Schule Graubünden

Unter dem Titel "Schule Graubünden" habe ich meine Beiträge für den Schulblog der Südostschweiz gesammelt. Die Texte entstanden zwischen August 2013 und März 2015



Reformen als Schaufensterdekoration der Schule, 3. März 2015

Eine Reform ist laut Definition eine planvolle und gewaltlose Umgestaltung bestehender Verhältnisse mit der Absicht, die Dinge zu verbessern. Wir sind uns alle einig, dass Reformen, besonders in der Schule, beliebt und zweifellos auch dringend nötig sind. Doch wird heute immer mehr am Gerüst herumgebastelt und das dann als Bildungsreform verkauft. Harmos, z.B., lässt sich der Kanton Basel-Stadt in den nächsten Jahren fast 1 Milliarde Franken kosten. Das sind aber nur die baulichen Massnahmen, die für die Umsetzung auf das System 6 Jahre Primar / 3 Jahre Sekundar notwendig seien. Es werden Strukturen und Hierarchien geschaffen, die bewirtschaftet werden wollen. So wird denn das Netz der Kontrolle immer engmaschiger, die Bürokratie triumphiert. Der Lehrer wird vom Schulleiter, der vom Schulrat und Inspektorat, das wiederum vom Amt kontrolliert. Das Amt wird vom Erziehungschef kontrolliert und ich bin sicher, dass auch der bei jemandem den Kopf hinhalten muss. Verfolgen Sie mal, wie in Ihrer Gemeinde die Pensen der Schulleitungen in den letzten Jahren gestiegen sind – bei sinkenden Schülerzahlen, notabene!

Reformen über Reformen – und immer im Namen der Bildung. Da kann man doch nicht dagegen sein, oder? Während seit Jahren bekannt ist, dass 20 Prozent der Knaben die obligatorische Schule verlässt, ohne wirklich lesen und schreiben zu können, werden bei uns Hochglanzprospekte für Leitbilder gedruckt. Leitbilder, Evaluationen, Qualitätskontrolle: die Schule hat sich zu einem Wirtschaftsfaktor entwickelt. Doch Schule ist nicht Wirtschaft, Schulleiter keine Firmenchefs und Lehrer keine Angestellten, die nach einem fremdbestimmten Arbeitsplan arbeiten. Mit Schule kann man Geld machen. Doch dieses Geld landet nicht in den Klassenzimmern. Dort können, nach Auskunft der Lehrmeister, immer weniger Schüler das simple Einmaleins.

Auch die Lehrer sollen nicht mehr selbstständig unterrichten, sondern nur noch da und dort die Maschine ölen, wenn sie stockt. Sie werden zunehmend zu Coaches degradiert, deren Aufgabe es ist, möglichst heterogene Schülergruppen den Schulstoff individuell bearbeiten zu lassen – das nennt sich dann „Förderorientierung“. Die Beurteilung findet in kleinen, überprüfbaren Häppchen, den vielbeachteten Kompetenzen, statt. Das Ganze wird uns als Reform verkauft, unabhängig davon, ob es auch wirklich zu einer Verbesserung führt oder nicht. Die Verbissenheit, mit der der Lehrplan 21 an allen guten Argumenten vorbeigeschleust wird, sollte eigentlich hellhörig machen. Wir wissen schon seit längerer Zeit, dass z.B. der bei uns praktizierte Frühfremdsprachenunterricht (Schönsprech: Sprachbad) nichts bringt. Ich kenne keine Primarlehrerin, die nicht unter der grossen Heterogenität in ihrer Klasse stöhnt. Trotzdem gilt es nun, die Heterogenität durch Altersdurchmischung (Schönsprech: Lernlandschaften) weiter zu erhöhen. Doch ist der Schritt zurück zu einem Lehrer für mehrere Klassen wirklich ein Fortschritt? Die oben erwähnten Entwicklungen geschehen unter den anerkennenden Augen eines Lehrerverbandes, der lieber pädagogisch bankrott geht, als sich dem Anschein von Reformkritik auszusetzen. Denn wer bei dem ganzen Trallala von Reformen Fragen stellt, gilt schnell als konservativ und veraltet. Wer hingegen kritiklos mitmacht, der gilt als fortschrittlich und bekommt die Lorbeeren. So einfach läuft das bei uns.

Ich habe in den vergangenen Beiträgen immer wieder auf Missstände hingewiesen, dies ist mein letzter. Jetzt liegt es an den Eltern, Bürgern und der Politik endlich zu handeln. Genug der Selbstbeweihräucherung. Wir brauchen keine Lobreden für die Bündner Schule, sondern die Dinge müssen beim Namen genannt werden. Zur Erinnerung nochmals eine Auswahl von Handlungsfeldern: Chancengerechtigkeit bei Aufnahmeprüfungen und zweisprachigen Schulen (z.B. Chur), die völlig verkachelte integrative Förderung, Hochdeutsch und Förderwahn im Kindergarten, der Lehrplan 21 und der Wildwuchs der Bildungsbürokratie, die zweifelhafte Ausbildungsqualität an der PHGR, die Krise der Bündner Mittelschulen, die Heuchelei mit den Fremdsprachen und das faktenresistente altersdurchmischte Lernen. Das sollte eigentlich reichen.




Das grosse Gähnen, 27. Januar 2015

Morgenstund hat Gold im Mund – das geflügelte Wort aus agrarisch geprägten Zeiten wirkt sich bis auf den heutigen Schulalltag aus. In kaum einem anderen europäischen Land ertönen die Schulglocken so früh wie in der Schweiz. An der Oberstufe ist es die Regel, dass der Unterricht um 7.30 Uhr (oder sogar noch früher) beginnt. Falls die Jugendlichen aus verschiedenen Dörfern anreisen – an der Sekundarschule und an Gymnasien die Regel -  bedeutet dies Tagwache um 6.15 Uhr oder noch früher. Während dies in Graubünden als naturgegeben hingenommen wird, beginnt sich andernorts Widerstand zu regen.

Der St. Galler Sekundarlehrer und BDP-Kantonsrat Richard Ammann reichte einen Vorstoss ein mit der Forderung, den Schulstart auf 8 Uhr zu verschieben. Ammann findet einen früheren Start nicht jugendgerecht. «80 Prozent der Firmen nehmen am Morgen vor acht Uhr kein externes Telefon ab», sagt Ammann. Studenten an Universitäten würden frühestens um acht Uhr Vorlesungen zugemutet – als «passive Zuhörer». Volksschüler dagegen müssten bereits kurz nach sieben Uhr «aktiv» am Unterricht teilnehmen – «das ist paradox». Ammann ist nicht alleine: Bereits hat Basel-Stadt eine Anpassung der Startzeiten beschlossen und die Stadt Bern prüft eine entsprechende Regelung.
Seitens der Wissenschaft weist die Lernforscherin Elsbeth Stern darauf hin, dass  die meisten Kinder früh morgens wenig leistungsfähig sind. Forschungen zeigen, dass besonders Jugendliche nur sehr schwer in Schwung kommen. Die Wissenschaft plädiert deshalb für einen späteren Schulbeginn. Eine Basler Untersuchung kommt zum Schluss, dass sich eine längere Schlafdauer positiv auf die Schulleistungen auswirkt. 

Doch, ist das Ganze nicht einfach ein weiterer Versuch, das Leistungsniveau zu drücken und den Schülern alle Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen? Schliesslich soll die Oberstufe auf den späteren Berufsalltag vorbereiten. Doch was für einen Fabrikarbeiter oder einen Buschauffeur von Belang ist, muss nicht auch für einen 13-Jährigen gelten, der mitten in der Pubertät steckt. Viele Schweizer Schüler müssen heute früher aus dem Haus als ihre berufstätigen Eltern. Da müssten doch Bildungsverantwortlichen ein Fragezeichen setzen, findet Christian Cajochen, der Leiter der Abteilung Chronobiologie der Universitären Psychiatrischen Klinik Basel.

