Spardruck, Reformen, überforderte Lehrer und
Schüler, mangelnde Qualität – selten wurde die Zukunft des Baselbieter Bildungssystems
so düster dargestellt wie heute. Wirre Strukturen, schwierige Kinder und
uneinsichtige Eltern waren jedoch schon in den 50er-Jahren des letzten
Jahrhunderts ein akutes Thema.
Willy Piatti auf seinem ersten Schulausflug, Bild: zvg
Der richtige Lehrer zur richtigen Zeit, Basler Zeitung, 10.5. von Dina Sambar
Alte Dokumente und ein
lebendiger Erfahrungsbericht des ehemaligen Röschenzer Primarlehrers Willy
Piatti erzählen aus einer Zeit, in der ledige Lehrer bei einer Schlummermutter
lebten, die richtige Konfession Bedingung für eine Festanstellung war, freche
Schüler auch mal eine Ohrfeige erhielten und das Schulhaus im Sommer so stank,
dass man es fast im ganzen Dorf roch.
51 Kinder in einer Klasse
Der 25-jährige Willy
Piatti, ehemaliger Kaufmann und Radfahrerkorporal, war 1950 eigens geholt
worden, um «aufzuräumen». Die Schule von Röschenz hatte laut Piatti einen
«miserablen Ruf». Die meisten Lehrer suchten, sobald sie konnten, das Weite:
«Es kam vor, dass ein Kind in neun Schuljahren 20 Klassenlehrer hatte. Ein
Teil davon waren sogar notgedrungen zugeteilte Seminaristen», erinnert sich der
heute 91-jährige Piatti. Da in der ganzen Schweiz Lehrerüberfluss herrschte und
er keine andere Anstellung in Aussicht hatte, entschied sich der Glarner, die
Stelle in Röschenz anzutreten.
Piatti kannte den
schlechten Ruf der Schule, trotzdem staunte er nicht schlecht, als er am ersten
Arbeitstag in einem überfüllten Klassenzimmer 51 lebhafte Mädchen und
Buben verschiedenen Alters antraf – sechs Kinder mehr als das erlaubte
Maximum: «Ich musste einen Moment still schlucken und betrachtete die grosse
Klasse.» In einem Brief an die Eltern aus dem Jahr 1953 weisen die Lehrerschaft
und die Schulkommission auf den Missstand hin:
«In Bezug auf Klassen- und
Kinderzahl haben wir laut Bericht von Herrn Inspektor Berberat die
zweitschlechtesten Schulverhältnisse im Laufental. Wir haben folgende
Kinderzahlen. 1. und 2. Klasse: 38 Kinder; 3.–5. Klasse: 52 Kinder; 6.–9.
Klasse: 51 Kinder (inbegr. 5 Welsche). Früher genügten diese Verhältnisse,
aber heute wirken sie sich sehr ungünstig auf die ganze Schule aus. Dies vor
allem im Hinblick auf den Anschluss an die Sekundarschule Laufen und für die
individuelle Erziehung der schwächeren Kinder. In den nächsten 4–5 Jahren wird
die Zahl der Kinder in der Oberschule gegen 65 und 70 steigen. Wie kann da ein
einigermassen zeitgemässer Unterricht stattfinden?»
Ein halbes Jahr später
wurde Abhilfe geschaffen und eine vierte Klasse eingeführt. Die ideale
Schülerzahl liegt für Piatti pro Klasse zwischen 20 und 25 Schülern.
Trotzdem müsse er schmunzeln, wenn er Lehrer höre, die heute über zu grosse
Klassen klagen.
In dem Brief, der auch von
der Ortspolizeibehörde unterschrieben war, sprachen die Lehrer weitere
Missstände an. Sie appellierten an die Eltern, die Erziehung ernst zu nehmen,
und drohten mit Anzeige bei Nachlässigkeit:
«Wir müssen immer wieder beobachten, dass sich schulpflichtige
Kinder bis in die späte Nacht hinein auf den Strassen herumtreiben. Seit jeher
gilt folgende Ordnung: Im Sommer: bis abends 9 Uhr; im Frühling und Herbst: bis
abends 8.30 Uhr; im Winter: bis abends 8 Uhr. Dies betrifft auch die
Fasnachtszeit und sämtliche Abendanlässe. Die Gesundheit und die sittliche
Erziehung unserer Kinder werden auf der nächtlichen Gasse sicher nicht
gefördert. Eltern, deren Kinder auf gewöhnliche Schulstrafen nicht gehorchen,
werden dem Richter angezeigt und bestraft! Die Ortspolizei wird abendliche
Kontrollen vornehmen.»
