10. Januar 2019

Mehr schulische Gleichmacherei


Das Schweizer Bildungssystem sei sozial ungerecht, kritisiert der Schweizerische Wissenschaftsrat. Die Lösung sieht er in mehr schulischer Gleichmacherei.
Nivellierung nach unten, Weltwoche, 9.1. von Katharina Fontana


Es ist ein düsteres Bild, das der Schweizerische Wissenschaftsrat (SWR)vom hiesigen Bildungssystem zeichnet. Das System sei nicht nur ineffizient, sondern gegenüber Kindern aus sozial benachteiligten Schichten auch ungerecht, schreibt das Gremium in einer Publikation, die kürzlich veröffentlicht wurde. Chancengerechtigkeit bleibe in der Schweiz eine Utopie, die Situation sei unhaltbar, es bestehe dringender Handlungsbedarf, meinen die sechzehn Experten, die den Bundesrat in Bildungsthemen beraten. Und warten mit einer Reihe von Empfehlungen auf, die sie der Politik ans Herz legen, etwa mit Blick auf die bevorstehende Bildungs- und Forschungsbotschaft 2021–2024.

Nun ist hierzulande wohl kaum jemand der Meinung, dass die Schule alles perfekt mache und das Schweizer Bildungssystem in jeder Hinsicht Bestnoten verdiene. Dennoch sind die Töne, die der SWR anschlägt, erstaunlich negativ. Und noch erstaunlicher ist, wie das Expertengremium des Bundesrates das Schulsystem «sozial gerechter» machen will und welche Neuerungen ihm dabei vorschweben. Seine Ideen dürften zahlreichen Eltern schulpflichtiger Kinder die Haare zu Berg stehen lassen.

Gegen «liberal-konservative Sichtweise»
Die «Leistungsideologie», gemäss der es Begabung und Anstrengung sind, die in der Schule belohnt werden sollen, hält der SWR für problematisch. Diese «liberal-konservative Sichtweise von Chancengleichheit» greift für ihn zu kurz. Begabungen und Leistungsbereitschaft seien sozial ungleich verteilt und durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse oder durch den Wohlstand der Eltern bestimmt. Kinder gebildeter Eltern hätten bereits bei der Einschulung bessere Startchancen und würden ihre Leistung im Laufe der Schulzeit weiter steigern. Akademikerkinder wechselten zudem deutlich häufiger ins Gymnasium als gleich gut qualifizierte Kinder aus anderen Familien. Woher man stamme, sei also ganz entscheidend sowohl für den schulischen Erfolg wie für den Bildungsverlauf. Der SWR will diese «soziale Ungerechtigkeit» nicht länger hinnehmen und die Bildungskasten in der Schweiz durch allerlei neue staatliche Massnahmen aufbrechen.
Das tönt natürlich nach einem hehren Ziel. Niemand wird bestreiten, dass Kinder aus behütet-gebildetem Elternhaus, die griechische Sagen als Gutenachtgeschichte erzählt bekommen, es besser getroffen haben als jene, die mit dem «Dschungelcamp» aufwachsen. Nur: Dass es heute an Chancenförderung mangle, kann nicht behauptet werden, im Gegenteil. Der Staat unternimmt schon jetzt enorme Anstrengungen, um den Kindern, die in weniger günstigen Umständen aufwachsen, auf die Sprünge zu helfen und ihre Defizite zu kompensieren. Die Schule bietet eine Vielzahl an Stützkursen und Sonderunterricht für Kinder an, die spezielle Bedürfnisse haben oder in der Klasse aus irgendeinem Grund nicht mithalten können. Es werden Unsummen in sonderpädagogische Massnahmen gesteckt. Es gibt Deutschlektionen für fremdsprachige Schüler, Hausaufgabenhilfe, Integrationsmassnahmen. Heilpädagogen kümmern sich im Einzelunterricht oder in Kleingruppen um jene Schüler, denen das Lernen schwerfällt. An Hilfestellungen für sozial Benachteiligte fehlt es in keiner Weise, wer im Unterricht nicht mitkommt, wird nicht einfach sich selber überlassen. Es ist heute zum Beispiel gang und gäbe, dass in einer sechsten Primarklasse Kinder sitzen, die noch am Lehrstoff aus der dritten Klasse herumkauen. Denen die Lehrerin bei der Mathematikprüfung unterstützend zur Seite steht oder deren Französischprobe nachsichtiger bewertet wird als jene der anderen. Daneben gibt es Sechstklässler, die regelrecht davongaloppieren, die der Lehrer mit anspruchsvollen Zusatzaufgaben bei Laune halten muss (sofern er dafür Zeit findet) oder die, wenn es gut läuft, tageweise einen Begabtenkurs ausserhalb des Unterrichts besuchen dürfen. Anders gesagt: Das Spektrum an Kenntnissen ist bei Primarschülern heute ausserordentlich breit – die integrative Schule lässt grüssen. Und etliche Eltern sind angesichts dieser Diversität enorm erleichtert, wenn ihr Kind am Ende der Primarschulzeit endlich in eine homogenere Klasse wechseln darf, in der es leistungsmässig besser aufgehoben ist.

