Sind
Genfer Kinder intelligenter als Luzerner? Geht es nur nach der Unterrichtszeit,
ist die Antwort eindeutig «Ja». Der kürzlich veröffentlichte Bildungsbericht
2018 offenbart bemerkenswerte Unterschiede zwischen den Kantonen. So sitzen
Genfer Kinder bis zum Ende der Primarschule über 1000 Stunden länger im
Unterricht als Luzerner. Auch St. Galler, Tessiner und Glarner verbringen
Hunderte Stunden mehr im Klassenzimmer als Zuger, Berner oder Aargauer (siehe
Tabelle).
1000 Stunden weniger Unterricht, Basellandschaftliche Zeitung, 29.8. von Yannick Nock
Der Wohnort bestimmt, wie viel Stoff sechs- bis elfjährige Kinder in
der Primarschule lernen – und damit auch, wie gut ihre Ausbildung ist.
«Natürlich beeinflusst die Unterrichtszeit die Leistung der Schüler», sagt Urs
Moser, Bildungsforscher an der Universität Zürich. Das gelte zwar nicht für
alle Fächer gleichermassen, doch gerade in Kerngebieten wie Mathematik seien
mehr Lektionen nützlich. Die Kinder könnten – anders als beispielsweise beim
Lesen – ihre Defizite nur selten ausserhalb der Schule nachholen.
Eltern seien
sich der grossen kantonalen Differenzen oft nicht bewusst, sagt Moser. Sonst
würden sie bei der Wahl des Wohnorts stärker darauf achten. Zwar gibt es
Elternproteste wegen zu wenig Unterricht, allerdings erst, wenn an der bereits
bestehenden Lektionenzahl geschraubt wird. So wie zuletzt in Schaffhausen.
Nachdem die Regierung 2016 angekündigt hatte, eineinhalb Stunden pro Woche zu
kürzen, wehrten sich Eltern gegen das Spardiktat. Mit Erfolg, ihre Initiative
«Kein Abbau» wurde mit 78 Prozent deutlich angenommen. Kantone werden
Sparmassnahmen künftig eher über grössere Klassen regeln als über weniger
Unterricht, glaubt deshalb Moser.
Weniger lange Lektionen
Der Schweizer
Durchschnitt liegt in der Primarstufe bei 816 Stunden im Jahr. Die grossen
kantonale Differenzen haben vor allem zwei Ursachen: Erstens dauert eine
Schullektion nicht überall 45 Minuten, sondern in manchen Kantonen 50. Zweitens
ist das Schuljahr nicht überall gleich lang. Die meisten Kinder gehen im Jahr 38
Wochen zur Schule. In St. Gallen, Baselland und Thurgau sind es 39, in
Basel-Stadt und Appenzell Ausserrhoden verbringen Primarschüler sogar 40 Wochen
im Schulzimmer. In Genf und im Tessin S wiederum ist die Anzahl der Lektionen
pro Woche schlicht höher.
Verzweifeln sollten Eltern in Luzern, Bern oder im
Aargau trotzdem nicht. Die Schweizerische Koordinationsstelle für
Bildungsforschung hat in einer Studie nachgewiesen, was zusätzlicher Unterricht
nützt. Zwar steigert sich die Leistung der Kinder, jedoch nicht proportional,
wie man annehmen könnte. Das gilt selbst für Mathematik, wie ein Vergleich
zwischen Schulen mit unterschiedlichen Stundenplänen zeigt. Berücksichtigt
wurden neben der Mathematik die Naturwissenschaften und das Lesen. Die
Studienverfasser sehen den Grund in den gesteckten Erwartungen. Nur wenn die
Lernziele nach oben korrigiert werden, würde zusätzlicher Unterricht auch eine
deutlich bessere Leistung hervorbringen. Ansonsten stagniere die Lernkurve.
«Man lernt, was man lernen muss, in der Zeit, die einem zur Verfügung steht.»
Schweiz nicht an der Spitze
Die zweite Erkenntnis der Studie betrifft das
Niveau innerhalb der Klasse: Das Leistungsgefälle wird durch zusätzlichen
Unterricht grösser. Das heisst, schwache Schüler holen ihr Defizit nicht auf,
sondern verlieren weiter an Boden. Dabei heisst es meistens, zusätzlicher
Unterricht komme besonders den schwächeren Schülern zugute. Dem ist laut der
Studie nicht so.
Der Erfinder der Pisa-Studie, Andreas Schleicher, weiss,
welche Länder ihre Kinder besonders gut fördern (siehe Interview). Auch er
sagt, die Zahl der geleisteten Stunden würde nur wenig aussagen. «In den
Vereinigten Arabischen Emiraten sitzen die Kinder mehr als 60 Stunden pro Woche
im Unterricht oder beim Nachhilfelehrer und das Ergebnis ist miserabel.»
Finnland würde hingegen mit der Hälfte der Lektionen viel bessere Resultate
erzielen. «Es geht neben der Quantität auch um die Qualität.» Man müsse sich
fragen: Wie gut sind die Lehrer? Wie oft tauschen sie sich aus? Wird
individualisiert gelernt? Werden Kinder mit Migrationshintergrund genügend
gefördert? Die Ganztagsschule sei ebenfalls ein interessanter Ansatz. Der
Unterricht in der Schweiz sei qualitativ gut, sagt der Deutsche. Was die Anzahl
Stunden betrifft, liegt das Land allerdings im Durchschnitt. Für Schleicher ein
Fehler: «Die Schweiz sollte sich in allen Belangen an der internationalen
Spitze orientieren, nicht am Mittelwert.» Da sei sicherlich noch viel Luft nach
oben.
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