Wie könnte die ausfallende Frühlektion kompensiert werden? Es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Eine verkürzte Mittagspause oder einen (noch) längeren Nachmittag. Beide Varianten dürften nicht mehrheitsfähig sein. Doch das eigentliche Problem liegt in der Lektionszahl unserer Schüler. Diese ist im internationalen Vergleich sehr hoch. Mit dem Lehrplan 21 wurde die Chance verpasst, die Lektionentafel endlich zu entrümpeln. Da wird zwar ständig Neues (z.B. Primarfremdsprachen, Informatik, Tastaturschreiben, Wirtschaft, Sexualkunde, Berufswahlvorbereitung usw.) aufgenommen, doch alte Zöpfe werden nicht abgeschnitten, sondern weiter mitgeschleppt. Und so wächst dann die Wochenstundenzahl kontinuierlich an.

Am Anfang meiner Lehrerlaufbahn starteten wir um acht Uhr. Mit dem steigenden Angebot von Wahlfächern wurden diese dann vereinzelt vorverlegt. Anschliessend wurde der Samstag schulfrei, was den Stundenplan unter der Woche weiter füllte. Doch das Problem ist nicht der schulfreie Samstag. Die Schüler haben zu viele Lektionen und dies ist leider eine Folge von Konzeptlosigkeit und Fehlplanung auf Stufe der Bildungsadministration.

So ist denn ein späterer Morgen erst möglich, wenn endlich Konzepte für eine Straffung der Lektionszahl vorliegen. Doch daran wagt man in EDK-Kreisen gar nicht zu denken. Zu viel hat man in oberflächliche Kompetenzformulierungen – sprich Lehrplan 21 – gesteckt.




Inkompetenz und Co., 8. Dezember 2014

Eigentlich wollte ich mein Blogjahr bei der Südostschweiz mit ein paar zuversichtlichen Gedanken abschliessen, doch die Umstände bringen es mit sich, dass diese Kolumne nur drei Stellen enthält, die zum Lachen sind. Sie handelt im Wesentlichen von Inkompetenz, Fahrlässigkeit und Intransparenz. Doch schön der Reihe nach.

1. Die Inkompetenz
Die PH Graubünden hat einen neuen Rektor, und der lässt es gleich mal richtig krachen: Gian-Paolo Curcio, ein 38-jähriger Karrierist aus dem Wallis, verrät gegenüber der Südostschweiz am 8. November: „Es gibt keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, die darauf schliessen lassen, dass zwei Fremdsprachen zu viel wären“. Nun müsste man dem guten Mann vielleicht mal zuflüstern, dass niemand gegen zwei Fremdsprachen an der Volksschule ist. Seine Aussage ist also Wasser in den Rhein getragen. Wissenschaftlich bestens belegt ist aber der Unsinn, gleichzeitig zwei Fremdsprachen an der Primarschule lernen zu wollen. Während unsere fleissigen PH-Studenten eine Gehirnwäsche im Dauerberieselungsmodus über sich ergehen lassen müssen, hat Curcio aber immerhin Trost für alle Eltern, die sich mit dem Frühitalienisch ihrer Kinder herumschlagen. „Der Vorteil von zwei Fremdsprachen in der Primarschule liegt darin, dass die Kinder einen offenen und altersgerechten Zugang zu zwei Fremdsprachen erhalten und gleichzeitig für ihr künftiges Lernen von Sprachen motiviert werden“. Selten so gelacht. Nun aber weiter.

2. Die Fahrlässigkeit
Wenn Sie, geneigte Leser, Eltern von Kindern sind, die momentan die 1. Oberstufe besuchen, dann haben Sie sicher bemerkt, dass wir in Graubünden mit einem neuen Englischlehrmittel arbeiten. Es handelt sich dabei aber um eine Testversion, die in manchen Bereichen noch verbessert werden muss. Nun sind es zwei verschiedene Dinge, ob ich von einer Skimarke eingeladen werde, die neuen Latten Probe zu fahren oder ob mir der Kanton ein Probe-Lehrmittel vorsetzt. Letzteres ist eindeutig weniger angenehm. Trotzdem verteilt der Kanton Gratis-Testversionen von Lehrmitteln flächendeckend an alle Schulen und erklärt diese für verbindlich. Und nun kommt es ganz dick: Derselbe Jahrgang, der nun an der Oberstufe mit einem Probelehrmittel versorgt wird, hat sich bereits seit der 5. Primar mit Probelehrmitteln durchgehangelt. Die verantwortlichen Schreibtischtäter verstecken sich, das Problem wird ausgesessen. Ein schmackhaftes Menu: Mehrsprachendidaktik à la PHGR, mit sehr viel Offenheit zubereitet und als Beilage grüne Lehrmittel.

3. Die Intransparenz
In der Zwischenzeit wurde dem staunenden Publikum die 3. Version des Lehrplans 21 vorgesetzt. Zur Erinnerung: Die Schulen sollen künftig mit flächendeckenden Bildungsstandards vermessbar gemacht werden. Das bedeutet konkret schweizweite Tests, Einheitslehrmittel, weitere Stärkung der Administration.  Wogegen man sich innerhalb des Kantons heftigst wehrt (innerkantonale Vergleiche), das soll nun national plötzlich kein Problem mehr sein. Sofort stand der Lehrerverband zusammen mit dem Erziehungsdepartement bereit um dem abgeschottet erarbeiteten Projekt zu applaudieren. Man machte dies vorauseilend, um ja die Gegner meinungspolitisch abzuhängen. Von den 200‘000 Einwohnern des Kantons haben nicht 10 (zehn) die jüngste Version des Lehrplans gelesen, davon hat erst noch die Hälfte gar nichts zu sagen, weil sie Kritiker sind - und Kritikern hört man nicht zu. Diese Kritiker fordern nun, dass das Volk in Sachen Ausrichtung unseres Bildungssystems mitbestimmen soll. Kann man dagegen etwas haben? Natürlich, eine Angestellte des Basler Erziehungsdepartements vermutet, dass die Kritiker des Lehrplans einfach Angst vor Veränderungen hätten. Wer tatsächlich grosse Angst hat, das sind die Bildungsbürokraten in allen Kantonen. Ein Machtwort des Volkes könnte hier Wunder bewirken. Ach ja, zum Schluss noch etwas zum Schmunzeln von Martin Jäger:“Mit dem gemeinsamen Lehrplan erreicht man eine bessere Mobilität in der Schweiz“.