Anzeige wegen Frechheit
Die festgelegten Uhrzeiten
waren laut Piatti Dorfgesetz. Zu einer Anzeige wegen nächtlichen Herumtreibens
sei es aber nicht gekommen. Er erinnert sich jedoch an einen Schüler, den er in
der Fortbildungsschule wegen seines frechen Benehmens anzeigte – der
renitente 19-Jährige hatte trotz mehrmaliger Aufforderung nicht damit
aufgehört, im Unterricht Nüsse zu essen. «Er erhielt vom Regierungsstatthalter
eine Busse von 20 Franken. Das war für einen Fabrikarbeiter, der damals
rund 200 Franken im Monat verdiente, sehr viel Geld.» Der Junge gehörte
laut Piatti zu einer Clique, die im Dorf Mädchen belästigte und generell «einen
schlechten Einfluss» ausübte. «Als er wieder in den Unterricht kam, schaute er
mich an wie ein Stier, doch die Anzeige hat gewirkt – auch als Warnung für
die anderen Schüler.»
Üblichere Sanktionen waren
Strafaufgaben oder Nachsitzen. Frechen Buben, die immer wieder den Unterricht
störten, habe er auch mal eine «Watsche» gegeben: Zu einer Zeit, in der ein
Kapitel im Schulbuch ‹Eine Ohrfeige zur rechten Zeit› hiess, war das nichts
Aussergewöhnliches. «Ich erinnere mich an einen Vater, der mich auf die
Ohrfeige, die ich seinem Sohn gegeben hatte, ansprach. Er begrüsste die
Massnahme, die Mutter jedoch nicht», berichtet Piatti.
Während Klassengrössen von
über 50 Kindern und eine polizeilich überprüfte Sperrstunde für Kinder in
der heutigen Zeit seltsam anmuten, sind andere im Elternbrief angesprochene
Probleme noch heute hochaktuell. So beispielsweise der Alkohol- und
Zigarettenkonsum der Jugendlichen, zu dem es im Brief heisst:
«In das gleiche Kapitel hinein geht das Rauchen der Knaben und
sogar der Mädchen. Eine Bitte an die Verkaufsläden: Verkauft an Kinder keine
Rauchwaren, bei denen Ihr nicht sicher seid, dass sie für Erwachsene bestimmt
sind! Eine Bitte an alle Erwachsenen: Gebt Kindern keine Zigaretten! Helft alle
mit, dieses gesundheitsschädliche Übel für die Kinder zu beseitigen.»
Auch das generelle
Konsumverhalten der Kinder wird darin angeprangert. Die Kinder hatten laut
Lehrerschaft zu viel Geld im Sack und die Tendenz, dieses direkt zu
verpulvern:
«Überlegt euch, wohin das führt! Ein schulpflichtiges Kind, das
jetzt schon 5 Franken Sackgeld erhält oder sich beschafft, benötigt mit
den Jahren immer mehr. Das Resultat sind unzufriedene Menschen, die über ihre
einfachen Verhältnisse hinaus leben und viel schwerer durchs Leben gehen
müssen.»
Um dem entgegenzuwirken,
legte Piatti für die Schüler eine Schulsparkasse an.
Erbrechen beim Putzen
Der schlechte Ruf der
Röschenzer Schule hatte noch einen weiteren Grund: Das Schulhaus war in einem
katastrophalen Zustand. Es regnete durch das Dach, und an heissen Sommertagen
stank es im ganzen Schulhaus nach Fäkalien. Die Toiletten hatten keine
Wasserspülung, die Exkremente fielen einfach durch ein Rohr. «Ich denke gern an
das zuverlässige Abwart-Ehepaar Hans Borer-Neuschwander, das nach Feierabend
täglich diese Toiletten putzte. Frau Borer musste dabei manchmal erbrechen»,
schreibt Piatti in einem mehrseitigen Text, den er für das lokale Jahrbuch
zusammengestellt hat, und der im Infoblatt der Gemeinde veröffentlicht wird.
