Manche Migrantenkinder
können kaum ein Wort Deutsch, wenn sie in die Schule kommen – obwohl sie in der
Schweiz geboren wurden. Ein unhaltbarer Zustand, findet eine Mehrheit im Thurgauer
Grossen Rat. Die Politiker von SVP, CVP und GLP sowie einzelne Freisinnige
wollen jene Eltern finanziell bestrafen, die nicht dafür sorgen, dass ihr
Nachwuchs trotz entsprechenden Angeboten die Landessprache lernt. Die
Integrationsunwilligen sollen den später nötig gewordenen Zusatzunterricht aus
ihrer eigenen Tasche bezahlen. Doch da gibt es ein wesentliches Problem: Die
Bundesverfassung schreibt vor, dass der Grundschulunterricht «unentgeltlich»
sein müsse. Deshalb hat die Thurgauer Legislative am Mittwoch mit 77 zu 30
Stimmen eine Standesinitiative verabschiedet, die vom nationalen Parlament eine
Verfassungsänderung verlangt.
Integrationsunwillige Ausländer sollen Sprachkurse ihrer Kinder bezahlen müssen, NZZ, 9.1. von Simon Hehli
Das Ganze hat eine längere
Vorgeschichte. 2015 nahm der Grosse Rat Änderungen am Volksschulgesetz vor, die
2016 in Kraft traten. Ein Element der Reform war es, die nachlässigen
ausländischen Eltern zur Kasse bitten zu können. Ein anderer Passus sah vor,
dass für Lager und andere obligatorische Schulveranstaltungen Beiträge von
allen Eltern erhoben werden konnten. Doch vier Bürger setzten sich gegen diese
Regelungen zur Wehr, mit Erfolg. Im Dezember 2017 entschied das Bundesgericht,
dass das Thurgauer Modell unvereinbar sei mit dem von der Verfassung
garantierten Anspruch auf kostenlosen Grundschulunterricht.
Übersetzungsdienste selber berappen
Dieses Hindernis soll nun
die Standesinitiative aus dem Weg räumen. Für deren bürgerliche Verfechter war
die Androhung finanzieller Konsequenzen bis zum Ordnungsruf der Lausanner
Richter ein «grosser Erfolg». Dadurch hätten die Schulgemeinden die
fremdsprachigen Eltern dazu bewegen können, ihre Söhne und Töchter in
Sprachspielgruppen zu schicken. So seien mehr Kinder gut vorbereitet in den
Kindergarten eingetreten. Die bürgerlichen Thurgauer Politiker betonen, es gehe
ihnen nicht um Kosteneinsparungen, sondern um mehr Verbindlichkeit. In diesem
Sinne wollen sie auch die Eltern verpflichten, die Amtssprache so gut zu
lernen, dass sie an Elterngesprächen teilnehmen und Zeugnisse verstehen können.
Ist dies nicht der Fall, müssten die Eltern Übersetzungsdienste selber
bezahlen.
Nach dem Entscheid des
Bundesgerichts von 2017 zeigte sich die Thurgauer Bildungsdirektorin Monika
Knill in der «NZZ am Sonntag» enttäuscht. «Es ging den Schulen darum, jene
Eltern in die Pflicht zu nehmen, die sich nachweislich nicht um die Integration
ihrer Kinder kümmerten.» Die Bemühungen, das Problem über eine Änderung der
Verfassung zu lösen, unterstützt die Regierung aber nicht. In einer
Stellungnahme aus dem vergangenen Herbst wies sie darauf hin, dass sich die Schweiz
durch die Unterzeichnung des Uno-Pakts und der Kinderrechtskonvention dazu
verpflichtet habe, dass der Besuch der Grundschule kostenlos ist. Und folgerte
daraus: «Eine Verurteilung der Schweiz vor einem internationalen Gericht
aufgrund einer der Motion entsprechenden Verfassungsänderung bzw. eines
entsprechenden Anwendungsaktes wäre wahrscheinlich.»
Zudem warnte der
Regierungsrat davor, dass sich das politische Prozedere über Jahre hinziehen
könnte. Stimmen die beiden nationalen Parlamentskammern der Standesinitiative
zu, kommt es wegen der Verfassungsänderung zwingend zu einer Volksabstimmung.
Bei einem Ja müsste danach auch die Kantonsverfassung angepasst werden,
ebenfalls mit Urnengang. Angesichts dieses steinigen Wegs sieht die Thurgauer
Exekutive kaum Erfolgsaussichten – und hält die Standesinitiative, die nur bei
«gewichtigen Interessen» des Kantons eingesetzt werden solle, für das falsche
Instrument. Statistisch gesehen sind die Chancen der Standesinitiative
tatsächlich nicht sehr gross: Von den über 200 seit 2010 von den Kantonen
eingereichten Vorstössen fanden nur 14 Anklang im Bundeshaus. Und davon führte
bisher kaum einer zu einer konkreten Reform.
Basel-Stadt als Vorbild
Als Alternative prüft die
Thurgauer Regierung, obligatorische vorschulische Sprachkurse für Kinder mit
schlechten Deutschkenntnissen einzuführen. Eine solche Bestimmung kennt bis
jetzt in der Schweiz nur Basel-Stadt. Dort müssen betroffene Kinder an
mindestens zwei halben Tagen pro Woche in die Deutschförderung, bevor sie in den
Kindergarten dürfen. Eine ähnliche Regelung könnte auch der Kanton Aargau
einführen, und zwar für vierjährige Kinder. Einen entsprechenden Vorstoss der
CVP überwies der Grosse Rat am Dienstag ohne Opposition an die Regierung.
CVP-Fraktions-Chef Alfons Kaufmann sagt, dass sich an der Finanzierung solcher
Kurse sowohl die Eltern als auch die öffentliche Hand beteiligen sollten.
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