Spagat der Lehrerverbände, 4. November 2014
Letzte Woche haben die Erziehungsdirektoren der Kantone getagt und beschlossen, dass man am gegenwärtigen System mit zwei Primarfremdsprachen nicht rütteln wolle. Es soll also weiter gehen wie bisher: Ein immenser Verschleiss von Zeit und Geld ohne dass dabei ein Gewinn für die Schüler rausschaut. Der Entscheid fiel fast einstimmig (22:2) und löst Besorgnis aus, weil sich die Politiker weniger um das Sprachenlernen kümmerten, als darum, die Westschweiz zu beruhigen. Diese fühlt sich unverstanden, weil einzelne Kantone den Französischunterricht an die Oberstufe verschieben möchten, was letztlich eine Steigerung der Französischkenntnisse der Schüler zur Folge hätte. Die Westschweiz will also verhindern, dass die Deutschschweizer endlich passabel Französisch lernen – so absurd kann Schulpolitik sein. Man ging sogar so weit,  am Abend französische Lieder zu singen, um die Verbundenheit mit der Westschweiz zu unterstreichen. Interessant ist nun die Position der Lehrergewerkschaft LCH und dessen linientreuer Bündner Sektion LEGR. Der Deutschschweizer Lehrer-Dachverband LCH möchte es in der Frage der Fremdsprachen allen recht machen. Als Kompromiss-Lösung in der Kontroverse um die Fremdsprachenpolitik schlägt er vor, Französisch (oder für Graubünden Italienisch) ab 3. Primar und Englisch als Wahlfach ab 5. Primar zu unterrichten. Was ist von dieser Idee zu halten?
Die Sprachenstrategie der EDK aus dem Jahr 2004 sieht vor, dass bereits an der Primarschule zwei Fremdsprachen gelehrt werden. Die beiden Primarfremdsprachen sind auch Bestandteil von Harmos und des Lehrplans 21. In der Zwischenzeit werden von verschiedenen Seiten ernsthafte Zweifel am Sinn des frühen Fremdsprachenunterrichts geäussert. Aus wissenschaftlicher Sicht konnten die Vorteile des frühen Sprachenlernens nie nachgewiesen werden. Nun zweifeln auch immer mehr Lehrkräfte und Eltern aufgrund der gemachten Erfahrungen am Sinn dieses fatalen Experiments.
Mit seinem Wahlfach-Vorschlag übt der LCH den Spagat zwischen seiner Basis und den Erziehungsdirektoren und versucht angesichts der wachsenden Kritik zu retten, was noch zu retten ist. Dabei vergisst die Lehrerorganisation auch ihre eigenen „Gelingensbedingungen“ zum Fremdsprachenunterricht, die sie zur Beruhigung der Mitglieder jeweils hervorzaubert. Das Wahlfach-Modell für Englisch in der Primarschule überrascht aber in erster Linie wegen seines unausgereiften Konzepts, das neben vielen Risiken auch Kosten nach sich ziehen würde.
Mit der LCH-Forderung werden erstens die Weichen für die spätere Schulkarriere an der Sekundarstufe viel zu früh gestellt. Die Teilnahme am Wahlfach Englisch wird verständlicherweise als Grundlage für den späteren Selektionsprozess interpretiert. Der Druck, am Wahlfach teilzunehmen, wird besonders für weniger Sprachbegabte zu einer Last werden. Zweitens entscheiden ja nicht die Lehrkräfte über den Besuch des Wahlpflichtfaches, sondern die Kinder und besonders deren Eltern. Falscher Ehrgeiz der Eltern wird dazu führen, dass genau das eintritt, was man vermeiden wollte: überforderte Kinder. Doch da es sich um ein Wahlfach handelt, dürfen auch schwache Kinder nicht ausgeschlossen werden. Die Folge davon wird ein Unterricht sein, der sich aufgrund der grossen Heterogenität gar nicht so stark vom jetzigen unterscheidet.
Ein Wahlfach Englisch würde ausserdem an der Sekundarschule zu einer problematischen Zerstückelung des Klassengefüges führen. Es müssten nämlich sowohl die Sek- als auch die Realklassen in separierte Gruppen (mit und ohne Primarenglisch) unterteilt werden. An unseren Schulen wäre diese Unterteilung nicht nur kaum durchführbar, sie führte auch zu unverhältnismässigen Mehrkosten.
Ungeachtet der wissenschaftlichen Evidenz, die dem frühen schulischen Fremdsprachenlernen wenig Erfolgschancen zuspricht, löst der Wahlfach-Vorschlag keine Probleme. Er schafft im Gegenteil viele neue. Letztlich handelt es sich dabei um ein teures Rückzugsgefecht einer aus den Fugen geratenen Sprachenförderung. 










Was die Schule erreichen muss, 30. September 2014

Ein Maturand schreibt mir: “Kannst du mich am Bahnhof hohlen?”. Wie schlimm ist es, wenn Jugendliche nach dem Gehör schreiben und sich nicht mehr an Regeln halten? Was ist wichtiger: der Inhalt oder die sprachliche Form?

In jüngster Zeit erlebten wir in der Schule die grosse Gegenbewegung zu der als zu formalistisch kritisierten Ära der Vorherrschaft der Rechtschreibung über den Inhalt. Deutschnoten wurden nämlich zu einem beträchtlichen Teil von der Fähigkeit, korrekt zu schreiben, bestimmt. Heute werden Fehler nicht mehr als so schlimm betrachtet, Hauptsache die Kinder können sich ausdrücken und sich verständigen. Der Inhalt drängt sich vor die formale Korrektheit – auch wenn man nichts zu sagen hat. So entsteht dann warme Luft gespickt mit Fehlern. Dabei geht leicht vergessen, dass auch die Form Inhalte transportieren kann. Wie im Leben gilt auch für die Sprache, dass manchmal die Verpackung sogar wichtiger als der Inhalt ist.

Seit Generationen beklagen sich Lehrer über die schlechten Kenntnisse ihrer Schüler in der Rechtschreibung. Das ist nichts Neues. Wenn man der Gesellschaft für deutsche Sprache glauben will, dann haben sich die Rechtschreibkenntnisse der Bevölkerung in den letzten 20 Jahren nicht verschlechtert. Wörter wie ‚Lebensstandard‘ oder ‚Rhythmus‘ konnten sowohl früher wie heute nur von einer Minderheit korrekt geschrieben werden. Wenn sich die Rechtschreibung also nicht verschlechtert hat, muss allerdings festgestellt werden, dass sie sich auch nicht verbessert hat. Angesichts der Explosion der höheren Bildungsabschlüsse hätte man eigentlich etwas anderes erwarten dürfen.                    


Eines ist klar: Die Rechtschreibereform zu Beginn des Jahrhunderts hat nicht geholfen. Sie legte den Grundstein für eine Beliebigkeit, die zu Unsicherheit und schliesslich zu Gleichgültigkeit führte. Noch immer unklar sind beispielsweise die Kommasetzung, die Getrennt- und Zusammenschreibung oder die Worttrennung am Zeilenende. Wenn selbst Zeitungen sich für unterschiedliche Regeln entscheiden, wo sollen denn wir Normalbürger uns noch orientieren?

Doch das ganze Elend nur mit der gescheiterten Rechtschreibereform zu erklären, greift zu kurz. Der anfangs erwähnte Fehler ist bei allen Varianten der Rechtschreibung falsch. Mittlerweile spricht man sogar an den Universitäten von einem „Sprachnotstand“. Studenten können nicht mehr genau formulieren, Abschlussarbeiten zeigen grosse Mängel an sprachlicher Ausdruckfähigkeit, gepaart mit zahllosen plumpen Rechtschreibefehlern.

Regeln schränken die sprachliche Bewegungsfreiheit zwar ein, doch geben sie gleichzeitig Stütze und Sicherheit. Wer mal den Unterschied zwischen ‚das‘ und ‚dass‘ begriffen hat, nutzt die gewonnene Sicherheit für präzisiere Konstruktionen. Dass jeder fünfte Schüler am Ende der obligatorischen Schulzeit weder lesen noch schreiben kann, ist nicht nur ein bildungspolitischer, sondern auch ein sozialpolitischer Skandal. Und der geht nach der Schule weiter: In der Schweiz haben laut der internationalen ALL-Erhebung (Adult Literacy and Lifeskills) rund 800‘000 Erwachsene Probleme mit der Alltagssprache. Sie können nicht (richtig) lesen oder schreiben.

Wo liegen die Ursachen? Bisher wurde versucht, der grassierenden Rechtschreibeschwäche mit individualisierter Didaktik, neuen Unterrichtsmethoden, noch mehr Fehlertoleranz und dem Einbezug von Laptops und Tablets zu begegnen. Dass es gerade diese Massnahmen sind, welche die Probleme mitverursacht haben könnten, darauf kommen die wenigsten. Der beste Rechtschreibeprüfer ist nutzlos, wenn man Grundsätzliches nicht beherrscht.

Wir stehen an einem entscheidenden Punkt: Die Schule muss den Schülern rechnen, lesen und schreiben beibringen. Wir dürfen es nicht zulassen, dass ein beträchtlicher Teil unserer Jugend die Schule ohne solide Kenntnisse in diesen drei Kulturtechniken verlässt. Das ist das Minimalziel, das wir in der Schule zu erfüllen haben. Dafür müssen wir kämpfen, dafür müssen wir (endlich) Prioritäten setzen.








Frühfremdsprachen: keine Argumente, keine Perspektiven, kein Erfolg, 25. August 2014

Jetzt sind die Lehrerinnen und Lehrer, die Grossrätinnen und Grossräte und der Lehrerverband gefordert: Es müssen endlich Nägel mit Köpfen gemacht werden! Das Schweizer Sprachenkonzept ist nicht für die Politiker und Sprachorganisationen geschaffen worden, sondern für unsere Kinder. Wollt ihr noch länger zuschauen, wie eine Generation sprachlich verheizt wird? Denn niemand bestreitet mehr ernsthaft, dass frühes schulisches Sprachenlernen ein Flop ist.
Auch Jahre nach der Einführung der Primarfremdsprachen – garniert mit vielen leeren Versprechungen - verordnet man unbrauchbare Lehrmittel, bildet Lehrkräfte weiter und stellt immer mehr Teilzeitlehrkräfte für den Fremdsprachenunterricht ein. Doch die Unzufriedenheit bei Lehrern und Eltern bleibt. Auch die jüngsten Studien aus den Pädagogischen Hochschulen Thurgau und Schaffhausen zeigen, was man schon lange hätte wissen müssen: Das frühe Erlernen von Fremdsprachen an der Schule bringt nichts. Zu kurz ist die Kontaktzeit mit der Sprache, zu gross die Klassen, zu mangelhaft die Fähigkeiten der Lehrer. Ältere Schüler lernen schneller und besser.

Gehandelt hat man im Kanton Thurgau. Dort streicht man eine Fremdsprache in der Primarschule. Darauf haben die reflexartigen Zeter und Mordio-Schreie der Politiker begonnen. Diese befürchten den Untergang der Schweiz, wenn Französisch (von Italienisch spricht übrigens niemand) vom Primarstundenplan gestrichen wird. Die jurassische Bildungsdirektorin Elisabeth Baume-Schneider (CVP) ist entrüstet. Der Thurgauer Entscheid sei "schädlich". Der Berner Erziehungsdirektor Bernhard Pulver (Grüne)erinnert mahnend an Belgien. Auch EDK-Chef Christoph Eymann (LPS) bedauert den Entscheid: Die Abschaffung des Frühfranzösisch gefährde den Zusammenhalt des Landes. Doch die orchestrierten Rufe unserer hyperventilierenden Bildungspolitiker sind heuchlerisch: Primarfranzösisch (oder –italienisch) ist keine Schicksalsfrage für unser Land. Die Schweiz bricht nicht auseinander, wenn der Unterricht in einer Landessprache zwei Jahre später beginnt. Das gilt besonders auch für Graubünden, wo Deutschbünden als letzte Region mit den Primar-Fremdsprachen begonnen hat. Entscheidend ist nicht, wann man beginnt, sondern was man am Ende der Schulzeit kann. Der Entscheid des Thurgauer Kantonsparlaments ist deshalb keinesfalls eine Absage ans Französisch oder gar der Beginn der Auflösung der Eidgenossenschaft. Thurgau schafft die Grundlage für eine Schulsprachenpolitik, die vermehrt auf Qualität setzt. Mit dem neu gewonnenen Platz in der Stundentafel der Primarschule und einem kompetenten Französischunterricht an der Oberstufe wird die Thurgauer Jugend den Rest der Deutschschweiz und auch die Westschweiz bald positiv überraschen.

Der Kanton Thurgau ist nicht alleine. Im Aargau verzichtet man vorläufig bis 2020 auf Primarfranzösisch und Appenzell Innerrhoden hat gar nie damit begonnen – ohne dass diese Schüler deswegen an weiterführenden Schulen gegenüber ihren Kollegen benachteiligt gewesen wären. Initiativen in den Kantonen Luzern, Nidwalden und Graubünden (ja, für einmal sind wir in der Spitzengruppe!) stehen an. Also, jetzt bitte handeln! Unsere Jugend schuldet dem Staat keinen Fremdsprachenunterricht, der nichts bringt und trotzdem viel Geld verschlingt. Der Staat hat im Gegenteil dafür zu sorgen, dass die Kinder, ihre Eltern und Lehrkräfte mit Frühfremdsprachen nicht länger für dumm verkauft werden.







Stell dir vor, die Schule mache Blödsinn und die Eltern wehrten sich, 21.7. 2014

Eltern sind geduldig. Es braucht viel, bis sie sich organisieren und sich gegen Schulprojekte wehren. Kürzlich war es wieder so weit: In einer Zürcher Gemeinde bildete sich ein Elternkomitee, welches das altersdurchmischte Lernen (AdL) bekämpft. Mit guten Argumenten. Auch die Lehrer haben genug: In einem Schulhaus kündigten 13 von 30 Lehrern. Sie wollten nicht länger als Lerncoach in einer AdL-Umgebung arbeiten.

Altersdurchmischtes Lernen ist in der Schweiz gerade im Trend. Hunderte von Schulklassen stellen jedes Jahr vom Jahrgangsunterricht auf den gemischten Unterricht um. Diese Entwicklung wird wohlwollend vom Schweizer Lehrerverband (LCH) begleitet. Der Leiter der pädagogischen Arbeitsstelle beim LCH verkündet stolz, dass auch im Thurgau über die Hälfte der Kinder in AdL-Klassen unterrichtet würden. Im Gegensatz zum traditionellen Schulmodell, das Kinder nach Jahrgängen zusammenfasst, setzen sich altersdurchmischte Klassen aus zwei oder mehr Jahrgängen zusammen. In der Theorie profitieren alle Kinder voneinander. Dass ihnen das Modell schulisch tatsächlich entgegenkommt, konnten Untersuchungen bisher jedoch nicht erhärten. Altersdurchmischte Klassen würden «Heterogenität als Lernchance für individualisierendes und integratives gemeinsames Lernen nutzen», heisst es in einem Papier der Pädagogischen Hochschule an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Das mag unter Laborbedingungen der Fall sein. Dass sie in der harten Realität für die Kinder besser sind als einzelne Klassenzüge, ist keineswegs bewiesen.

AdL ist, wenn sich Kinder aus Schutz vor dem Lärm im Unterricht einen Armee-Gehörschutz der Marke „Pamir“ anziehen dürfen. Doch nicht alle Kinder wollen unbedingt etwas lernen in der Schule. Wer kann es ihnen übelnehmen, wenn sie, während die Lehrerin als Lerncoach von Gruppe zu Gruppe eilt, genüsslich die Panini-Sammlung durchsehen und neu sortieren?  Ich habe noch keine Primarlehrerin getroffen, die nicht unter der Last der grossen Heterogenität in ihrer Klasse gestöhnt hätte. Dazu kommt noch die Belastung, möglichst alle Kinder zu integrieren und individuell zu fördern. Nun soll also durch AdL die Heterogenität künstlich noch weiter erhöht werden. Was soll das?

Es gibt Eltern, die sich nicht länger an der Nase herumführen lassen (http://www.elternfuereinegutevolksschule.ch) und sich organisieren. Denn wer heute in der Schule progressiv sein will, muss konservieren. Deshalb gilt: Wenn die Schule Blödsinn macht, dürfen sich die Eltern wehren.









Voodoo-Bildungspolitik, 16.6. 2014

Im Kanton Aargau wird (wie im Kanton Zürich) im Kindergarten wieder grundsätzlich Mundart gesprochen. Das Volk sagte kürzlich deutlich ja zu einer entsprechenden Initiative - gegen massiven Widerstand der grössten Parteien und der selbsternannten Bildungsexperten. Sie alle, Lehrerverein, Erziehungsdepartement und PH tanzten wie Voodoo-Tänzer um das von den Medien immer wieder neu entfachte magische Feuer der Sprachförderung. Dabei wiederholten sie die immer gleichen Beschwörungsformeln: „Hochdeutsch im Kindergarten schärft das Sprachbewusstsein!“ „Die Kinder können beide Sprachformen sauber trennen!“ „Hochdeutsch kommt den Kindern in der Schule und nachher im Beruf zugute!“ Doch all dies ist pure Spekulation. Es existieren keine empirischen Daten zu diesen gewagten Experimenten mit unseren Kindern. Nach heutigem Wissensstand ist die Wirkung von Hochdeutsch im Kindergarten nach zwei Jahren wieder verpufft. Hochdeutsch im Kindergarten ist bewusste Desintegration von Fremdsprachigen. Und weshalb sollen ausgerechnet Kindergärtler die PISA-Deutschschwächen von Schulabgängern kompensieren? Der ganze Hochdeutsch-Zauber im Kindergarten ist von der Bevölkerung als solcher identifiziert worden. Die Aargauer löschten diesen Hokuspokus mit kaltem Wasser. Der Spuk ist vorbei!

Was hat dies alles mit Graubünden zu tun? Auch unsere Voodoo-Pädagogik wird von LEGR, Erziehungsdepartement und PHGR unter dem Deckmäntelchen von Fortschritt verkauft.
Bei uns haben sogar die Kindergärtnerinnen selbst (!) das Hochdeutsche gefordert. Es wird jetzt also mal vormittags, mal nachmittags Hochdeutsch gesprochen. Da gibt sich ein Berufsstand solche Mühe, endlich ernst genommen zu werden und eines Tages gleich viel wie Primarlehrer zu verdienen. Gleichzeitig demontiert man die eigene Aufgabe gleich selbst. Es ist nicht der Auftrag des Kindergartens, dass die Kinder möglichst viel Hochdeutsch hören. Das bekommen sie zuhause am Fernsehen in besserer Qualität geliefert. Wie wäre es, wenn die Kindergärtler so auf die Schule vorbereitet würden, dass sie in der Lage sind, sich zu konzentrieren und ohne ständige Ablenkungen den Schulalltag meistern könnten? Ich glaube, für einen guten Schulstart wäre damit mehr getan.









Ein kleiner Test, 11. Mai 2014

Wenn Lehrer nicht mehr weiter wissen, dann lassen sie eine Prüfung schreiben. Okay, machen wir auch. Hier also meine Testfragen für die guten Schüler unter Ihnen.

1. Seit wann wird in Deutschbünden Italienisch in der Primarschule unterrichtet?
2. Um wie viel ist seither der kantonale Zusammenhalt gestärkt worden?
3. Was ist wichtiger: der kantonale oder der nationale Zusammenhalt?
4. Wie viele verschiedene Lehrmittel wurden für den Italienischunterricht an der Primarstufe bisher verwendet?
5. Unter welcher Bedingung wurde der Italienisch-Unterricht seinerzeit eingeführt?
a) Damit die Motivation hoch bleibt, geniessen die Schüler regelmässig italienische Spezialitäten.
b) Italienisch soll ein Plauschfach sein, es dürfen deshalb keine oder nur ganz einfache Prüfungen gemacht werden.
c) Wer schon Italienisch kann, darf früher nach Hause gehen.
6. An welche Altersgruppe wendet sich das Italienisch-Lehrmittel „Espresso“ der Oberstufe?
a) Primarschüler
b) Oberstufenschüler
c) Erwachsene
7. Welchen Ausdruck müssen die Primarschüler obligatorisch lernen? 
a) mit einem Känguru jassen
b) auf einer Kuh reiten         
c) mit einem Bären tanzen
8. Welche Kenntnisse haben die Schulabgänger nach sieben Jahren Italienisch-Unterricht?
9. Finden Sie dies (Antwort auf Frage 8) nicht auch schade? Was würden Sie dagegen tun?
a) Beginn des Italienisch-Unterrichts ab der 1. Primar und gleichzeitige Verdoppelung der Lektionszahlen.
b) Intensive Weiterbildung der Lehrkräfte und sofortige Überarbeitung der Lehrmittel.
c) Verschiebung des Italienisch-Unterrichts an die Oberstufe.
10. Wie viele Lektionen anderer Fächer mussten wegen dem Italienisch-Unterricht in der Primarschule gestrichen werden?
a) 152
b) 304
c) 456


Die Antworten können Sie im angehängten Kommentar lesen.






Antworten
1. Seit 2001.
2. Schwierig zu sagen, tendenziell würde ich sagen, ist er geschwächt worden.
3. Individuelle Antworten möglich.
4. Drei (und keines vermochte die Lehrpersonen zu überzeugen). Es gibt Kinder, die innert vier Jahren dreimal mit einem neuen Lehrmittel wieder ganz von vorne begonnen haben. An der Oberstufe wird im August das zweite Lehrmittel eingeführt. Nach über zehn Jahren schaffen wir es aber noch immer nicht, den Übergang von der Primar an die Oberstufe mit aufeinander abgestimmten Lehrmitteln zu erleichtern.
5. b) Die Begegnungssprache Italienisch sollte weder benotet noch zur Selektion benutzt werden.
6. Erwachsene. OK, das war ja einfach – Trefferwahrscheinlichkeit 50%.
7. b) – tatsächlich!
8. Antwort: Fragen Sie Ihre Kinder oder Ihnen bekannte Jugendliche und scheuen Sie deren Antwort nicht. Offizielle Antworten (es gab Evaluationen durch die PHGR) sind nicht öffentlich erhältlich.
9. a) Wird nicht viel bringen, aber noch mehr Probleme für die anderen Fächer produzieren
b) Seit Einführung des Primaritalienisch werden die Lehrer andauernd weitergebildet. Auch die Lehrmittel werden ständig erneuert. Offenbar gibt’s nichts Schlaues.
c) Die Lösung, welche andere Fächer nicht belastet, die Kompetenzen der Schulabgänger gegenüber heute stärkt und die erst noch Kosten spart.
10. b) – Das entspricht etwa der Anzahl Deutschlektionen von zwei Jahren.












Idee, Mikrophon, Sprechen, Denken, 7. April 2014
In einem Interview mit dem Schweizer Fernsehen fordert der Präsident der Schweizer Schulleiter Austauschprogramme mit der Westschweiz: "Alle Deutschschweizer Schüler sollten die Möglichkeit haben, während ihrer Schulzeit ein paar Wochen oder Monate im Welschland zu verbringen und umgekehrt“. Damit soll das drohende Auseinanderbrechen der Schweiz abgewendet werden. Tönt gut. Auch wenn der Sprachunterricht nicht prioritär da ist, um unser Land zusammenzuhalten. Auch wenn unser Land gar nicht so stark vom Zerfall bedroht ist, wie uns das Bundesrat Berset weismachen will. Sprachaufenthalte schaffen Kontakte, Kontakte schaffen Motivation, Motivation fördert das Sprachenlernen.

Schauen wir uns den Vorschlag „Austauschprogramme“ genauer an. Solche Programme existieren seit Jahrzehnten. Eine Deutschschweizer Klasse besucht eine Partnerklasse im Welschland oder in der italienischen Schweiz. Neu ist die Idee also nicht, aber ist sie wenigstens praktikabel? Unbestritten lernen die Kinder in einer Gastfamilie umgeben von der neuen Sprache viel schneller und mehr als in der Deutschschweizer Schule. Unbestritten ist aber auch, dass der Kontakt zu anderen Deutschschweizer Kindern während des Austauschprogramms möglichst klein gehalten werden sollte. Einzelaufenthalte bringen mehr als der Austausch ganzer Klassen, wo dann trotzdem Deutsch gesprochen wird. Idealerweise sollte pro Deutschschweizer Kind ein französisch- oder italienischsprachiges zugeteilt werden.  Doch wo sollen denn die vielen Deutschschweizer Klassen und Schüler Unterschlupf finden? Rein zahlenmässig kann es sich hier nur um ein Programm für wenige privilegierte Schüler handeln. Die Forderung ist also kaum realisierbar. Ausserdem ist unsicher, wie viele Familien bereit sind, ihr Kind wochen- oder monatelang im fremden Sprachgebiet zu platzieren.

Und die Welschen? Es ist bekannt, dass diese lieber nach Deutschland gehen, wo sie „richtiges“ Deutsch lernen, als sich mit dem scheinbar nutzlosen Schweizerdeutsch abzumühen. Es ist zu einfach und bequem, den Deutschschweizern allein die Verantwortung für das angebliche Auseinanderdriften der Landesteile zuzuschieben. Genauso ist es zu kurzsichtig, den Schüleraustausch als Allerheilmittel für den Sprachunterricht zu postulieren. Alles in allem ist die nette Austausch-Idee also nicht viel mehr als ein wenig durchdachter Profilierungsversuch der Schulleiter. Haben die das wirklich nötig?











Es lebe der Eigennutz, bezahlen sollen andere, 4. März 2014

Bildung ist eine heilige Kuh. Das hat man kürzlich auch in Chur erlebt. Die Alpenstadt leistet sich nämlich den zweifelhaften Luxus einer beschränkten Zahl von zweisprachigen Klassen deutsch/italienisch respektive deutsch/romanisch.  Diese Klassen sind kürzlich ins Blickfeld der Finanzpolitiker geraten. Nachdem im letzten Oktober die Weiterführung der zweisprachigen Schule knapp gesichert werden konnte, wollte die lokale FDP den Eltern die Mehrkosten dieser Schulform aufbrummen. Das präventive Geheul der betroffenen Eltern und der staatlich gefütterten Sprachorganisationen war unüberhörbar und zeigte Wirkung:  Der Vorschlag der FDP wurde mit dem erbitterten Widerstand einer völlig desorientierten Linken gebodigt. Höchste Zeit also, hier ein paar Dinge klarzustellen.