Genau hier aber möchte der Wissenschaftsrat nun auf die Bremse treten. Geht es nach ihm, soll der Zeitpunkt der Selektion von der Primarschule in dieSekundarstufe hinausgeschoben werden. Die Professoren Rolf Becker und Jürg Schoch, auf deren Studie zur sozialen Selektivität sich der Wissenschaftsrat stützt, schlagen vor, dass alle Kinder bis und mit achtem Schuljahr zusammenbleiben und dass der Übertritt erst in der neunten Klasse durchgeführt wird. Mit dieser hinausgeschobenen Selektion will man laut Jürg Schoch verhindern, dass das Leistungsniveau einer Klasse einbricht, wenn diejenigen Schüler auf und davon ziehen, die insbesondere aufgrund ihrer privilegierten Herkunft gute Noten erhalten, während andere Begabte mit den Leistungsschwächeren zusammen zurückbleiben. Auch sollen die fremdsprachigen Schüler auf diese Weise mehr Zeit erhalten, um ihre Kompetenzen zu verbessern. Es gäbe keine Leistungsstufen mehr, schon gar kein Progymnasium, sondern nur noch einen einheitlichen Unterricht für alle, am besten in Zwei- oder Dreijahrgangsklassen, aber natürlich «individualisiert». Wie ein Lehrer dies bewerkstelligen soll, wie er einem derart bunten Haufen von Teenagern tagtäglich Wissen vermitteln kann, über diese Frage gehen die Experten grosszügig hinweg.

Die Studie wartet auch mit anderen provokativen Ideen auf. Etwa, dass man eine Art Quote für Schüler mit Migrationshintergrund oder für Unterschichtskinder definiert, die ins Gymnasium übertreten sollen. Auch möchte man die Lehrer ermutigen, «ihren Handlungsspielraum bei Selektionsentscheiden» auszunutzen und talentierte, aber sozial benachteiligte Schüler beim Übertritt etwas weniger streng zu beurteilen – alles im Namen der Chancengleichheit und Nichtdiskriminierung, versteht sich. Man kann die Sache freilich auch anders sehen, nämlich als Gleichmacherei und weitere Nivellierung nach unten, die auf Kosten der guten und leistungsbereiten Schüler gehen. Deren Familien sich in der Folge noch häufiger in Bildungsbürgerquartieren niederlassen oder ihre Kinder auf Privatschulen schicken werden.

Sind Akademiker die Topklasse?
Wenig Freude an den Empfehlungen des Wissenschaftsrates dürften auch die Anhänger der Berufslehre haben. Denn diese steht beim SWR gar nicht hoch im Kurs. Dass Schüler, die das Zeug zum Gymnasiasten hätten, mit sechzehn Jahren in die Lehre gehen, versteht man nicht und sieht darin ein nicht ausgeschöpftes Leistungspotenzial. Und wenn diese Jugendlichen dann noch aus nichtakademischen Haushalten stammen, wo eine solide Berufsausbildung möglicherweise mehr zählt als zehn Jahre Gymnasium und Studium, muss es sich in den Augen der Experten um eine soziale Ungerechtigkeit handeln und kann kein freiwilliger Entscheid sein. Selbst die Fachhochschulen kommen beim SWR nicht gut weg: «So werden Studienberechtigte aus unteren Sozialschichten vom Universitätsstudium ‹abgelenkt› – auch jene mit guten Erfolgsaussichten», heisst es in seiner Publikation. Das ist nun doch eine recht einseitig-elitäre Sichtweise. Beim Wissenschaftsrat scheint die Auffassung vorzuherrschen, dass der Akademikerstatus die Topklasse in Gesellschaft und Beruf darstellt und dass alle anderen Ausbildungen weniger wert sind. Doch das Leben ist vielfältiger und beweglicher, als sich das die Bildungsberater des Bundesrates offenbar vorstellen. Ein Uni-Abschluss garantiert heute keineswegs, dass man einen tollen Job mit hohem Einkommen findet. Und nicht von jemandem mit Berufslehre oder Fachhochschulabschluss überholt wird.


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