In Yverdon gibt es eine Quartierstrasse mit dem schönen Namen Rue des
Philosophes – für den Volksmund naheliegend, der hier domizilierten
Sonderschule den ebenso schönen Namen «Ecole des Philosophes» zu verleihen. Ein
Euphemismus. Oder etwa doch nicht? Fernand Melgars Filmporträt des Schulalltags
stellt sich der Frage mit jener feinen Aufmerksamkeit und Einfühlung, die seine
besten Filme stets auszeichnet. (Und die überzeugender sind als sein
gewissenspolitisch öffentlicher Eifer im Nachhall zu «Vol spécial» oder der
Lausanner Dealer-Szene . . .)
A l'école des philosophes: Die Hoffnung stirbt mit Recht zuletzt, NZZ, 9.1. von Martin Walder
Das halbe Dutzend Kinder, das sich mit dem Filmemacher eines Morgens in
einer neuen Vorschulklasse wiederfindet, provoziert erst einmal Mitleid und
Resignation, vielleicht gar reflexartige Abwehr, wie sie in eigenen Ängsten
gründet. Die kleinen Buben und Mädchen haben alle eine schwere Behinderung, von
Geburt an, oder sie ist später über Nacht in den Familienalltag eingebrochen.
Die Einblicke, die der Film gibt, emotional mit Souplesse auf den Punkt
gebracht, gehen nahe: Die meisten Eltern haben die Behinderungen akzeptieren
gelernt, in Rund-um-die-Uhr-Betreuung, mit Glück gemeinsam als Paar, vielleicht
als Alleinerziehende, jedenfalls ständig am Rande der Kräfte.
In fremden Händen
Und da ist auch die tapfere Mutter balkanischer Herkunft, die
verzweifelt ihre Fiktion von Normalität für ihren von Leben sprühenden, aber
unkontrollierten Wildfang aufrechtzuerhalten sucht. Wie sie ihre Liebe und ihre
soziale Scham scheu vor der Kamera bekennt, greift ans Herz. Melgar hat ein
Gespür dafür, wann es zu viel wird, etwas zu zeigen. Diskret, aber wach ist
seine Direct-Cinema-Kamera dabei, bereit, das Momentum wahrzunehmen.
Da sitzen sie nun, die Eltern, vertrauen ihre Sprösslinge zum ersten Mal
fremden Händen und Gesichtern an. Ein wenig sind sie verschüchtert,
gleichzeitig steht ihnen die Erleichterung ins Gesicht geschrieben, tagsüber
wenigstens etwas vom eigenen Leben zurückzugewinnen. Das engagierte Schulteam
übernimmt! Auch im Kollektiv braucht jedes der Kinder seinen eigenen, ihm
gemässen (auch medizinischen) Umgang, manchmal unter Zuzug externer Fachkräfte
in Einzelbetreuung. Man singt und klatscht dazu, kleckst mit Farben, rührt in
Schüsseln, und das Personal ist nach Schulschluss fix und fertig, rafft sich
noch auf zu den Teambesprechungen.
Das meiste ist Arbeiten
Aber mit welchem Ertrag letztlich? Philosophisch am Filmtitel will uns
allenfalls die stoische Geduld erscheinen, den kleinen Leben die Sinne zu
sensibilisieren, um Sinn zu generieren. Sinn worin? Im Selbstzweck von Spiel?
Nein, wir lernen: Hier wird streng unterschieden zwischen Arbeit und Spiel, und
das meiste ist Arbeiten. Mit grossem Lob für kleinstes Gelingen – und durchaus
mit Strafen, mit Sanktionen. Da lassen die Betreuerinnen aus Prinzip kein
Laisser-faire zu, gerade weil soziales An- statt Ausgeschlossensein das Ziel
ist.
Und so zeigt dieses Jahr, während dessen Melgar gedreht hat, beglückend
Spuren leisen Fortschritts. Kinder lernen überhaupt zu reagieren, Gefühle zu
äussern. Die kleine Albiana schafft es, Treppenstufen sorgfältig anzugehen und
nicht kopfüber in die Tiefe zu stolpern. Und Kenza, der zu Beginn mit ihren ins
Leere verdrehten Augen die Welt gleichgültig zu sein schien, hat einen Blick
erhalten, wenn ihre Musikereltern mit ihr spielen, sie tanzend wiegen – und
sich der Kopf des Mädchens später im Wachtraum hinter seinen Kissen leise
weiter wiegt, mit Mutters Gesang noch im Ohr. Welch subtile Montagesequenz von
Karine Sudan in diesem Werk in bester Schweizer Dokumentarfilm-Tradition, die
uns das Prinzip Hoffnung wider eine rasch parat liegende Resignation entdecken
lässt.
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