"Der Lehrplan strotzt vor nichtssagenden Worthülsen", Bild: fhnw.ch
"Die Lehrer fühlen sich als Deppen", Neue Luzerner Zeitung, 18.10. von Kari Kälin
Mathias Binswanger, in mehreren Kantonen, zuletzt
Schwyz, wurden Initiativen gegen die Einführung des Lehrplans 21 lanciert.
Überrascht Sie der Widerstand?
Mathias Binswanger:
Nein. Es hat mich höchstens erstaunt, dass er sich nicht früher formiert hat.
Erst nachdem im Kanton Baselland kritische Stimmen laut wurden, realisierte
eine breite Öffentlichkeit, dass die Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz
mit dem Lehrplan 21 ein zwar
gigantisches, aber praxisuntaugliches Werk installieren will.
Aber es macht doch
Sinn, schweizweit einheitliche Lernziele zu definieren.
Binswanger: Aber
nicht so, wie das im Lehrplan 21 geschieht. Es ist ein Wahnsinn, auf 557 Seiten
4753 Kompetenzen zu formulieren. Es ist ein Wahnsinn, den Unterricht von oben herab bis in jedes Detail
zu steuern und die Lehrer mit detailliert formulierten Kompetenzen zu normieren.
Eine Vereinheitlichung hat ihren Preis. Wenn die Lehrer, deren Beruf ohnehin
schon an gesellschaftlichem Prestige verloren hat, ihren Unterricht nicht mehr
frei gestalten dürfen, dann sinkt ihre Motivation, der Lehrerberuf wird noch
unattraktiver. Falsch ist sodann der Weg hin zur sogenannten „Kompetenzorientierung“.
Man kann nicht kompetent sein ohne Wissen.
Ist die Aneignung von
Kompetenzen nicht wichtiger als das „Herunterrattern“ von Fakten und Daten?
Binswanger: Niemand
fordert, man müsse in der Schule einfach Wissen pauken.
Aber ohne Grundwissen
kann ein Schüler weder kompetent noch urteilsfähig sein. Es hilft, wenn ein
Schüler das Einmaleins kann, es hilft, wenn er weiss, wann der Erste und der
Zweite Weltkrieg stattgefunden haben. Wenn man sich in einer Fremdsprache
verständigen will, muss man Wörter kennen. Schliesslich kann man während eines
Gesprächs nicht ständig auf dem iPhone nach Übersetzungen suchen. Lernen kann nicht immer Spass machen und ist manchmal
auch hart. Man muss sich manchmal Dingeaneignen, die einen zunächst nicht
interessieren. Es reicht nicht, die Kompetenz zu haben, Fakten im Internet zusammenzugooglen.
Was haben Sie
dagegen, dass Schüler „verantwortungsbewusst Konsumentscheide» fällen oder
«Verfremdungen religiöser Traditionen“ aufschlüsseln sollen, wie es im Lehrplan
21 heisst?
Binswanger: Das sind
nichtssagende Worthülsen, von denen der Lehrplan 21 nur so strotzt. Bevor man
grosse Diskussionen über religiöse Traditionen führen kann, muss man zuerst ein
wenig die Bibel kennen. Man muss wissen, worüber man urteilt. Ein „verantwortungsvoller
Konsumentscheid“ ist für einen Schüler bloss eine Expertenfloskel. Gemäss
Lehrplan 21 müssen Schüler zwischen der 3. und 6. Primarklasse Umbrüche in
Wirtschaft und Politik in den Zusammenhang zu Veränderungen der Arbeitswelt
stellen. Man soll also in diesem Alter etwa die
Folgen der
Industrialisierung und Globalisierung durchschauen. Oder die Primarschüler
sollen den Gebrauch von Sagen und Mythen in der aktuellen Gegenwart kritisch
reflektieren und deren Verwendung im politischen Diskurs erkennen. Solche
Kompetenzen sind vollkommen an den Schülern vorbei formuliert. Man soll ergo
hochtrabende Debatten in Schulstuben inszenieren, ohne die Fakten zu kennen.
Das Resultat ist eine inhaltsleere Geschwätzkultur.
Gemäss empirischen
Studien ist für den Lernerfolg die Persönlichkeit des
Lehrers
matchentscheidend. Was ziehen Sie daraus für eine Schlussfolgerung?
Binswanger: Dass
Unterrichtsmethoden gar nicht so wichtig sind, das persönliche
Engagement des
Lehrers aber umso mehr. Aus diesem Grund brauchen die Lehrer
eine gewisse
Freiheit, damit sie den Unterricht so gestalten können, dass er auch
ihnen Freude
bereitet. Unter diesen Voraussetzungen werden die besten Lernerfolge erzielt.
