Chancengleichheit» greift für ihn zu kurz.
Begabungen und Leistungsbereitschaft seien sozial ungleich verteilt und durch
die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse oder durch den Wohlstand der
Eltern bestimmt. Kinder gebildeter Eltern hätten bereits bei der Einschulung
bessere Startchancen und würden ihre Leistung im Laufe der Schulzeit weiter
steigern. Akademikerkinder wechselten zudem deutlich häufiger ins Gymnasium als
gleich gut qualifizierte Kinder aus anderen Familien. Woher man stamme, sei
also ganz entscheidend sowohl für den schulischen Erfolg wie für den
Bildungsverlauf. Der SWR will diese «soziale Ungerechtigkeit» nicht länger
hinnehmen und die Bildungskasten in der Schweiz durch allerlei neue staatliche
Massnahmen aufbrechen.
Das tönt natürlich nach einem hehren Ziel. Niemand wird bestreiten, dass
Kinder aus behütet-gebildetem Elternhaus, die griechische Sagen als
Gutenachtgeschichte erzählt bekommen, es besser getroffen haben als jene, die
mit dem «Dschungelcamp» aufwachsen. Nur: Dass es heute an Chancenförderung
mangle, kann nicht behauptet werden, im Gegenteil. Der Staat unternimmt schon
jetzt enorme Anstrengungen, um den Kindern, die in weniger günstigen Umständen
aufwachsen, auf die Sprünge zu helfen und ihre Defizite zu kompensieren. Die
Schule bietet eine Vielzahl an Stützkursen und Sonderunterricht für Kinder an,
die spezielle Bedürfnisse haben oder in der Klasse aus irgendeinem Grund nicht
mithalten können. Es werden Unsummen in sonderpädagogische Massnahmen gesteckt.
Es gibt Deutschlektionen für fremdsprachige Schüler, Hausaufgabenhilfe,
Integrationsmassnahmen. Heilpädagogen kümmern sich im Einzelunterricht oder in
Kleingruppen um jene Schüler, denen das Lernen schwerfällt. An Hilfestellungen
für sozial Benachteiligte fehlt es in keiner Weise, wer im Unterricht nicht
mitkommt, wird nicht einfach sich selber überlassen. Es ist heute zum Beispiel
gang und gäbe, dass in einer sechsten Primarklasse Kinder sitzen, die noch am
Lehrstoff aus der dritten Klasse herumkauen. Denen die Lehrerin bei der
Mathematikprüfung unterstützend zur Seite steht oder deren Französischprobe
nachsichtiger bewertet wird als jene der anderen. Daneben gibt es
Sechstklässler, die regelrecht davongaloppieren, die der Lehrer mit
anspruchsvollen Zusatzaufgaben bei Laune halten muss (sofern er dafür Zeit
findet) oder die, wenn es gut läuft, tageweise einen Begabtenkurs ausserhalb
des Unterrichts besuchen dürfen. Anders gesagt: Das Spektrum an Kenntnissen ist
bei Primarschülern heute ausserordentlich breit – die integrative Schule lässt
grüssen. Und etliche Eltern sind angesichts dieser Diversität enorm erleichtert,
wenn ihr Kind am Ende der Primarschulzeit endlich in eine homogenere Klasse
wechseln darf, in der es leistungsmässig besser aufgehoben ist.
Genau hier aber möchte der Wissenschaftsrat nun auf die Bremse treten.
Geht es nach ihm, soll der Zeitpunkt der Selektion von der Primarschule in dieSekundarstufe hinausgeschoben werden. Die Professoren Rolf Becker und Jürg
Schoch, auf deren Studie zur sozialen Selektivität sich der Wissenschaftsrat
stützt, schlagen vor, dass alle Kinder bis und mit achtem Schuljahr
zusammenbleiben und dass der Übertritt erst in der neunten Klasse durchgeführt
wird. Mit dieser hinausgeschobenen Selektion will man laut Jürg Schoch
verhindern, dass das Leistungsniveau einer Klasse einbricht, wenn diejenigen
Schüler auf und davon ziehen, die insbesondere aufgrund ihrer privilegierten
Herkunft gute Noten erhalten, während andere Begabte mit den
Leistungsschwächeren zusammen zurückbleiben. Auch sollen die fremdsprachigen
Schüler auf diese Weise mehr Zeit erhalten, um ihre Kompetenzen zu verbessern.
Es gäbe keine Leistungsstufen mehr, schon gar kein Progymnasium, sondern nur
noch einen einheitlichen Unterricht für alle, am besten in Zwei- oder
Dreijahrgangsklassen, aber natürlich «individualisiert». Wie ein Lehrer dies
bewerkstelligen soll, wie er einem derart bunten Haufen von Teenagern
tagtäglich Wissen vermitteln kann, über diese Frage gehen die Experten
grosszügig hinweg.
Die Studie wartet auch mit anderen provokativen Ideen auf. Etwa, dass
man eine Art Quote für Schüler mit Migrationshintergrund oder für
Unterschichtskinder definiert, die ins Gymnasium übertreten sollen. Auch möchte
man die Lehrer ermutigen, «ihren Handlungsspielraum bei Selektionsentscheiden»
auszunutzen und talentierte, aber sozial benachteiligte Schüler beim Übertritt
etwas weniger streng zu beurteilen – alles im Namen der Chancengleichheit und
Nichtdiskriminierung, versteht sich. Man kann die Sache freilich auch anders
sehen, nämlich als Gleichmacherei und weitere Nivellierung nach unten, die auf
Kosten der guten und leistungsbereiten Schüler gehen. Deren Familien sich in
der Folge noch häufiger in Bildungsbürgerquartieren niederlassen oder ihre
Kinder auf Privatschulen schicken werden.
Sind Akademiker die Topklasse?
Wenig Freude an den Empfehlungen des Wissenschaftsrates dürften auch die
Anhänger der Berufslehre haben. Denn diese steht beim SWR gar nicht hoch im
Kurs. Dass Schüler, die das Zeug zum Gymnasiasten hätten, mit sechzehn Jahren
in die Lehre gehen, versteht man nicht und sieht darin ein nicht ausgeschöpftes
Leistungspotenzial. Und wenn diese Jugendlichen dann noch aus nichtakademischen
Haushalten stammen, wo eine solide Berufsausbildung möglicherweise mehr zählt
als zehn Jahre Gymnasium und Studium, muss es sich in den Augen der Experten um
eine soziale Ungerechtigkeit handeln und kann kein freiwilliger Entscheid sein.
Selbst die Fachhochschulen kommen beim SWR nicht gut weg: «So werden
Studienberechtigte aus unteren Sozialschichten vom Universitätsstudium
‹abgelenkt› – auch jene mit guten Erfolgsaussichten», heisst es in seiner
Publikation. Das ist nun doch eine recht einseitig-elitäre Sichtweise. Beim
Wissenschaftsrat scheint die Auffassung vorzuherrschen, dass der
Akademikerstatus die Topklasse in Gesellschaft und Beruf darstellt und dass
alle anderen Ausbildungen weniger wert sind. Doch das Leben ist vielfältiger
und beweglicher, als sich das die Bildungsberater des Bundesrates offenbar
vorstellen. Ein Uni-Abschluss garantiert heute keineswegs, dass man einen
tollen Job mit hohem Einkommen findet. Und nicht von jemandem mit Berufslehre
oder Fachhochschulabschluss überholt wird.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen