9. Januar 2019

A l'école des philosophes


In Yverdon gibt es eine Quartierstrasse mit dem schönen Namen Rue des Philosophes – für den Volksmund naheliegend, der hier domizilierten Sonderschule den ebenso schönen Namen «Ecole des Philosophes» zu verleihen. Ein Euphemismus. Oder etwa doch nicht? Fernand Melgars Filmporträt des Schulalltags stellt sich der Frage mit jener feinen Aufmerksamkeit und Einfühlung, die seine besten Filme stets auszeichnet. (Und die überzeugender sind als sein gewissenspolitisch öffentlicher Eifer im Nachhall zu «Vol spécial» oder der Lausanner Dealer-Szene . . .)

A l'école des philosophes: Die Hoffnung stirbt mit Recht zuletzt, NZZ, 9.1. von Martin Walder


Das halbe Dutzend Kinder, das sich mit dem Filmemacher eines Morgens in einer neuen Vorschulklasse wiederfindet, provoziert erst einmal Mitleid und Resignation, vielleicht gar reflexartige Abwehr, wie sie in eigenen Ängsten gründet. Die kleinen Buben und Mädchen haben alle eine schwere Behinderung, von Geburt an, oder sie ist später über Nacht in den Familienalltag eingebrochen. Die Einblicke, die der Film gibt, emotional mit Souplesse auf den Punkt gebracht, gehen nahe: Die meisten Eltern haben die Behinderungen akzeptieren gelernt, in Rund-um-die-Uhr-Betreuung, mit Glück gemeinsam als Paar, vielleicht als Alleinerziehende, jedenfalls ständig am Rande der Kräfte.

In fremden Händen
Und da ist auch die tapfere Mutter balkanischer Herkunft, die verzweifelt ihre Fiktion von Normalität für ihren von Leben sprühenden, aber unkontrollierten Wildfang aufrechtzuerhalten sucht. Wie sie ihre Liebe und ihre soziale Scham scheu vor der Kamera bekennt, greift ans Herz. Melgar hat ein Gespür dafür, wann es zu viel wird, etwas zu zeigen. Diskret, aber wach ist seine Direct-Cinema-Kamera dabei, bereit, das Momentum wahrzunehmen.

Da sitzen sie nun, die Eltern, vertrauen ihre Sprösslinge zum ersten Mal fremden Händen und Gesichtern an. Ein wenig sind sie verschüchtert, gleichzeitig steht ihnen die Erleichterung ins Gesicht geschrieben, tagsüber wenigstens etwas vom eigenen Leben zurückzugewinnen. Das engagierte Schulteam übernimmt! Auch im Kollektiv braucht jedes der Kinder seinen eigenen, ihm gemässen (auch medizinischen) Umgang, manchmal unter Zuzug externer Fachkräfte in Einzelbetreuung. Man singt und klatscht dazu, kleckst mit Farben, rührt in Schüsseln, und das Personal ist nach Schulschluss fix und fertig, rafft sich noch auf zu den Teambesprechungen.

Das meiste ist Arbeiten
Aber mit welchem Ertrag letztlich? Philosophisch am Filmtitel will uns allenfalls die stoische Geduld erscheinen, den kleinen Leben die Sinne zu sensibilisieren, um Sinn zu generieren. Sinn worin? Im Selbstzweck von Spiel? Nein, wir lernen: Hier wird streng unterschieden zwischen Arbeit und Spiel, und das meiste ist Arbeiten. Mit grossem Lob für kleinstes Gelingen – und durchaus mit Strafen, mit Sanktionen. Da lassen die Betreuerinnen aus Prinzip kein Laisser-faire zu, gerade weil soziales An- statt Ausgeschlossensein das Ziel ist.
Und so zeigt dieses Jahr, während dessen Melgar gedreht hat, beglückend Spuren leisen Fortschritts. Kinder lernen überhaupt zu reagieren, Gefühle zu äussern. Die kleine Albiana schafft es, Treppenstufen sorgfältig anzugehen und nicht kopfüber in die Tiefe zu stolpern. Und Kenza, der zu Beginn mit ihren ins Leere verdrehten Augen die Welt gleichgültig zu sein schien, hat einen Blick erhalten, wenn ihre Musikereltern mit ihr spielen, sie tanzend wiegen – und sich der Kopf des Mädchens später im Wachtraum hinter seinen Kissen leise weiter wiegt, mit Mutters Gesang noch im Ohr. Welch subtile Montagesequenz von Karine Sudan in diesem Werk in bester Schweizer Dokumentarfilm-Tradition, die uns das Prinzip Hoffnung wider eine rasch parat liegende Resignation entdecken lässt.


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