Erfreulicherweise wurde
das Schulhaus kurz nach Piattis Schulantritt renoviert, was jedoch zu anderen
Problemen führte. Der Unterricht musste in zwei kargen Sälen im Restaurant
Rössli und im Restaurant Sonne abgehalten werden. Aus Platznot wurden laut
Piatti alle Klassen 100 Stunden zu wenig unterrichtet.
Obwohl er bereits im
Vorfeld auf mögliche Folgen hingewiesen und den Gemeinderat persönlich in die
Verantwortung genommen habe, sei der Missstand nicht behoben worden:
«Tatsächlich hat in diesem Frühling keiner unserer Mittelschüler die
Aufnahmeprüfung für die Sekundarschule in Laufen bestanden», erzählt Piatti.
In einem kleinen Dorf zur
Schule zu gehen, sei für die Schulkarriere generell nicht förderlich gewesen:
«Die meisten Sekundarschüler stammten aus Laufen selbst, da dort die besseren
Bedingungen an der Mittelschule herrschten. Eine Klasse bestand beispielsweise
nicht aus mehreren Stufen.»
Lehrplan 21 und
Schulreformen
Integrative Schule war in
den 50ern ohne grosse Worte selbstverständlich – für verhaltensauffällige
Kinder gab es selten Sonderbehandlung: «Ich hatte einen Jungen in meiner
6. Klasse, der vom Alter her in die 9. gehörte, jedoch nur den Stoff der
2. Klasse bewältigen konnte. Unterstützung gab es keine. Zum Glück hat er
nicht gestört», erinnert sich Piatti. Andererseits wurden behinderte Kinder
teilweise radikal vernachlässigt: «Es gab in Röschenz behinderte Kinder, die
einfach nicht in die Schule geschickt wurden und keinerlei Ausbildung
erhielten. Ich habe erfolglos versucht, mit den Eltern zu sprechen. Im Dorf
wurde der Umstand geduldet.»
Das heutige Konzept der
integrativen Schule findet Piatti theoretisch ideal – «so ist auch das
Leben». Obwohl er selber damals gerne Unterstützung erhalten hätte, findet er
die vielen Spezialisten, die heutzutage im Schulzimmer ein- und ausgehen und
die Kinder bereits im Kindergartenalter kategorisieren, jedoch problematisch.
Ähnlich wie mit zu
integrierenden Kindern ging man mit ausländischen Schülern um, den Kindern der
italienischen Arbeiter. Spezialunterricht gab es keinen: «In der Pause habe ich
versucht, diesen Schülern Deutsch beizubringen. Bei einigen hatte ich damit
Erfolg, vor allem bei Mädchen. Andere sassen jedoch jahrelang apathisch im
Schulzimmer.» Fremdsprachen, geschweige denn Frühfremdsprachen waren in der
Primar- und Oberschule kein Thema. «Nur wer es in die Sek schaffte oder das
Geld für eine Privatschule aufbringen konnte, erhielt solchen Unterricht», sagt
Piatti. Schüler aus einfachen Verhältnissen wurden zu einem Bauern oder in ein
Haushaltsinstitut ins Welschland geschickt.
Das aktuelle Gezerre um
den Lehrplan 21 verfolgt Piatti aus der Distanz.Dass das Baselbiet ein
«Sonderzügli» fahren will, missfällt ihm: «Das reine Schulwissen ist bereits
wieder überholt, wenn man die Schule verlässt. Viel wichtiger ist es,
Kompetenzen zu erlernen, was der Lehrplan 21 vorsieht.»
Ob er unter den heutigen
Umständen wieder Lehrer werden würde? «Heute, mit der Digitalisierung, braucht
es andere Lehrer als damals. Jede Zeit hat ihre Menschen.»
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