10. Mai 2016

Schule in den 1950-er Jahren

Spardruck, Reformen, überforderte Lehrer und Schüler, mangelnde Qualität – selten wurde die Zukunft des Baselbieter Bildungs­systems so düster dargestellt wie heute. Wirre Strukturen, schwierige Kinder und uneinsichtige Eltern waren jedoch schon in den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts ein akutes Thema.













Willy Piatti auf seinem ersten Schulausflug, Bild: zvg
Der richtige Lehrer zur richtigen Zeit, Basler Zeitung, 10.5. von Dina Sambar


Alte Dokumente und ein lebendiger Erfahrungsbericht des ehemaligen Röschenzer Primarlehrers Willy Piatti erzählen aus einer Zeit, in der ledige Lehrer bei einer Schlummermutter lebten, die richtige Konfession Bedingung für eine Festanstellung war, freche Schüler auch mal eine Ohrfeige erhielten und das Schulhaus im Sommer so stank, dass man es fast im ganzen Dorf roch.
51 Kinder in einer Klasse
Der 25-jährige Willy Piatti, ehema­liger Kaufmann und Radfahrerkorporal, war 1950 eigens geholt worden, um «aufzuräumen». Die Schule von Röschenz hatte laut Piatti einen «miserablen Ruf». Die meisten Lehrer suchten, sobald sie konnten, das Weite: «Es kam vor, dass ein Kind in neun Schuljahren 20 Klassenlehrer hatte. Ein Teil davon waren sogar notgedrungen zugeteilte Seminaristen», erinnert sich der heute 91-jährige Piatti. Da in der ganzen Schweiz Lehrerüberfluss herrschte und er keine andere Anstellung in Aussicht hatte, entschied sich der Glarner, die Stelle in Röschenz anzutreten.

Piatti kannte den schlechten Ruf der Schule, trotzdem staunte er nicht schlecht, als er am ersten Arbeitstag in einem überfüllten Klassenzimmer 51 lebhafte Mädchen und Buben verschiedenen Alters antraf – sechs Kinder mehr als das erlaubte Maximum: «Ich musste einen Moment still schlucken und betrachtete die grosse Klasse.» In einem Brief an die Eltern aus dem Jahr 1953 weisen die Lehrerschaft und die Schulkommission auf den Missstand hin:

«In Bezug auf Klassen- und Kinderzahl haben wir laut Bericht von Herrn Inspektor Berberat die zweitschlechtesten Schulverhältnisse im Laufental. Wir haben folgende Kinderzahlen. 1. und 2. Klasse: 38 Kinder; 3.–5. Klasse: 52 Kinder; 6.–9. Klasse: 51 Kinder (inbegr. 5 Welsche). Früher genügten diese Verhältnisse, aber heute wirken sie sich sehr ungünstig auf die ganze Schule aus. Dies vor allem im Hinblick auf den Anschluss an die Sekundarschule Laufen und für die individuelle Erziehung der schwächeren Kinder. In den nächsten 4–5 Jahren wird die Zahl der Kinder in der Oberschule gegen 65 und 70 steigen. Wie kann da ein einigermassen zeitgemässer Unterricht stattfinden?»

Ein halbes Jahr später wurde Abhilfe geschaffen und eine vierte Klasse eingeführt. Die ideale Schülerzahl liegt für Piatti pro Klasse zwischen 20 und 25 Schülern. Trotzdem müsse er schmunzeln, wenn er Lehrer höre, die heute über zu grosse Klassen klagen.
In dem Brief, der auch von der Ortspolizeibehörde unterschrieben war, sprachen die Lehrer weitere Missstände an. Sie appellierten an die Eltern, die Erziehung ernst zu nehmen, und drohten mit Anzeige bei Nachlässigkeit:

«Wir müssen immer wieder beobachten, dass sich schulpflichtige Kinder bis in die späte Nacht hinein auf den Strassen herumtreiben. Seit jeher gilt folgende Ordnung: Im Sommer: bis abends 9 Uhr; im Frühling und Herbst: bis abends 8.30 Uhr; im Winter: bis abends 8 Uhr. Dies betrifft auch die Fasnachtszeit und sämtliche Abendanlässe. Die Gesundheit und die sittliche Erziehung unserer Kinder werden auf der nächtlichen Gasse sicher nicht gefördert. Eltern, deren Kinder auf gewöhnliche Schulstrafen nicht gehorchen, werden dem Richter angezeigt und bestraft! Die Ortspolizei wird abendliche Kontrollen vornehmen.»
Anzeige wegen Frechheit
Die festgelegten Uhrzeiten waren laut Piatti Dorfgesetz. Zu einer Anzeige wegen nächtlichen Herumtreibens sei es aber nicht gekommen. Er erinnert sich jedoch an einen Schüler, den er in der Fortbildungsschule wegen seines frechen Benehmens anzeigte – der renitente 19-Jährige hatte trotz mehrma­liger Aufforderung nicht damit aufgehört, im Unterricht Nüsse zu essen. «Er erhielt vom Regierungsstatthalter eine Busse von 20 Franken. Das war für einen Fabrikarbeiter, der damals rund 200 Franken im Monat verdiente, sehr viel Geld.» Der Junge gehörte laut Piatti zu einer Clique, die im Dorf Mädchen belästigte und generell «einen schlechten Einfluss» ausübte. «Als er wieder in den Unterricht kam, schaute er mich an wie ein Stier, doch die Anzeige hat gewirkt – auch als Warnung für die anderen Schüler.»

Üblichere Sanktionen waren Strafaufgaben oder Nachsitzen. Frechen Buben, die immer wieder den Unterricht störten, habe er auch mal eine «Watsche» gegeben: Zu einer Zeit, in der ein Kapitel im Schulbuch ‹Eine Ohrfeige zur rechten Zeit› hiess, war das nichts Aussergewöhnliches. «Ich erinnere mich an einen Vater, der mich auf die Ohrfeige, die ich seinem Sohn ­gegeben hatte, ansprach. Er begrüsste die Massnahme, die Mutter jedoch nicht», berichtet Piatti.

Während Klassengrössen von über 50 Kindern und eine polizeilich überprüfte Sperrstunde für Kinder in der heutigen Zeit seltsam anmuten, sind andere im Elternbrief angesprochene Probleme noch heute hochaktuell. So beispielsweise der Alkohol- und Zigarettenkonsum der Jugendlichen, zu dem es im Brief heisst:

«In das gleiche Kapitel hinein geht das Rauchen der Knaben und sogar der Mädchen. Eine Bitte an die Verkaufs­läden: Verkauft an Kinder keine Rauchwaren, bei denen Ihr nicht sicher seid, dass sie für Erwachsene bestimmt sind! Eine Bitte an alle Erwachsenen: Gebt Kindern keine Zigaretten! Helft alle mit, dieses gesundheitsschädliche Übel für die Kinder zu beseitigen.»

Auch das generelle Konsumverhalten der Kinder wird darin angeprangert. Die Kinder hatten laut Lehrerschaft zu viel Geld im Sack und die Tendenz, ­dieses direkt zu verpulvern:
«Überlegt euch, wohin das führt! Ein schulpflichtiges Kind, das jetzt schon 5 Franken Sackgeld erhält oder sich beschafft, benötigt mit den Jahren immer mehr. Das Resultat sind unzufriedene Menschen, die über ihre einfachen Verhältnisse hinaus leben und viel schwerer durchs Leben gehen müssen.»

Um dem entgegenzuwirken, legte Piatti für die Schüler eine Schulsparkasse an.
Erbrechen beim Putzen
Der schlechte Ruf der Röschenzer Schule hatte noch einen weiteren Grund: Das Schulhaus war in einem katastrophalen Zustand. Es regnete durch das Dach, und an heissen Sommertagen stank es im ganzen Schulhaus nach Fäkalien. Die Toiletten hatten keine Wasserspülung, die Exkremente fielen einfach durch ein Rohr. «Ich denke gern an das zuverlässige Ab­­wart-Ehepaar Hans Borer-Neuschwander, das nach Feierabend täglich diese Toiletten putzte. Frau Borer musste dabei manchmal erbrechen», schreibt Piatti in einem mehrseitigen Text, den er für das lokale Jahrbuch zusammengestellt hat, und der im Infoblatt der Gemeinde ­veröffentlicht wird.

