2. Januar 2019

Blüht uns schon die nächste Schulreform?


Weise Ratgeber in Sachen Bildungspolitik haben sich kurz vor Jahresende nochmals zu Wort gemeldet, wie die NZZ berichtet (NZZ, 28.12.2018). Eine neue Bildungsrevolution steht an, noch bevor Harmos mit dem Lehrplan 21 überall richtig gegriffen hat. Zumindest schlagen dies Rolf Becker und Jürg Schoch in ihrem Expertenbericht Soziale Selektivität vor, den sie im Auftrag des Schweizer Wissenschaftsrates vorlegen. Ihrer Meinung nach ist das Hauptproblem unseres Bildungssystems mit den bisherigen Reformen nicht gelöst: Noch immer lasse die Chancengleichheit zu wünschen übrig, monieren sie, und belegen dies mit Statistiken (Becker/Schoch, 2018).
Blüht uns schon die nächste Schulreform? Felix Schmutz, 2.1.


Allerdings ist das Problem nicht neu. Berger/Schoch zitieren den Soziologen Baron Ralf von Dahrendorf, der schon 1965 den exakt gleichen Befund konstatierte und verlangte, Bildung als Bürgerrecht müsse allen Kindern chancengleich zur Verfügung stehen, das brach liegende Potenzial müsse bei den benachteiligten Schichten besser ausgeschöpft werden. Die Idee stammte eigentlich aus der Küche der OECD, die damit den Weg zur Umkrempelung des Bildungswesens der Industrienationen vorgab und über die Jahrzehnte konsequent weiterverfolgte.  

Die vorgeschlagenen Massnahmen der Schweizer Wissenschaftler zur Behebung der sozialen Selektivität sind denn auch dieselben wie vor 50 Jahren: Kompensation des Bildungsrückstandes (z.B. durch sprachliche Fördermassnahmen im frühesten Alter oder durch Ausdehnung der Schulzeit) , Aufschub des Schulbahnentscheides bis ans Ende der obligatorischen Schulzeit durch ein altersdurchmischtes Gesamtschulmodell, Erhöhung der Gymnasialquote. Verwundert fragt man sich: Haben wir das nicht schon alles ausprobiert?

Als leuchtendes Vorbild wird mehrmals Schweden erwähnt, wo die soziale Bildungsgerechtigkeit besser gelinge. Dumm nur, dass dies die schwedische Jugend nicht glücklicher macht als die Schweizer Jugend. In Schweden beträgt die Jugendarbeitslosigkeit 17,2 %, während sie in der Schweiz lediglich mit 3,1 % zu Buche schlägt. (statista, 2018; SEKO, 2018) In Schweden liegt auch die Suizidrate  bei Jugendlichen höher als in der Schweiz. Offenbar leiden junge Schweizer gar nicht so sehr unter der Chancenungleichheit, sie scheinen auch beruflich weniger Nachteile zu haben. Schweizer Lehrlinge erreichen in internationalen Wettbewerben Spitzenplätze. Soll man trotzdem das Schulsystem nach schwedischem Muster umbauen?

Die Behauptung, ein grosser Teil der Chancenungleichheit hänge mit der «Stratifizierung», also der frühen Einteilung in Leistungszüge, zusammen, steht auf wackligen Füssen. Wenn man wie Becker und Schoch für den Schulerfolg auf die PISA-Ergebnisse abstellt, zeigt sich, dass die Leistungsergebnisse nicht mit der Schulstruktur zu korrelieren brauchen. Auch die viel gepriesene Hattie-Studie weist der Schulstruktur nur eine geringe Wirkung auf die Leistungsentwicklung zu. (Hattie, 2009)  

Nicht leistungsdifferenzierende Schulen stellen allerdings eine grosse Herausforderung dar. Schon in den Neunzigerjahren wies die gross angelegte BIJU-Langzeitstudie empirisch nach, dass die früh leistungsgetrennten Schulen Deutschlands klar im Vorteil sind gegenüber den Gesamtschulen. (Sprenger, undatiert):