Die Entwicklung des
Lehrplans 21 hat Millionen gekostet. Soll man jetzt die ganze Übung stoppen?
Binswanger: Es genügt
jedenfalls nicht, den Lehrplan um 20 Prozent abzuspecken,
wie es die
Erziehungsdirektorenkonferenz nach der Kritik in der Vernehmlassung
tun will. Ein
Lehrplan soll nicht ein Monumentalwerk sein, das wie ein Kochbuch
detaillierte Rezepte
für den Unterricht vorschreibt. Ein Lehrplan sollte schlank
sein und einige
präzis formulierte Grundsätze erhalten. Man hat es verpasst, bei
der Entstehung eine
breite Lehrerbasis einzubringen. Die Mehrheit wusste nicht,
was im stillen
Kämmerlein ausgeheckt wird. Ich würde die Übung abblasen. Es
macht keinen Sinn,
etwas Schlechtes umzusetzen, nur weil es viel gekostet hat.
Was sollte ein
Lehrplan enthalten?
Binswanger: Man muss
sicherstellen, dass die Mehrheit der Schüler in Mathematik
und Sprachen, aber
auch in musischen Fächern und beim Werken gewisse Grundfertigkeiten erwirbt.
Informatik halte ich übrigens nicht für so wichtig, das lernen
die Schüler daheim
ohnehin, und häufig können sie es besser als ihre Lehrer. Aber
Inhalte wie der Satz
des Pythagoras müssen vermittelt werden. Solches Wissen
eignen sich die
Schüler nicht in selbst- und kompetenzorientiertem Unterricht an.
Hand aufs Herz: In
der Praxis wird der neue Lehrplan kaum viel ändern.
Binswanger: Er wird
sich zu einem grossen Teil selbst aushebeln, weil er viel zu
viele Vorgaben
enthält. Aber der Lehrplan atmet einen unseligen Geist. Er ist von
Misstrauen geprägt
gegenüber den Lehrern und trägt dazu bei, dass sich diese
als Deppen fühlen,
weil sie angeblich nicht selbst entscheiden können, mit
welchem
Unterrichtsstil die Lernziele am besten erreicht werden.
Schon wieder ein neues Datum für die Veröffentlichung der Überarbeitung: Mitte November! Hinter den Kulissen scheint ziemlich was los zu sein.
AntwortenLöschenElsbeth Schaffner schreibt folgenden Kommentar:
AntwortenLöschenIch gehe mit sämtlichen Aussagen von Mathias Binswanger einig bis auf einen Satz: Der Lehrplan 21 hat natürlich leider im Vorfeld seiner offiziellen Einführung schon einiges in der Praxis verändert!
Im Rahmen der lokalen Schulentwicklung, der obligatorischen Weiterbildung mit Methodentraining sowie durch die Lehrmittel wird die Lehrerschaft seit geraumer Zeit auf den Lehrplan 21 eingespurt.
Die neu ausgebildeten LehrerInnen kommen auch mit einer kompetenzorientierten Ausbildung von den PH's.
Die Aufzählung der 4000 Kompetenzformulierungen ist nur das Tüpfelchen auf dem i, das zur kompleten Gängelung der Lehrerschaft noch gefehlt hat.
Unser Kanonales Amt für Volksschule (SG) bezeichnet in ihrem aktuellen Info-Bulletin die Einführungsphase des Lehrplans 21ebenfalls als bereits begonnen. Seine Einführung sei kein Zeitpunkt sondern ein mehrjähriger Prozess. "Dieser Prozess beginnt vor dem Vollzugs-zeitpunkt und reicht deutlich über ihn hinaus."
Dieser Dampfer gehört nicht nur gestoppt, er braucht auch einen Rückwärtsgang und einen neuen Kapitän.
Die Befürworter dieses outputgesteuerten Einheitsprogramms werden nicht darum herum kommen, sich den Fragen zu stellen, was sie eigentlich dagegen haben, wenn die SchülerInnen das Einmaleins und richtig Lesen und Schreiben lernen müssen. Wer hat ein Interesse daran, dass sie geschichtliche Fakten nicht kennen und ihnen weder die Geografie noch die Flora und Fauna ihrer eigenen Heimat bekannt gemacht werden?
Was wir erfahrenen LehrerInnen uns seit vielen Jahren fast rechtfertigen müssen, dass wir den Kindern die Grundlagen beibringen!
Zwei Fragen sollten zumindest von den Erfindern des Lehrplans 21 einmal beantwortet werden: Wer seid ihr? - und - Was wollt ihr?
Besonders bedeutsam scheint mir die letzte Frage von Elsbeth Schaffner zu sein: Was wollt ihr?
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