Die zweisprachigen Schulen schmücken sich mit fremden Federn. Zunächst verdanken sie ihre Existenz einer problematischen Symbiose mit den Pädagogischen Hochschulen. Dort ist man auf Forschungsaufträge von ebensolchen Schulen angewiesen. Eine Hand wäscht die andere, weshalb man bei entsprechenden „Forschungen“ aufpassen muss. Auch die Stadt Biel kennt zweisprachige Klassen. Dort haben Untersuchungen ergeben, dass die Leistungen in zweisprachigen Schulen mit denjenigen in den normalen Schulen „vergleichbar“ seien. Nicht besser und nicht schlechter also. Weit problematischer als die fehlende Qualität solcher Schulen ist die Zusammensetzung der Schülerschaft. Es handelt sich hauptsächlich um Mittelstandskinder, deren Eltern in der zweisprachigen Schule eine elegante Möglichkeit sehen, den Normalklassen mit ihrem hohen Ausländeranteil zu entfliehen. Hier geht es also nicht um die Kantonssprachen, es geht um den hohen Anteil fremdsprachiger Kinder in bestimmten Klassen. Unter dem Deckmäntelchen der Sprachenpolitik wird Ausländerpolitik betrieben. Das geht nicht.

Und hier kommt die erbarmenswürdige Haltung der SP ins Spiel, die vor ihrer eigenen Wählerklientel kuscht  und gleichzeitig ihre Prinzipien von Chancengerechtigkeit über Bord wirft. Zweisprachige Klassen sind erstens teuer und zweitens verursachen sie Ghettoschulen mit hohem Ausländeranteil und entsprechendem Therapie- und Förderaufwand. Die Sache kostet  also doppelt. Doch nicht nur die SP handelt unverantwortlich. Auch Eltern, die für ihre Sprösslinge Spezialunterricht verlangen, diesen durch die Allgemeinheit bezahlen lassen und schliesslich noch auf ihr edles Tun (Förderung der Kantonssprachen!) hinweisen, verdienen Nachhilfeunterricht.










Die Krise der Bündner Mittelschulen, 28. Januar 2014

In diesem Beitrag erfahren Sie, was die Förderung der Mittelschulen mit den Realschulen zu tun hat und dass sich die Bünder Schulpolitik bewegt – langsam, aber immerhin.

Ueli Handschin gebührt Dank! Am 24. Januar stellt er in der Südostschweiz die brisante Frage, ob weniger private Mittelschulen nicht bessere Schulen wären. Damit rüttelt Handschin an einem Tabu. Der Begriff „private Mittelschulen“ ist eigentlich ein Etikettenschwindel – 90 Prozent der Kosten trägt der Kanton. Doch durch die geburtenschwachen Jahrgänge sehen sich die Schulen in ihrer Existenz bedroht. Wie immer in schwierigen Situationen – ich erinnere an die Debatte über die Abschaffung des Untergymnasiums – setzt man lieber auf Geld statt auf Qualität. Die Aufblähung der Untergymnasien wurde wirkungsvoll unterstützt durch das Amt für Höhere Bildung und dessen Aufnahmeprüfung. Diese sorgte dafür, dass die Stühle immer gut besetzt blieben. Andererseits schaute man bei gefährdeten Promotionen auch auf den Geldsäckel der Eltern – der Kunde soll ja König sein! Für Schulen, die sich für ihre Bildungsideale loben, eine strategische Todsünde, welche sich herumspricht.  Einige dieser Schulen stehen nun – nicht unverschuldet – mit dem Rücken zur Wand und machen die hohle Hand beim Kanton. Dieser ist bereit, den Pauschalbetrag auf 24‘000 Franken pro Schüler und Jahr zu erhöhen. Das ist viel Geld. Viel, viel mehr als beispielsweise dem Kanton und den Gemeinden ein Oberstufenschüler wert ist. Und dies alles, ohne ein erkennbares Konzept für die Zukunft.

Diese Entwicklung setzt natürlich die Sekundarschulen unter Druck – wer kann, geht ans Untergymnasium, unabhängig davon, ob er wirklich auch dorthin gehört. Doch anders als bei den privilegierten Mittelschulen zeigt man bei der Volksschule weniger Skrupel. Da wird seit Jahren gnadenlos geschlossen, zusammengelegt und auch entlassen. Die gelichteten Reihen in der Sekundarschule werden auch mit guten Realschülern ergänzt. Was zurückbleibt ist dann noch eine durch Förderlehrkräfte gestützte Rest-Realschule. Wir sehen hier exemplarisch, wie fehlende Planung auf Mittelschulstufe auf die Volksschule durchschlägt. In meinem letzten Blogbeitrag forderte ich die Abschaffung oder generelle Überarbeitung des Modells C. Zwei Wochen später macht man in Davos Nägel mit Köpfen und schafft das Modell C ab. Auch dies eine Folge des verheerenden und sinnlosen Konkurrenzkampfes auf der Sekundarstufe I.

Ich gehe davon aus, dass den Verantwortlichen diese Zusammenhänge bekannt sind. Im Oktober kommt das revidierte Mittelschulgesetz vor den Grossen Rat. Es bleibt also noch etwas Zeit, sich zu bewegen und eine vernünftige Standortpolitik mit Zusammenarbeit und Allianzen vorzubereiten. Doch ohne Kratzer kommen unsere „Privaten“ diesmal kaum über die Runden.








Fröhliche Lehrplanzeit, 10. Dezember 2013
Was ist unangenehmer? Geschenklisten zusammenstellen oder die eingehenden Rückmeldungen zum Lehrplan 21 lesen und sammeln? Diese sind niederschmetternder als erwartet: der LCH  verlangt nur noch eine obligatorische Fremdsprache in der Primarschule, Erziehungswissenschaftler warnen vor der Kompetenzorientierung und der damit verbundenen Standardisierung des Unterrichts, Geografie- und Geschichtslehrer kämpfen um ihre Fächer, die Wirtschaft will mehr Berufskundeunterricht, und über alle Interessensgruppen hinweg hallt der Ruf nach einem knapperen, besser lesbaren Lehrplan. Aus den ursprünglich gedachten 50 Seiten sind 558 geworden.

Der Lehrplan 21 ist das Produkt von 21 souveränen Bildungsverwaltungen, die sich auf die Harmonisierung der Volksschulbildung einigen. Das heisst, sie geben vor, sich zu einigen. In Wirklichkeit haben sie kein Interesse daran, denn damit würden sie ihre eigene Existenz in Frage stellen. Hat schon mal jemand von einem Beamten gehört, der sich wegrationalisiert? Sie tun also, als ob sie sich einigen würden und sind gleichzeitig ganz scharf darauf, den Kindern vorzuschreiben, wie viele Lektionen Handarbeit sie pro Woche bekommen, wie gross die Klassen sein dürfen, wie viele Lektionen die Lehrer zu arbeiten haben und wie viele diese verdienen. Dagegen bleiben elementare schulpraktische Fragen, wie die Koordination des Fremdsprachenunterrichts, ungelöst. Das ist staatspolitisch hilflos und feige.

Also nochmals: Wir bekommen einen Lehrplan, der den Lernstoff bis ins kleinste Detail regelt, aber es gleichzeitig den Kantonen überlässt, unter welchen Bedingungen, mit welcher Infrastruktur und mit welchen Kostenfolgen dieses Ziel zu erreichen ist. Die Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung stellt fest, dass nur schon die Unterrichtsdauer während der dreijährigen Sekundarschule zwischen zwei Kantonen fast um ein ganzes Jahr differieren kann! Auch hier spielen die Kantone also munter ihr eigenes Spielchen. Ein teures Spielchen,  das die Bildungsverwaltung weiter anwachsen lässt zu Lasten der Volksschule.

Übrigens sei der Lehrplan nicht in erster Linie für die Lehrer, sondern für die Bildungsplanung und die Lehrmittelverlage gedacht. Trotzdem reiben sich die PH schon jetzt die Hände wegen der mit der Lehrplan-Einführung verordneten obligatorischen Weiterbildungstage. Wer sich nicht so leicht übertölpeln lassen will, wer den Aufstand gegen die Bildungsverantwortlichen mittragen will, unterschreibt deshalb die Aktion gegen den neuen Lehrplan ‘550 gegen 550‘.








