9. Januar 2019

Thurgau will, dass Zusatzunterricht von Eltern bezahlt wird


Manche Migrantenkinder können kaum ein Wort Deutsch, wenn sie in die Schule kommen – obwohl sie in der Schweiz geboren wurden. Ein unhaltbarer Zustand, findet eine Mehrheit im Thurgauer Grossen Rat. Die Politiker von SVP, CVP und GLP sowie einzelne Freisinnige wollen jene Eltern finanziell bestrafen, die nicht dafür sorgen, dass ihr Nachwuchs trotz entsprechenden Angeboten die Landessprache lernt. Die Integrationsunwilligen sollen den später nötig gewordenen Zusatzunterricht aus ihrer eigenen Tasche bezahlen. Doch da gibt es ein wesentliches Problem: Die Bundesverfassung schreibt vor, dass der Grundschulunterricht «unentgeltlich» sein müsse. Deshalb hat die Thurgauer Legislative am Mittwoch mit 77 zu 30 Stimmen eine Standesinitiative verabschiedet, die vom nationalen Parlament eine Verfassungsänderung verlangt.
Integrationsunwillige Ausländer sollen Sprachkurse ihrer Kinder bezahlen müssen, NZZ, 9.1. von Simon Hehli


Das Ganze hat eine längere Vorgeschichte. 2015 nahm der Grosse Rat Änderungen am Volksschulgesetz vor, die 2016 in Kraft traten. Ein Element der Reform war es, die nachlässigen ausländischen Eltern zur Kasse bitten zu können. Ein anderer Passus sah vor, dass für Lager und andere obligatorische Schulveranstaltungen Beiträge von allen Eltern erhoben werden konnten. Doch vier Bürger setzten sich gegen diese Regelungen zur Wehr, mit Erfolg. Im Dezember 2017 entschied das Bundesgericht, dass das Thurgauer Modell unvereinbar sei mit dem von der Verfassung garantierten Anspruch auf kostenlosen Grundschulunterricht.

Übersetzungsdienste selber berappen

Dieses Hindernis soll nun die Standesinitiative aus dem Weg räumen. Für deren bürgerliche Verfechter war die Androhung finanzieller Konsequenzen bis zum Ordnungsruf der Lausanner Richter ein «grosser Erfolg». Dadurch hätten die Schulgemeinden die fremdsprachigen Eltern dazu bewegen können, ihre Söhne und Töchter in Sprachspielgruppen zu schicken. So seien mehr Kinder gut vorbereitet in den Kindergarten eingetreten. Die bürgerlichen Thurgauer Politiker betonen, es gehe ihnen nicht um Kosteneinsparungen, sondern um mehr Verbindlichkeit. In diesem Sinne wollen sie auch die Eltern verpflichten, die Amtssprache so gut zu lernen, dass sie an Elterngesprächen teilnehmen und Zeugnisse verstehen können. Ist dies nicht der Fall, müssten die Eltern Übersetzungsdienste selber bezahlen.

Nach dem Entscheid des Bundesgerichts von 2017 zeigte sich die Thurgauer Bildungsdirektorin Monika Knill in der «NZZ am Sonntag» enttäuscht. «Es ging den Schulen darum, jene Eltern in die Pflicht zu nehmen, die sich nachweislich nicht um die Integration ihrer Kinder kümmerten.» Die Bemühungen, das Problem über eine Änderung der Verfassung zu lösen, unterstützt die Regierung aber nicht. In einer Stellungnahme aus dem vergangenen Herbst wies sie darauf hin, dass sich die Schweiz durch die Unterzeichnung des Uno-Pakts und der Kinderrechtskonvention dazu verpflichtet habe, dass der Besuch der Grundschule kostenlos ist. Und folgerte daraus: «Eine Verurteilung der Schweiz vor einem internationalen Gericht aufgrund einer der Motion entsprechenden Verfassungsänderung bzw. eines entsprechenden Anwendungsaktes wäre wahrscheinlich.»

Zudem warnte der Regierungsrat davor, dass sich das politische Prozedere über Jahre hinziehen könnte. Stimmen die beiden nationalen Parlamentskammern der Standesinitiative zu, kommt es wegen der Verfassungsänderung zwingend zu einer Volksabstimmung. Bei einem Ja müsste danach auch die Kantonsverfassung angepasst werden, ebenfalls mit Urnengang. Angesichts dieses steinigen Wegs sieht die Thurgauer Exekutive kaum Erfolgsaussichten – und hält die Standesinitiative, die nur bei «gewichtigen Interessen» des Kantons eingesetzt werden solle, für das falsche Instrument. Statistisch gesehen sind die Chancen der Standesinitiative tatsächlich nicht sehr gross: Von den über 200 seit 2010 von den Kantonen eingereichten Vorstössen fanden nur 14 Anklang im Bundeshaus. Und davon führte bisher kaum einer zu einer konkreten Reform.

Basel-Stadt als Vorbild

Als Alternative prüft die Thurgauer Regierung, obligatorische vorschulische Sprachkurse für Kinder mit schlechten Deutschkenntnissen einzuführen. Eine solche Bestimmung kennt bis jetzt in der Schweiz nur Basel-Stadt. Dort müssen betroffene Kinder an mindestens zwei halben Tagen pro Woche in die Deutschförderung, bevor sie in den Kindergarten dürfen. Eine ähnliche Regelung könnte auch der Kanton Aargau einführen, und zwar für vierjährige Kinder. Einen entsprechenden Vorstoss der CVP überwies der Grosse Rat am Dienstag ohne Opposition an die Regierung. CVP-Fraktions-Chef Alfons Kaufmann sagt, dass sich an der Finanzierung solcher Kurse sowohl die Eltern als auch die öffentliche Hand beteiligen sollten.


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