Als die Linguistin Simone Pfenninger im Herbst 2014 ihre Studie
zum Frühenglisch veröffentlichte, stach sie in ein politisches Wespennest. Die
Resultate legten den Schluss nahe, dass die Einführung von Fremdsprachen in der
Primarschule wenig bringt. In den zahlreichen Presseinterviews, die folgten,
nahm sie kein Blatt vor den Mund: «Das heutige Kurzfutterkonzept mit rund zwei
Wochenlektionen in der Primarschule pro Sprache ist zum Scheitern verurteilt»,
sagte Pfenninger zum «Tages-Anzeiger». Und zur «NZZ am Sonntag»: «Englisch kann
man auf die Oberstufe verschieben.»
«Vage
Empfehlungen bringen nichts», sagt die 35-Jährige im Gespräch am Englischen
Seminar der Universität Zürich, wo sie als Oberassistentin arbeitet. Über ihre
Forschung zu informieren, ist ihr ein Anliegen. Sie spricht oft auf Podien oder
in den Medien. Deshalb kennen Eltern, Schulkritiker und Bildungspolitiker ihren
Namen.
Mittlerweile
ist Pfenningers Studie zum Spielball der Frühfremdsprachen-Debatte geworden –
und die Verfasserin zur Zielscheibe öffentlicher Kritik. Dass die Politik
wissenschaftliche Erkenntnisse instrumentalisiert, ist nichts Ungewöhnliches.
Ungewöhnlich ist, dass die betroffene Forscherin selbstsicher dagegenhält.
Lieblingsforscherin
der Gegner
Am
Anfang der Geschichte steht die Idee der jungen Forscherin und ausgebildeten
Gymnasiallehrerin zu einer Langzeitstudie. Zwischen 2008 und 2015 untersuchte
Pfenninger die Englischkenntnisse von 500 Zürcher Gymnasiasten zu Beginn und am
Ende ihrer schulischen Ausbildung. Die einen Schüler hatten bereits seit der
Primarschule Englischunterricht, die anderen fingen erst in der Oberstufe damit
an. Pfenninger fand heraus: Schon nach sechs Monaten hatten die meisten
Spätlerner den Vorsprung der Frühlerner eingeholt. Kurz vor der Matur fand die
Linguistin keinerlei Unterschiede mehr. Ein dankbarer Stoff für die Medien, die
den Befund sofort zuspitzten: «Frühenglisch bringt nichts», schrieb SRF.
In
der Schweiz lernt ein Kind heute spätestens in der dritten Primarschulklasse
eine zweite Landessprache oder Englisch. In der fünften Klasse kommt die zweite
Fremdsprache dazu. Diese Strategie beschloss die Schweizerische Konferenz der
kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) 2004. Gegen das Frühfremdsprachenmodell
regt sich nun aber immer mehr Widerstand. In mehreren Kantonen sind Initiativen
angekündigt mit dem Ziel, eine Sprache aus dem Lehrplan der Primarschule zu
streichen. Anfang 2016 reichten überparteiliche Komitees in den Kantonen Zürich
und Baselland solche Initiativen ein, im Kanton Thurgau wurde Frühfranzösisch
im April aus dem künftigen Lehrplan getilgt. Die Initiativkomitees zitieren
gerne Pfenningers Studie, um ihre Forderungen zu untermauern. Simone Pfenninger
ist zur Lieblingsforscherin der Frühfremdsprachengegner geworden.
Mit
Namen steht niemand hin
Im
März schaltete sich der höchste Bildungspolitiker des Landes in die Debatte
ein, der Basler Erziehungsdirektor und Präsident der EDK, Christoph Eymann
(LDP). Unter Eymann hat Basel-Stadt als einer der ersten Kantone den
umstrittenen Lehrplan 21 eingeführt. In einer Replik auf einen schulkritischen Artikel
der «Basler Zeitung» schrieb er zu Pfenningers Studie: Sie sei «offensichtlich
qualitativ nicht genügend».
Der
Politiker griff somit die Glaubwürdigkeit der Wissenschaftlerin an. Er verweist
auf einen Bericht, den Bund und Kantone von der Universität Aarhus in Dänemark
erstellen liessen. Dieser Bericht zeigt, was die internationale Forschung zum
gleichzeitigen Erlernen von mehreren Fremdsprachen sagt. Pfenningers Studie ist
nicht dabei. Für Eymann ein Beleg, dass ihre Ergebnisse nicht beachtet werden
müssen. Er stützte sich dabei auf Stefan Wolter, den Direktor der
Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung (SKBF). Wolter,
ebenfalls eine gewichtige Stimme in der Schweizer Bildungslandschaft, wertete
den Bericht aus. Laut Wolter gibt es keine Forschungsergebnisse, die eine
Veränderung des Schweizer Modells nahelegen würden.
Pfenninger
wollte das nicht auf sich beruhen lassen. Sie forderte von den dänischen
Gutachtern eine Stellungnahme, die dem «Tages-Anzeiger» vorliegt. Daraus wird
ersichtlich, dass der Bericht nur Studien vor Juli 2014 berücksichtigt. Zwei
frühere Artikel von Pfenninger wurden zwar geprüft, aber nicht in den Bericht
aufgenommen. Dass jedoch ihre erst später publizierte Langzeitstudie den
Qualitätsanforderungen nicht genüge, könne «auf keinen Fall» aus diesem
Entscheid abgeleitet werden, schreibt die Direktorin des Forschungsinstituts.
Eymann
hält dennoch an seiner Meinung fest, dass die Langzeitstudie der Zürcher
Forscherin ungenügend sei. Anfang Mai wiederholte er seine Kritik im Basler
Parlament. Eine Anfrage des «Tages-Anzeigers» wollte er nicht selbst
beantworten, aus dem Umfeld von Eymann heisst es, die Studie weise statistische
Mängel auf. Mit Namen hinstehen will niemand – auch SKBF-Direktor Wolter hat
eine Stellungnahme abgelehnt.
Preisgekrönte
Studie
Der
Verdacht drängt sich auf, dass es hier nicht nur um einen Expertenstreit geht,
sondern auch um Empfindlichkeiten von Politikern und Chefbeamten, die bei einem
entscheidenden Dossier unter Druck geraten sind. Jedenfalls lässt sich die
Studie von Simone Pfenninger nicht einfach so als wertlos abtun. Immerhin hat
sie letztes Jahr damit den Zürcher Mercator-Preis für Nachwuchsforschung
gewonnen. «Die Arbeiten von Simone Pfenninger sind von herausragender Qualität
und in den wichtigsten Fachzeitschriften ihres Forschungsgebiets veröffentlicht
worden», sagt auch Jean-Marc Dewaele, Professor für Angewandte Linguistik an
der Birkbeck-Universität in London.
Pfenninger
begegnet der Kritik an ihrer Studie gelassen. «Aus Fachkreisen erhalte ich viel
Anerkennung, deshalb lasse ich mich nicht so schnell aus der Bahn werfen», sagt
sie. Nächstes Jahr sollen die Ergebnisse der Langzeitstudie in Buchform unter
dem Titel «Beyond Age Effects» erscheinen.
Gut
möglich, dass die Gegner der frühen Fremdsprachen davon enttäuscht werden.
Pfenninger legt nicht etwa eine Kampfschrift gegen das Frühenglisch vor,
sondern eine differenzierte Untersuchung der Faktoren, die beim Sprachenlernen
im Schulzimmer Erfolg bringen. Entscheidender als das Alter seien Dauer und
Intensität der Auseinandersetzung.
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