Keine Lobhudelei, 2. November 2013

Nachdem ich bisher über Jokertage und Aufnahmeprüfungen geschrieben habe, ist jetzt ein grösserer Brocken dran. Niemand wünscht sich dumme oder freche Schüler.  Aber in der Realität sind sie da und sitzen in den Klassenzimmern. Das nennt sich „Integration“. Schön und edel dabei ist, man will niemanden ausstossen. Nichts gegen Unterstützung, Lernhilfe und Therapien für kranke Kinder. Das ist notwendig und steht hier gar nicht zur Diskussion. Die Planung geht aber in eine andere Richtung:  Der Lehrer oder die Lehrerin ist nicht mehr allein zuständig für eine Klasse, da gibt es neu nämlich eine Flut von Teilzeitlehrerinnen, die um ein Stück des Betreuungskuchens kämpfen.  Dabei wird die Verantwortung pulverisiert – eine fatale Entwicklung für unsere Schule.

Versuchen wir den Ball flach zu halten. Die Integration wurde eingeführt als Folge davon, dass sich die IV aus der Finanzierung der Therapien zurückzog. Die schöne neue Schulwelt ist kein Produkt pädagogischer Reflexion, sondern entspringt einer Sparübung. Sie wurde von den Lehrern nicht gefordert, im Gegenteil, sie wurde der Schule notfallmässig aufgezwungen.  Wie stark den Initianten und Propagandisten der „Integration“ ihr Projekt entglitten ist, zeigt nur schon die Tatsache, dass sie es nicht schaffen, ihr Konzept auf einen gültigen Namen festzulegen. Integration ist der Begriff der ersten Stunde. Eine sehr ungeschickte Wahl, denn mit Integration ist ja die Einbettung von Zugezogenen ins Alltagsleben der Schweiz gemeint. Die zweite Wortschöpfung "integrative Förderung" ist eine Notlösung, um über diese peinliche Begriffskollision hinwegzutäuschen. Doch schon heute wird immer häufiger vom Fachbegriff Inklusion gesprochen. Verwirrung total.

Jeder Kanton hat in letzter Zeit ein eigenes Reglement für die Integration von lernbehinderten oder lernschwachen Kindern erstellt. Dies geschah unabhängig von der Frage, was es überhaupt bringt, Lernbehinderte in eine Regelklasse zu integrieren. Ob die Kinder dank ihrer neuen Lernumgebung tatsächlich auch mehr lernen, ist nämlich noch gar nie untersucht worden. Richtig, die vielgepriesene „Integration“ ist letztlich ein Experiment, mit unseren Kindern als unfreiwilligen Versuchskaninchen.  Innerhalb der Kantone kommt es häufig zu Unterschieden in der praktischen Umsetzung von Gemeinde zu Gemeinde. Das ist bei uns in Graubünden natürlich besonders ausgeprägt. Das Angebot steuert die Nachfrage. Martin Mathiuet gibt in diesem Blog offen zu: „… die Schule von morgen braucht mehr Personal, mehr Lehr- und Lernmaterial, eine erweiterte Infrastruktur und viel mehr Platz.“ Integration kostet also viel Geld bei zweifelhaftem Nutzen. Was daran so fortschrittlich und erstrebenswert sein soll, ist mir schleierhaft. Damit aber nicht genug: Selbst unser neugewählter EDK-Chef Christoph Eymann steht nicht mehr hinter diesem Konzept, wie er kürzlich in der NZZ am Sonntag kundtat. Mit Eymann geht ein pointierter Promotor des Systems auf Distanz und fordert die Möglichkeit, schwierige Schüler wieder in separierten Kleinklassen unterrichten zu können.

Es sieht ganz so aus, als ob das Experiment „Integration“ misslungen sei. Das finden auch Leute wie Thomas Baumann, Kinderarzt und Buchautor. Für ihn ist die integrative Förderung nicht mit unseren nach dem Leistungsprinzip aufgebauten Schulen vereinbar. Das Prinzip der Eingliederung hat in der Praxis bereits zu absurden Verschiebungen geführt. Während möglichst viele Kinder in Regelklassen integriert werden, steigt gleichzeitig auch die Zahl der Betreuungsfälle in Sonderschulen.  Im Schuljahr 2005/06, also vor der Einführung der schulischen Integration,  wurden im Kanton Bern drei Kinder mit Asperger-Syndrom unterstützt, fünf Jahre später und nach dem Aufbau eines Heeres an Therapeutinnen waren es 142! Zwischen den Jahren 2000 und 2010 ist die Zahl der Sonderschüler im Kanton Zürich um 65 Prozent gewachsen. Der Speckgürtel der Betreuung dehnt sich aus und droht, die Schulen im Therapiewahn zu ersticken. Dieses System ist unfähig geworden, sich selbst zu reformieren. Darum braucht es keine Lobhudeleien mehr, von denen haben wir schon zu viele gehört. Wir müssen innehalten und retten, was noch zu retten ist.









Chancengerechtigkeit als Fata Morgana, 30. September 2013

Mögen Sie Aufnahmeprüfungen? Wenn ja, dann wird es Sie freuen zu lesen, dass eine Schweizer Studie kürzlich festgestellt hat, Prüfungen seien gerechter als andere Selektionsverfahren wie zum Beispiel die Zuteilung durch die Primarlehrerin aufgrund einer ganzheitlichen Beurteilung. Wenn der Schulratspräsident zum Einstufungsgespräch erscheint, ist es halt doch anders, als wenn dort die alleinerziehende Mutter mit ihrem Sohn aufkreuzt. Unser sogenannt „ganzheitliches“ Beurteilungssystem lässt Tür und Tor offen für objektiv nicht nachweisbare Begünstigungen und Klüngeleien. Das bleibt im Bewusstsein hängen. Gerade Leute  mit tiefem Bildungsstand vertrauen eher einer Prüfung als dem Urteil einer Lehrperson. Die Forderung zur Abschaffung der Aufnahmeprüfungen kommt aus dem Lager der Akademiker. Gutsituierte Eltern wissen: Ein Lehrerurteil lässt sich eben besser zurechtbiegen als die Punktezahl einer Prüfung.

Die erwähnte Studie zeigt, dass die Betroffenen die Prüfung als Beitrag zur Chancengerechtigkeit sehen. Doch auch bei den Aufnahmeprüfungen hält man nicht nur in Graubünden den Privilegierten ein Türchen offen. Nicht die klügsten, sondern die reichsten Kinder schaffen es ins Gymnasium. Die Zahl der Gymnasiasten korreliert stark mit den Bodenpreisen des Wohnorts. Konkret: Hohe Bodenpreise, viele Gymnasiasten. Tiefe Preise, wenig Gymnasiasten. Wer es sich leisten kann, besucht private Vorbereitungskurse und wird so auf die Prüfung gedrillt, dass diese dann auch  bestanden wird. Dieses Vorgehen ist den Prüfungsverantwortlichen durchaus bewusst. An unseren Schulen herrscht aber noch immer die weitverbreitete Ansicht, dass es genüge, wenn die Schüler nur den behandelten Schulstoff beherrschten. Weit gefehlt – ohne klare Kenntnisse der zu absolvierenden Prüfung haben die Kandidaten keine Chance. Das ist wie beim Lauberhornrennen. Wer die Piste vorher besichtigen kann, ist schneller als jemand, der sie unvorbereitet runterfährt.

Nun stellt sich die berechtigte Frage, ob es nicht Aufgabe der Schule wäre, die Schüler optimal auf die weiterführenden Schulen vorzubereiten. Wenn man bedenkt, wie viel Geld in Stützmassnahmen für schwache Schüler hineingebuttert wird, wenn man sich die honigsüssen Leitbilder unserer Schule mit ihren Bekenntnissen zu individueller Förderung zu Gemüte führt, dann wäre es eigentlich nahe liegend, dass unsere Schulen Prüfungskurse anbieten müssten. Hier besteht Handlungsbedarf und hier gilt es anzupacken, wenn man unsere Gesellschaft wirklich ein wenig fairer machen möchte.