Erfreulicherweise wurde das Schulhaus kurz nach Piattis Schulantritt renoviert, was jedoch zu anderen Problemen führte. Der Unterricht musste in zwei kargen Sälen im Restaurant Rössli und im Restaurant Sonne abgehalten werden. Aus Platznot wurden laut Piatti alle Klassen 100 Stunden zu wenig unterrichtet.

Obwohl er bereits im Vorfeld auf mögliche Folgen hingewiesen und den Gemeinderat persönlich in die Verantwortung genommen habe, sei der Missstand nicht behoben worden: «Tatsächlich hat in diesem Frühling keiner unserer Mittelschüler die Aufnahmeprüfung für die Sekundarschule in Laufen bestanden», erzählt Piatti.

In einem kleinen Dorf zur Schule zu gehen, sei für die Schulkarriere generell nicht förderlich gewesen: «Die meisten Sekundarschüler stammten aus Laufen selbst, da dort die besseren Bedingungen an der Mittelschule herrschten. Eine Klasse bestand beispielsweise nicht aus mehreren Stufen.»
Lehrplan 21 und Schulreformen
Integrative Schule war in den 50ern ohne grosse Worte selbstverständlich – für verhaltensauffällige Kinder gab es selten Sonderbehandlung: «Ich hatte einen Jungen in meiner 6. Klasse, der vom Alter her in die 9. gehörte, jedoch nur den Stoff der 2. Klasse bewältigen konnte. Unterstützung gab es keine. Zum Glück hat er nicht gestört», erinnert sich Piatti. Andererseits wurden behinderte Kinder teilweise radikal vernachlässigt: «Es gab in Röschenz behinderte Kinder, die einfach nicht in die Schule geschickt wurden und keinerlei Ausbildung erhielten. Ich habe erfolglos versucht, mit den Eltern zu sprechen. Im Dorf wurde der Umstand geduldet.»

Das heutige Konzept der integrativen Schule findet Piatti theoretisch ideal – «so ist auch das Leben». Obwohl er selber damals gerne Unterstützung erhalten hätte, findet er die vielen Spezialisten, die heutzutage im Schulzimmer ein- und ausgehen und die Kinder bereits im Kindergartenalter kategorisieren, jedoch problematisch.

Ähnlich wie mit zu integrierenden Kindern ging man mit ausländischen Schülern um, den Kindern der italienischen Arbeiter. Spezialunterricht gab es keinen: «In der Pause habe ich versucht, diesen Schülern Deutsch beizubringen. Bei einigen hatte ich damit Erfolg, vor allem bei Mädchen. Andere sassen jedoch jahrelang ­apathisch im Schulzimmer.» Fremdsprachen, geschweige denn Frühfremdsprachen waren in der Primar- und Oberschule kein Thema. «Nur wer es in die Sek schaffte oder das Geld für eine Privatschule aufbringen konnte, erhielt solchen Unterricht», sagt Piatti. Schüler aus einfachen ­Verhältnissen wurden zu einem Bauern oder in ein Haushaltsinstitut ins ­Welschland geschickt.
Das aktuelle Gezerre um den Lehrplan 21 verfolgt Piatti aus der Distanz.Dass das Baselbiet ein «Sonderzügli» fahren will, missfällt ihm: «Das reine Schulwissen ist bereits wieder überholt, wenn man die Schule verlässt. Viel wichtiger ist es, Kompetenzen zu erlernen, was der Lehrplan 21 vorsieht.»


Ob er unter den heutigen Umständen wieder Lehrer werden würde? «Heute, mit der Digitalisierung, braucht es andere Lehrer als damals. Jede Zeit hat ihre Menschen.»

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