Weise Ratgeber in Sachen Bildungspolitik haben sich kurz vor
Jahresende nochmals zu Wort gemeldet, wie die NZZ berichtet (NZZ, 28.12.2018). Eine
neue Bildungsrevolution steht an, noch bevor Harmos mit dem Lehrplan 21 überall
richtig gegriffen hat. Zumindest schlagen dies Rolf Becker und Jürg Schoch in
ihrem Expertenbericht Soziale
Selektivität vor, den sie im Auftrag des Schweizer Wissenschaftsrates
vorlegen. Ihrer Meinung nach ist das Hauptproblem unseres Bildungssystems mit
den bisherigen Reformen nicht gelöst: Noch immer lasse die Chancengleichheit zu
wünschen übrig, monieren sie, und belegen dies mit Statistiken (Becker/Schoch, 2018).
Blüht uns schon die nächste Schulreform? Felix Schmutz, 2.1.
Allerdings ist das Problem nicht neu. Berger/Schoch zitieren
den Soziologen Baron Ralf von Dahrendorf, der schon 1965 den exakt gleichen
Befund konstatierte und verlangte, Bildung als Bürgerrecht müsse allen Kindern
chancengleich zur Verfügung stehen, das brach liegende Potenzial müsse bei den
benachteiligten Schichten besser ausgeschöpft werden. Die Idee stammte
eigentlich aus der Küche der OECD, die damit den Weg zur Umkrempelung des
Bildungswesens der Industrienationen vorgab und über die Jahrzehnte konsequent weiterverfolgte.
Die vorgeschlagenen Massnahmen der Schweizer Wissenschaftler
zur Behebung der sozialen Selektivität sind denn auch dieselben wie vor 50
Jahren: Kompensation des Bildungsrückstandes (z.B. durch sprachliche Fördermassnahmen
im frühesten Alter oder durch Ausdehnung der Schulzeit) , Aufschub des
Schulbahnentscheides bis ans Ende der obligatorischen Schulzeit durch ein
altersdurchmischtes Gesamtschulmodell, Erhöhung der Gymnasialquote. Verwundert
fragt man sich: Haben wir das nicht schon alles ausprobiert?
Als leuchtendes Vorbild wird mehrmals Schweden erwähnt, wo
die soziale Bildungsgerechtigkeit besser gelinge. Dumm nur, dass dies die
schwedische Jugend nicht glücklicher macht als die Schweizer Jugend. In
Schweden beträgt die Jugendarbeitslosigkeit 17,2 %, während sie in der Schweiz lediglich
mit 3,1 % zu Buche schlägt. (statista, 2018; SEKO, 2018) In Schweden liegt auch
die Suizidrate bei Jugendlichen höher
als in der Schweiz. Offenbar leiden junge Schweizer gar nicht so sehr unter der
Chancenungleichheit, sie scheinen auch beruflich weniger Nachteile zu
haben. Schweizer Lehrlinge erreichen in internationalen Wettbewerben
Spitzenplätze. Soll man trotzdem das Schulsystem nach schwedischem Muster
umbauen?
Die Behauptung, ein grosser Teil der Chancenungleichheit
hänge mit der «Stratifizierung», also der frühen Einteilung in Leistungszüge,
zusammen, steht auf wackligen Füssen. Wenn man wie Becker und Schoch für den
Schulerfolg auf die PISA-Ergebnisse abstellt, zeigt sich, dass die Leistungsergebnisse
nicht mit der Schulstruktur zu korrelieren brauchen. Auch die viel gepriesene
Hattie-Studie weist der Schulstruktur nur eine geringe Wirkung auf die
Leistungsentwicklung zu. (Hattie, 2009)
Nicht leistungsdifferenzierende Schulen stellen allerdings eine
grosse Herausforderung dar. Schon in den Neunzigerjahren wies die gross
angelegte BIJU-Langzeitstudie empirisch nach, dass die früh leistungsgetrennten
Schulen Deutschlands klar im Vorteil sind gegenüber den Gesamtschulen. (Sprenger,
undatiert):
Realschüler profitieren - wie die Gymnasiasten - unübersehbar von der
frühen, mit dem 5. Jahrgang einsetzenden Differenzierung. Auch in den späteren
Jahrgängen ist der Fördereffekt von Realschulen deutlich höher als der
Fördereffekt von Gesamtschulen. Realschüler erreichen bis zum Ende des 10.
Jahrgangs gegenüber gleich begabten Gesamtschülern zum Beispiel in Mathematik
„einen Wissensvorsprung von etwa zwei Schuljahren“.
Das Versprechen einer besseren individuellen Förderung durch
Gesamtschulen ist also auch bezüglich der potentiellen Realschüler nicht
einzuhalten. - Der Vorsprung der Gymnasiasten gegenüber vergleichbaren
Gesamtschülern lag bei „mehr als zwei Schuljahren“.
Dem niedrigen Fördereffekt der Gesamtschul-Mittelstufen entspricht ein
niedriger Leistungsstand der gymnasialen Oberstufen von Gesamtschulen,
nachgewiesen für Mathematik und Englisch.
Die Schweizer Schulen sollen also auf die offensichtlichen
Vorteile eines gegliederten Schulsystems verzichten? Ein vorschneller Eingriff!
Die Autoren erkennen selbst, dass die Anregungen in der frühen Kindheit der
entscheidende Faktor für den Schulerfolg sind. In Bezug auf die Bedeutung der
sozialen Herkunft für die Schulleistungen kommt die BIJU-Studie übrigens in
Deutschland zu einem anderen Resultat als die Herren Becker und Schoch
(Baumert, undatiert):
Die wichtigsten Einflüsse auf die Leistungsentwicklung
üben die kognitiven Variablen Vorwissen und kognitive Grundfähigkeiten aus. Der
Einfluß des sozialen Status ist schwach. Ethnische Herkunft und familiäre
Situation üben nach Kontrolle der kognitiven Voraussetzungen keinen
nachweisbaren Einfluß aus.
Das grosse Problem der Gesamtschulen ist und bleibt die
Nivellierung nach unten. Becker und Schoch sehen zwar diese Gefahr, glauben sie
aber mit Individualisierungsmassnahmen, Altersdurchmischung, Gewährung von
zusätzlicher Zeit und durch Aufweichung der Notenpraxis beherrschen zu können.
Alle diese Vorschläge wurden in den letzten 50 Jahren in zahlreichen
Schulversuchen und -reformen erprobt. Trotzdem konnte die Chancengleichheit statistisch
nicht zur Zufriedenheit Beckers und Schochs verbessert werden.
Dass die sozialen Voraussetzungen bei der Selektion eine
Rolle spielen, soll nicht bestritten werden. Der Vorschlag, Kinder, die in
wenig anregender Umgebung aufwachsen, sehr früh zu fördern, ist in diesem
Zusammenhang nicht neu und sicher begrüssenswert. Im In- und Ausland gibt es
Modelle, die solches anstreben.
Dabei stösst man jedoch an Grenzen: Die frühe Sprachschulung
muss von gut ausgebildeten Leuten geleistet werden, die Kinder dürfen ihrem
familiären Umfeld nicht entfremdet werden, die herkömmlichen Werte und
Einstellungen der Eltern sind nur bedingt zu beeinflussen, die Förderung muss
zeitintensiv und langfristig angelegt sein. Die Frage, inwiefern Frühförderung
tatsächlich nachhaltig die Chancengerechtigkeit von Benachteiligten verbessert,
ist noch nicht abschliessend geklärt. Statistisch hat die Frühförderung
jedenfalls noch kaum Niederschlag gefunden, sonst müssten das Berger und Schoch
bemerkt haben.
Gute Resultate versprechen die Konzepte Durchlässigkeit auf allen Stufen und Nachholen im nachschulischen Bereich. Die Erfahrung lässt den
Schluss zu, dass selektierende Systeme, wenn sie durchlässig gestaltet sind,
sozialen Aufstieg sehr wohl ermöglichen. Optimierung soll dann möglich sein,
wenn das Bedürfnis auch wirklich vorhanden ist. Der Schreibende hat selbst in
Übergangsklassen unterrichtet, die den Übertritt von der Volksschule ins
Gymnasium im achten und neunten Schuljahr (bei regulärem Gymnasialbeginn im 5.
Schuljahr) ermöglichten, und regelmässig den achtzig- bis neunzigprozentigen
Erfolg dieser hoch motivierten Aufsteiger und Aufsteigerinnen auf der späteren Sekundarstufe
II beobachten können. Dass damit nicht das ganze Potenzial ausgeschöpft wird,
ist bedauerlich, aber offenbar nicht leicht zu ändern.
Es stellt sich die Frage der Machbarkeit bei dem von
Becker/Schoch vorgeschlagenen «social engineering» zur Chancenoptimierung.
Becker und Schoch sehen das brach liegende Menschenkapital rein technokratisch,
als könne man Menschen leicht umprogrammieren, so dass ihnen die fehlende Vorstellung
von Bildung, Motivation, Interessen und Werten mir nichts, dir nichts zuflögen.
Sie sehen Chancengerechtigkeit als eine vom Staat gesteuerte Assimilation der
Jugend in die akademisch-orientierte Leistungsgesellschaft, um – wie es
Dahrendorf schon wollte – der Wirtschaft und Forschung genügend Fachkräfte zur
Verfügung zu stellen. Es geht ihnen um die optimale Verwendbarkeit der jungen
Menschen, nicht um deren Möglichkeit, in dieser Gesellschaft einen den eigenen
Bedürfnissen und Möglichkeiten entsprechenden Platz zu finden.
Ein weiterer wichtiger Punkt bleibt im Bericht unerwähnt: Bei
einer sehr grossen kulturellen Differenz oder Benachteiligung muss eine
Generation abgewartet werden, bis Chancengerechtigkeit überhaupt möglich wird.
Dass der soziale Aufstieg über Generationen hinweg möglich ist, haben die
Schulen der Schweiz und der duale Ausbildungsweg bewiesen. Schade, dass dies
von den Soziologen nicht gewürdigt wird.
Die Behörden des Bildungswesens seien deshalb gewarnt: Bevor
sie aufgrund von Beckers und Schochs Bericht die Schulen erneut umkrempeln,
sollten sie sich von folgenden Fragen leiten lassen:
1. Sind die vorgeschlagenen Massnahmen lösungsorientiert (wird ein Problem angegangen oder nur ein
ideologisches Konzept propagiert)?
2. Sind die Ideen logisch
durchdacht (im Gesamtzusammenhang widerspruchsfrei und nicht nur auf ein
Thema fixiert)?
3. Sind die Massnahmen realisierbar
(z.B. Ressourcen, Personal flächendeckend vorhanden)?
4. Sind die Massnahmen tatsächlich wirksam (erfolgreich erprobt, lediglich Annahmen oder sogar schon
irgendwo gescheitert)?
Aufgrund obiger Überlegungen können die Empfehlungen des
Berichtes vor diesen Fragen kaum bestehen.
Krummenacher, Jörg, Das Schweizer Bildungssystem ist noch immer
sozial ungerecht, NZZ, 28.12.2018
Becker, Rolf/Schoch, Jürg Soziale Selektivität, Politische Analyse
3/2018, Expertenbericht im Auftrag des Schweizerischen Wissenschaftsrats.
Europäische Union: Jugendarbeitslosenquoten in den
Mitgliedsstaaten im Oktober 2018, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/74795/umfrage/
jugendarbeitslosigkeit-in-europa/
SEKO, Jugendarbeitslosigkeit, https://www.seco.admin.ch/seco/de/home/Arbeit/ Arbeitslosenversicherung/arbeitslosigkeit/Jugendarbeitslosigkeit.html
Hattie, John, Visible Learning, 2009.
Sprenger, Ulrich, Das MPIB-Projekt
„Bildungsverläufe und psychosoziale Entwicklung im Jugendalter (BIJU)“ - Eine
Zusammenfassung, http://www.schulformdebatte.de/contentbox/data/514.pdf
Baumert, Jürgen/Köller, Olaf Nationale und internationale
Schulleistungsstudien: was können sie leisten, wo sind ihre Grenzen? https://www.mpib-berlin.mpg.de/volltexte/
institut/dok/full/Baumert/bjnuip__/bjnuip__.htm
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