«Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.» Das alte Sprichwort
gilt längst nicht mehr; die heutige Berufswelt verlangt lebenslanges Lernen.
Die Schweiz steht bei der Weiterbildung denn auch weltweit an der Spitze.
Nachholbedarf hat sie indes darin, allen gleiche Startchancen im Bildungssystem
zu bieten. Eine neue Publikation des Schweizerischen Wissenschaftsrats (SWR)
zeigt mit aller Deutlichkeit auf, dass hier noch immer «ein unhaltbarer
Zustand» herrscht – zum Schaden von Jugendlichen, die aus sozial
benachteiligten Schichten stammen oder einen Migrationshintergrund haben, zum
Schaden aber auch für die Volkswirtschaft. Weiterhin gilt in der Schweiz: Kommt
Hänschen aus dem falschen Milieu, kann er lernen, was er will – und kommt doch
kaum weiter.
Das Schweizer Bildungssystem ist noch immer sozial ungerecht, NZZ, 28.12. von Jörg Krummenacher
Politik nimmt Problem zu wenig wahr
Der 15-köpfige Wissenschaftsrat berät den Bundesrat und sieht es unter
anderem als seine Aufgabe an, etablierte Strukturen zu hinterfragen. Präsidiert
wird er derzeit vom ETH-Professor Gerd Folkers. Zum zweiten Mal innert kurzer
Zeit widmet er sich der «sozialen Selektivität» des Schweizer Bildungssystems:
dessen nach wie vor mangelhafter Chancengerechtigkeit. Als Grund für die
erneute Publikation nennt der SWR den dringenden Handlungsbedarf in diesem
Bereich. Offensichtlich hat sich die auch im internationalen Vergleich
ungünstige Situation im Lauf der letzten Jahre nicht verbessert.
Die Schweiz könne es sich aber schlicht nicht leisten, dem Thema
interesselos gegenüberzustehen, schreibt der SWR. Denn als Standort für
Forschung und Innovation hat das Land einen hohen Bedarf an qualifizierten
Mitarbeitenden und Führungskräften. Statt diese im Ausland rekrutieren zu
müssen, solle das Potenzial im Inland besser ausgeschöpft werden. Der
Wissenschaftsrat zeigt sich besorgt, «dass trotz klarer Datenlage die
Problematik der sozialen Selektivität auf der politischen Ebene nach wie vor
nicht in angemessenem Umfang wahrgenommen wird».
Empfehlungen an Bund und Kantone
Eine Diskriminierung aufgrund von Herkunft, Geschlecht und sozialer
Stellung verstosse zudem gegen die Grundsätze der Bundesverfassung. Auch
deshalb ist der Rat der Auffassung, «dass die Entscheidung über die Wahl des
Bildungsweges bei den Individuen gemäss ihrer Leistungsfähigkeit liegen muss
und nicht durch Strukturen des Bildungssystems vorbestimmt werden darf».
Wie dies verbessert werden soll, erläutert der SWR in einer Reihe von
Empfehlungen. Dabei zielt er nicht auf eine verstärkte Akademisierung der
Bildungslandschaft, sondern auf eine gerechte Chancenverteilung bei den
Übertritten von Schulstufe zu Schulstufe. Die Vorschläge richten sich je nach
Verantwortlichkeit an den Bund und an die Kantone, die im Übrigen, wie er
anfügt, durchaus intensiver zusammenarbeiten könnten.
An die Adresse des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und
Innovation (BFI) gehen etwa die Empfehlungen, die frühkindliche Förderung
strategisch zu unterstützen und explizit in die BFI-Botschaft 2021–2024
aufzunehmen sowie privaten Initiativen zur Förderung der Chancengerechtigkeit
finanziell und organisatorisch zur Seite zu stehen. Von den Kantonen wünscht
sich der Wissenschaftsrat eine gezielte Sprachförderung sozial benachteiligter
Kinder, eine Sensibilisierung der Lehrkräfte für das Thema der sozialen
Selektivität und eine Überprüfung der Schulübergänge. Eine Selektion zwischen
verschiedenen Leistungsstufen dürfe nicht zu früh, sondern erst zu Beginn der
Sekundarschule erfolgen. Denn eine frühere Selektion habe sich für die
Chancengleichheit als kontraproduktiv erwiesen.
Vergeudung von «Humankapital»
Als Grundlage für seine Einschätzungen und Vorschläge dient dem
Wissenschaftsrat eine Studie, die er bei Rolf Becker, dem Direktor der
Abteilung Bildungssoziologie der Uni Bern, sowie bei Jürg Schoch, dem Leiter
des Instituts Unterstrass an der Pädagogischen Hochschule Zürich, in Auftrag
gegeben hat. Die Autoren kommen mit Blick auf weitere Forschungsarbeiten zum
Schluss, dass das Schweizer Bildungssystem ungerecht und in der Folge
ineffizient sei. Kinder von Akademikern besuchten doppelt so oft ein Gymnasium
wie Kinder von Eltern mit mittlerem und niedrigem Bildungsniveau. Bei einem
Universitätsstudium seien die Chancen Ersterer gar fünfmal höher. Zudem lasse
sich belegen, dass soziale Unterschiede bereits in der frühen Kindheit
Auswirkungen auf die Bildungschancen hätten und die Unterschiede danach von
Bildungsstufe zu Bildungsstufe grösser würden. Schon bis zum Ende der
Primarschulzeit gebe es eine «sich öffnende Leistungskluft».
Die Autoren stellen fest: «Wenn das Schweizer Bildungssystem nicht in
der Lage ist, das nötige akademische Humankapital selbst zu erzeugen, ergibt
sich die Frage, warum es entsprechende Talente nicht in ausreichender Zahl zu
einer tertiären Berufsausbildung und akademischen Ausbildung bringt und
inwiefern entsprechende Talente bei den Einheimischen und Zugewanderten
vergeudet werden, während zur Kompensation gleichzeitig hochqualifiziertes
Humankapital aus dem Ausland importiert werden muss.» Der Verzicht von
ökonomisch armen Talentierten auf ein Studium komme die Gesamtgesellschaft
teurer zu stehen als eine Übernahme von deren Studienkosten durch die
Allgemeinheit.
Rolf Becker und Jürg Schoch sprechen insgesamt von einer kurzsichtigen
Schweizer Bildungspolitik, «die sich vornehmlich auf den Berufsbildungsbereich
und die Einsparung von Kosten bei der Akademikerausbildung konzentriert». Nötig
sei stattdessen eine «mutige Modernisierung» des Bildungssystems. Wie diese
erfolgen soll? Es liest sich wie ein Vorsatz zum Jahreswechsel: «mit Mut und
Augenmass zugleich».
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