Realschüler profitieren - wie die Gymnasiasten - unübersehbar von der frühen, mit dem 5. Jahrgang einsetzenden Differenzierung. Auch in den späteren Jahrgängen ist der Fördereffekt von Realschulen deutlich höher als der Fördereffekt von Gesamtschulen. Realschüler erreichen bis zum Ende des 10. Jahrgangs gegenüber gleich begabten Gesamtschülern zum Beispiel in Mathematik „einen Wissensvorsprung von etwa zwei Schuljahren“. 
Das Versprechen einer besseren individuellen Förderung durch Gesamtschulen ist also auch bezüglich der potentiellen Realschüler nicht einzuhalten. - Der Vorsprung der Gymnasiasten gegenüber vergleichbaren Gesamtschülern lag bei „mehr als zwei Schuljahren“.
Dem niedrigen Fördereffekt der Gesamtschul-Mittelstufen entspricht ein niedriger Leistungsstand der gymnasialen Oberstufen von Gesamtschulen, nachgewiesen für Mathematik und Englisch.

Die Schweizer Schulen sollen also auf die offensichtlichen Vorteile eines gegliederten Schulsystems verzichten? Ein vorschneller Eingriff! Die Autoren erkennen selbst, dass die Anregungen in der frühen Kindheit der entscheidende Faktor für den Schulerfolg sind. In Bezug auf die Bedeutung der sozialen Herkunft für die Schulleistungen kommt die BIJU-Studie übrigens in Deutschland zu einem anderen Resultat als die Herren Becker und Schoch (Baumert, undatiert):

Die wichtigsten Einflüsse auf die Leistungsentwicklung üben die kognitiven Variablen Vorwissen und kognitive Grundfähigkeiten aus. Der Einfluß des sozialen Status ist schwach. Ethnische Herkunft und familiäre Situation üben nach Kontrolle der kognitiven Voraussetzungen keinen nachweisbaren Einfluß aus.

Das grosse Problem der Gesamtschulen ist und bleibt die Nivellierung nach unten. Becker und Schoch sehen zwar diese Gefahr, glauben sie aber mit Individualisierungsmassnahmen, Altersdurchmischung, Gewährung von zusätzlicher Zeit und durch Aufweichung der Notenpraxis beherrschen zu können. Alle diese Vorschläge wurden in den letzten 50 Jahren in zahlreichen Schulversuchen und -reformen erprobt. Trotzdem konnte die Chancengleichheit statistisch nicht zur Zufriedenheit Beckers und Schochs verbessert werden.

Dass die sozialen Voraussetzungen bei der Selektion eine Rolle spielen, soll nicht bestritten werden. Der Vorschlag, Kinder, die in wenig anregender Umgebung aufwachsen, sehr früh zu fördern, ist in diesem Zusammenhang nicht neu und sicher begrüssenswert. Im In- und Ausland gibt es Modelle, die solches anstreben.

Dabei stösst man jedoch an Grenzen: Die frühe Sprachschulung muss von gut ausgebildeten Leuten geleistet werden, die Kinder dürfen ihrem familiären Umfeld nicht entfremdet werden, die herkömmlichen Werte und Einstellungen der Eltern sind nur bedingt zu beeinflussen, die Förderung muss zeitintensiv und langfristig angelegt sein. Die Frage, inwiefern Frühförderung tatsächlich nachhaltig die Chancengerechtigkeit von Benachteiligten verbessert, ist noch nicht abschliessend geklärt. Statistisch hat die Frühförderung jedenfalls noch kaum Niederschlag gefunden, sonst müssten das Berger und Schoch bemerkt haben.

Gute Resultate versprechen die Konzepte Durchlässigkeit auf allen Stufen und Nachholen im nachschulischen Bereich. Die Erfahrung lässt den Schluss zu, dass selektierende Systeme, wenn sie durchlässig gestaltet sind, sozialen Aufstieg sehr wohl ermöglichen. Optimierung soll dann möglich sein, wenn das Bedürfnis auch wirklich vorhanden ist. Der Schreibende hat selbst in Übergangsklassen unterrichtet, die den Übertritt von der Volksschule ins Gymnasium im achten und neunten Schuljahr (bei regulärem Gymnasialbeginn im 5. Schuljahr) ermöglichten, und regelmässig den achtzig- bis neunzigprozentigen Erfolg dieser hoch motivierten Aufsteiger und Aufsteigerinnen auf der späteren Sekundarstufe II beobachten können. Dass damit nicht das ganze Potenzial ausgeschöpft wird, ist bedauerlich, aber offenbar nicht leicht zu ändern.  

