10. Mai 2016

Das Märchen von den Sammelfächern

Die Zahl sieben war bereits in der babylonischen Kultur Zeichen für Wissbegierde und Vollkommenheit. Die Zahl sieben trägt, was vollendet ist. Nicht von ungefähr begegnet uns diese Zahl auf vielfältige Weise: sieben Wochentage, sieben Weltwunder, sieben Tugenden oder in Märchen wie «Schneewittchen und die sieben Zwerge». So manches Märchen lesen wir auch über die Sammelfächer. Wer dagegen ist, fördere zu wenig das vernetzte Denken, schaffe eine Bildungsinsel oder sei einfach ein müder Lehrer, der sich gegen Reformen stellt. Ich frage mich: «Spieglein, Spieglein an der Wand» – was ist das Beste für die Bildung in unserem Land?
Schneewittchen und die sieben Einzelfächer, Basler Zeitung, 10.5. von Pascal Ryf


Heute haben Sekundarschüler je zwei Lektionen Geschichte und Geografie pro Woche. Das neue Sammelfach «Räume, Zeiten, Gesellschaft» (RZG) käme insgesamt auf lediglich drei Wochenlektionen zu stehen. Ebenso sollen die Fächer Biologie, Che­mie und Physik zum Fächerverbund «Natur und Technik» zusammengeführt werden.

Praktizierende Lehrpersonen sind oft nicht in allen Fächern eines Fächerverbundes ausgebildet. Abhilfe schafft die Pädagogische Hochschule FHNW mit einem Zertifikatslehrgang: Wer in einem der Fächer Biologie, Chemie oder Physik ausgebildet ist, belegt den CAS (Certificate of Advanced Studies) «Fachdidaktik Natur und Technik». ­Sieben Samstage genügen, und die Ausbildung zum Chemielehrer ist vollendet – dies wohl nicht ganz im Sinne des babylonischen Zeichenverständnisses. Dazu kommen noch drei Tage Schulpraktikum und eine Abschlussarbeit. Zum Schnäppchen von 11 130.00 Franken, der finanzstarke Kanton Baselland übernimmt die Kosten, können auch noch die Module Physik oder Biologie besucht werden. Ein Schelm, wer hier an eine Schnellbleiche denkt. Der ganze Kurs wird mit 15 Kreditpunkten (ECTS) ausgewiesen. Für ein Bachelorstudium in Chemie als Nebenfach werden an der Universität 60 Kreditpunkte verlangt!

Ein guter Schulunterricht erfordert fachlich sattelfeste Lehrpersonen und nicht Generalisten, die von allem ein wenig, aber von nichts viel wissen. Lehrpersonen mit unzureichender fachlicher und fachdidaktischer Kompetenz sind nicht nur eine Gefährdung für die Unterrichtsqualität und das Ansehen des Berufsstandes, sondern insbesondere im Fach Chemie ein veritables Sicherheitsrisiko. Auch kommen Disziplinarprobleme häufiger vor, wenn ein Lehrer seiner Aufgabe nicht gewachsen ist. So erstaunt es auch nicht, dass in einer Umfrage des Lehrervereins Basel-Landschaft 73 Prozent aller Sekundarlehrpersonen sich gegen die Sammelfächer ausgesprochen haben. Nicht weil sie Angst vor weiteren Reformen haben, sondern weil sie das Risiko des Bildungsabbaus höher einschätzen als einen möglichen Gewinn.
Lehrer denken interdisziplinär
Trotz anderslautenden Behauptungen sind die Einzelfächer mit dem Lehrplan 21 kompatibel. Dieser verlangt nämlich nicht, dass in Integra­tions­fächern unterrichtet werden muss. Auch das Schreckgespenst der «Bildungsinsel» greift zu kurz: Während im Kanton Aargau zwar in der Realschule (Niveau A) naturwissenschaftliche Fächer im Integrationsfach «Realien» unterrichtet werden, findet in der Sekundar- und Bezirksschule (Niveau E/P) Unterricht in Einzelfächern statt.

Vernetztes Denken ist nicht an Sammelfächer gebunden. Sehr wohl vorausgesetzt ist dafür aber das ganzheit­liche Beherrschen seiner Bausteine und Werkzeuge. Auch heute entwickeln engagierte Lehrpersonen Unterrichtseinheiten, in denen sie zwei oder drei Fächer verbinden. Statt Geografie und Geschichte in das enge RZG-Korsett zu zwingen, können im Geschichtsunterricht auch Bezüge zu Musik, Politik, Kunst oder Literatur geschaffen werden. Diese Interdisziplinarität ist höchst spannend, deswegen verlangt aber niemand, Geschichte und Deutsch in ein Sammelfach zu integrieren.

Befürworter von Sammelfächern führen gerne wissenschaftliche Studien ins Feld, um ihre Argumente zu unterlegen. Doch ebendiese Publikation in «Science Education between Science and the Teaching» kommt zum Schluss, dass «fächerübergreifender naturwissenschaftlicher Unterricht im Pisa-Test zu den gleichen Resultaten führt wie gefächerter Unterricht», und dass «es politisch einfacher ist, bei einem Integrationsfach zu sparen als beim Zweistundenfach Physik».

Wenn also Lehrpersonen schlechter ausgebildet, Geografie und Geschichte um eine Wochenlektion abgebaut, Sammelfächer als Sparmassnahme durchgesetzt werden, der Kanton Millionen für Schnellbleichen ausgeben soll und für die Jugendlichen kein Mehrwert entsteht, fällt es leichter, ans Schneewittchen zu glauben als an einen Bildungszuwachs. «Spieglein, Spieglein an der Wand» – die Wähler im Kanton Baselland haben es in der Hand.

Pascal Ryf ist ­Schulleiter der ­Primarschule Allschwil und CVP-Landrat.


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