Legales Schwänzen, 25. August 2013

Ein Morgen gegen Ende des vergangenen Schuljahrs: Ein Viertel der Schüler fehlt im Unterricht. Sie sind nicht krank, sie schnuppern nicht in einem Betrieb und haben auch nicht verschlafen. Ganz legal sind sie zuhause und beziehen einen Jokertag. Es fällt auf, dass Schüler ihre ­Jokertage häufig mit Einwilligung der Eltern einlösen. Sie wollen ausschlafen oder dem Unterricht kurz vor Noten­abschluss fern bleiben. Ohne Begründung sind Jokertage jederzeit einsetzbar und können von den Lehrkräften nicht verweigert werden. Nicht nur die Schüler freuen sich darüber, die Eltern sparen Geld mit günstigeren Ferientarifen und die Schulbehörden glauben, weniger lästige Gesuche  bearbeiten zu müssen. Da in Graubünden Absenzen nicht im Zeugnis erscheinen, sind auch keine Langzeitfolgen zu befürchten. Gelobt seien die Jokertage! Der Erfinder sollte eigentlich gefeiert und Schulhäuser nach ihm benannt werden. Denn Jokertage sind schweizweit ein Hit!

Es gibt aber auch die andere Seite der Medaille.  Da wäre zuerst der Name: Ein Joker ist etwas, was sich in Zukunft als nützlich erweisen könnte – ein lachender Sieger, der gewinnt ohne dafür etwas zu leisten. Das sollte eigentlich misstrauisch machen. Denn grundsätzlich soll die Schule doch auf das Leben vorbereiten. Ist ausschlafen da eine Kernkompetenz? Ist es nicht paradox, wenn Lehrmeister Einsatz, Motivation und Disziplin einfordern, die Schule aber legales Schwänzen im Programm führt? Ist es nicht paradox, die Lehrer immer besser (und teurer) auszubilden und es gleichzeitig den Schülern zu überlassen, ob sie den Unterricht auch besuchen? Hier spiegelt sich eine bedenkliche Laissez-faire-Haltung: Ein bisschen Schule mehr oder weniger kommt doch nicht drauf an. Die verpassten Lektionen summieren sich und untergraben letztlich die Arbeit der Lehrpersonen. Kein Wunder laufen diese seit der Einführung Sturm gegen die Jokertage. Ist es nicht paradox, wenn die Schulen grossen Aufwand zur Verbesserung der Schulqualität betreiben, gleichzeitig aber diese Qualität aushöhlen mit der Botschaft: Ihr könnt ruhig ab und zu fehlen.

Jokertage gehören zur pädagogischen Infrastruktur einer „modernen“ Schule. Niemand möchte doch so altmodisch sein und nicht mitreiten auf dieser Welle der erzieherischen Bequemlichkeit. Die Verantwortung ist schnell abgeschoben – der Kanton erlaubt’s, die Nachbargemeinde macht’s und schliesslich wollen wir fortschrittlich sein. Jokertage sind aber weder fortschrittlich noch originell. Sie gehören in die wachsende Sammlung moderner pädagogischer Irrtümer. Sie sind unnötig, es gibt keinen Klassenlehrer, der ein begründetes Urlaubs-Gesuch ablehnen würde. Und bei Unwohlsein stehen den Eltern ja auch ohne Jokertage alle Türen offen, ihr Kind zu Hause zu lassen. Bald werden wir nicht mehr über Jokertage diskutieren, sondern uns über den zunehmenden Absentismus wundern. Welche Gemeinde hat endlich den Mut, mit dieser falsch verstandenen Freiheit aufzuhören?



3 Kommentare:

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  2. Kommentar zu Ihrem Text „Reformen als Schaufensterdekoration der Schule, 3. März 2015

    Hallo Herr Kalberer,

    ich frage mich, warum sich die Bildungsreformen auf Äußerlichkeiten (z.B. die baulichen Maßnahmen) beschränken und das Innere (Vernetzung des Wissens zu Bildung, d.h., dass das Wissen mit dem jeweiligen Menschen etwas macht, ihn „reift“) gar nicht oder zumindest nicht ausreichend berücksichtigen.

    Einerseits sind solche baulichen Maßnahmen und Kontrollen unterschiedlicher Art sichtbar und für Außenstehende vermeintlich leichter nachvollziehbar. Ob das Schulgebäude erneuert worden ist oder nicht, ist in der Regel deutlich sichtbar. Ob bestimmte bürokratische Vorgaben eingehalten werden, kann auch deutlich auf einer Liste abgehakt werden. Dadurch können sich die Verantwortlichen absichern, dass sie etwas getan haben.

    Andererseits ist Bildung etwas sehr Persönliches, was den gesamten Menschen betrifft, der sich darauf einlässt, ein anderer zu werden – wenn wir von tiefgreifenden Bildungsprozessen ausgehen. Selbst, wenn die Bildungsprozesse oberflächlicher sind, muss das vermittelte Wissen mit den SchülerInnen etwas machen. So etwas lässt sich nicht verordnen oder abhaken. Das vermeintliche Problem liegt in der Natur der Sache, d.h., dass wir von der Messbarkeit ausgehen, die auch Sichtbarkeit erfordert, um von erfolgreichen Bildungsprozessen reden zu können.

    Wenn sich beide Lager (Bildungsverwaltung mit den Vorgaben im Außen UND LehrerInnen als Organisatoren der Bildungsprozesse im Inneren) gegenseitig vorwerfen, in welchem Maße der jeweils Andere dazu beiträgt, dass der gewünschte Bildungserfolg der SchülerInnen nicht erreicht wird, dann erreichen wir auf beiden Seiten sehr viel Verstimmung. Ich frage mich daher, wie beide Lager in einem Zusammenhang gedacht werden könnten. Dafür möchte ich im Nachfolgenden die Kompetenzorientierung aufgreifen.

    Grundsätzlich können auch einzelne Wissensbestände vermittelt und abgeprüft werden, ohne sie zunächst in den Zusammenhang einzuordnen. Beispielsweise kann die grammatische Kategorie Tempus insofern vertieft werden, als ausschließlich die Vorzeitigkeit vermittelt wird. Die Einordnung der Vorzeitigkeit in diese genannte Kategorie und ihr Wechselverhältnis zu anderen grammatischen Kategorien erfolgen zu einem späteren Zeitpunkt. Durch die Kompetenzorientierung wird erreicht, dass deutlich mehr Feinheiten vermittelt werden.

    Problematisch wird die Vermittlung der einzelnen Wissensbestände, wenn keine ausreichende Einordnung der einzelnen Wissensbestände in den gesamten Zusammenhang erfolgt. Dann stehen die einzelnen Formen zur Bildung der Vorzeitigkeit – vor allem ohne Anknüpfung – im Raum. Allerdings ist diese fehlende weitere Vernetzung nicht ein Problem der Kompetenzorientierung, sondern der jeweiligen Lehrpraxis!

    Schließlich bestätigt der neuseeländische Erziehungswissenschaftler Hattie, dass es auf die LehrerInnen ankomme und in welcher Weise sie die Lernumgebung gestalten. Indem LehrerInnen eine ausreichende Lernstandserhebung machen, geeignete Lernanreize schaffen, Sicherungen während der Unterrichtseinheit einbeziehen und ihre gesamte Vorgehensweise reflektieren, wird ein erfolgreicher Unterricht möglich.

    Über eine Rückmeldung freue ich mich.

    J. Wildling
    https://bildungundreflexion.org/

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  3. Sehr geehrte/r J. Wildling
    Ich bin ganz einverstanden damit, dass Lehrpersonen für die Vermittlung von Lernprozessen verantwortlich sind. Diese können nicht von der Bildungsverwaltung verordnet werden. Gerade deshalb ist es problematisch, wenn sich die Administration allzu stark in diesen Vermittlungsprozess einmischt - so wie dies in der CH passiert.
    Es stimmt leider nicht, dass sich die Verwaltung auf Äusserlichkeiten beschränkt (bauliche Massnahmen, Klassengrösse, Lektionentafel, etc.), sondern sie will auch die Methoden bestimmen, nach welchen die Lehrpersonen zu unterrichten haben. So schreibt sie beispielsweise Lehrmittel vor und fordert damit eine bestimmte Art der Vermittlung ein. Konkret: Gruppenunterricht, erforschendes Lernen, selbstorganisiertes Lernen, verstärkter Einsatz des Computers etc.
    Freundliche Grüsse aus der Schweiz

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