Es stellt sich die Frage der Machbarkeit bei dem von Becker/Schoch vorgeschlagenen «social engineering» zur Chancenoptimierung. Becker und Schoch sehen das brach liegende Menschenkapital rein technokratisch, als könne man Menschen leicht umprogrammieren, so dass ihnen die fehlende Vorstellung von Bildung, Motivation, Interessen und Werten mir nichts, dir nichts zuflögen. Sie sehen Chancengerechtigkeit als eine vom Staat gesteuerte Assimilation der Jugend in die akademisch-orientierte Leistungsgesellschaft, um – wie es Dahrendorf schon wollte – der Wirtschaft und Forschung genügend Fachkräfte zur Verfügung zu stellen. Es geht ihnen um die optimale Verwendbarkeit der jungen Menschen, nicht um deren Möglichkeit, in dieser Gesellschaft einen den eigenen Bedürfnissen und Möglichkeiten entsprechenden Platz zu finden.

Ein weiterer wichtiger Punkt bleibt im Bericht unerwähnt: Bei einer sehr grossen kulturellen Differenz oder Benachteiligung muss eine Generation abgewartet werden, bis Chancengerechtigkeit überhaupt möglich wird. Dass der soziale Aufstieg über Generationen hinweg möglich ist, haben die Schulen der Schweiz und der duale Ausbildungsweg bewiesen. Schade, dass dies von den Soziologen nicht gewürdigt wird.

Die Behörden des Bildungswesens seien deshalb gewarnt: Bevor sie aufgrund von Beckers und Schochs Bericht die Schulen erneut umkrempeln, sollten sie sich von folgenden Fragen leiten lassen:
1. Sind die vorgeschlagenen Massnahmen lösungsorientiert (wird ein Problem angegangen oder nur ein ideologisches Konzept propagiert)?
2. Sind die Ideen logisch durchdacht (im Gesamtzusammenhang widerspruchsfrei und nicht nur auf ein Thema fixiert)?
3. Sind die Massnahmen realisierbar (z.B. Ressourcen, Personal flächendeckend vorhanden)?
4. Sind die Massnahmen tatsächlich wirksam (erfolgreich erprobt, lediglich Annahmen oder sogar schon irgendwo gescheitert)?

Aufgrund obiger Überlegungen können die Empfehlungen des Berichtes vor diesen Fragen kaum bestehen.

Krummenacher, Jörg,  Das Schweizer Bildungssystem ist noch immer sozial ungerecht, NZZ, 28.12.2018

Becker, Rolf/Schoch, Jürg Soziale Selektivität, Politische Analyse 3/2018, Expertenbericht im Auftrag des Schweizerischen Wissenschaftsrats.

Europäische Union: Jugendarbeitslosenquoten in den Mitgliedsstaaten im Oktober 2018, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/74795/umfrage/
jugendarbeitslosigkeit-in-europa/

SEKO, Jugendarbeitslosigkeit, https://www.seco.admin.ch/seco/de/home/Arbeit/ Arbeitslosenversicherung/arbeitslosigkeit/Jugendarbeitslosigkeit.html

Hattie, John, Visible Learning, 2009.

Sprenger, Ulrich, Das MPIB-Projekt „Bildungsverläufe und psychosoziale Entwicklung im Jugendalter (BIJU)“ - Eine Zusammenfassung, http://www.schulformdebatte.de/contentbox/data/514.pdf

Baumert, Jürgen/Köller, Olaf Nationale und internationale Schulleistungsstudien: was können sie leisten, wo sind ihre Grenzen? https://www.mpib-berlin.mpg.de/volltexte/ institut/dok/full/Baumert/bjnuip__/bjnuip__.htm

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen