18. Oktober 2018

Starke Lernbeziehungen statt wohlorganisierter Verantwortungslosigkeit


Hans Zbinden ist langjähriger Bildungswissenschafter und Bildungspolitiker. In seinem Gastkommentar zur steigenden Zahl und wechselnden Bezugspersonen für die Kinder schreibt er: «Schulen wurden nicht nur vielfältiger, auch hierarchischer.»
Schulischer Irrgarten, Aargauer Zeitung, 17.10. von Hans Zbinden


Mit dem Projekt «Fokus starke Lernbeziehungen» will der Kanton Zürich den immer komplexeren Schulalltag der Kinder wieder übersichtlicher, stetiger und stärker machen. Während in den letzten Jahren die pädagogischen Reformen seltener wurden, nahmen die organisatorischen und administrativen Um- und Abbauprojekte ständig zu. Durch die Einführung geleiteter Schulorganisationen, Integrationsmodelle, Professionalisierungen bis hin zu Tagesstrukturen erhofft man sich, die Wirksamkeit von Personal, Klassen und ganzen Schulen zu vergrössern. Und durch häufigere Standardisierungen und Evaluationen miteinander vergleichbarer zu machen.

Doch kommen alle diese Neuerungen mit immer mehr Organisation und Personal im Schulalltag letztlich den SchülerInnen zugute? In allen den reformierten und neuen Unterrichts-, Förder-, Therapie- und Betreuungsbereichen dienen diese ganz konkret dem Lerninteresse und der Lernfreude der Kinder und Jugendlichen? Und welchen pädagogischen Mehrwert bringen sie der Schule als Ganzes?

An den heutigen Schulen vieler Kantone finden wir mittlerweile das Modell der integrierten Schulklassen. Zusätzlich auch immer mehr in der Form von Tagesstrukturen. Die Klassen jeweils geführt von Klassenlehrkräften, unterstützt durch Sonder- und Heilpädagogen (weibliche Form mitgemeint) und oft auch durch Lehrpersonen für Deutsch als Zweitsprache. Flankierend unterstützt von Therapie-, Assistenz- und Betreuungspersonal verschiedenster Art. Doch die Schulen als «kleine Unternehmen» sind durch alle die Neuerungen nicht nur vielfältiger geworden. Sie wurden dazu auch noch hierarchischer. Durch die neue Personalkategorie von Schulleitenden, die als Gesamt-, Stufen-, Bereichs- und Schulhausverantwortliche tätig sind – mit mehr organisatorischer oder mehr pädagogischer Ausrichtung. So umfasst heute ein blühender administrativer Kranz die eigentliche pädagogische Lehr- und Lernarbeit der Schulen.

Alle diese horizontalen und vertikalen Ausdifferenzierungen haben zur Folge, dass für Schülerinnen und Schüler, aber auch für deren Eltern die reale Schulwelt immer komplizierter und verwirrender wird. Denn zum alltäglichen realen Schulalltag gesellen sich inzwischen auch noch alle die virtuellen Kontaktmöglichkeiten der Online-Welt. Mit Handy und Tablet eröffnen sich den Kindern weitere Verbindungen zu mancherlei Bezugspersonen in der schulexternen Aussenwelt. Von Lifestyle-Influencerinnen bis hin zu meinungsbildenden Bloggern, an denen sich die jungen User/Innen gerne orientieren.

In all dieser wachsenden Unübersichtlichkeit, Widersprüchlichkeit und Hektik müssen sich Kinder immer mehr wie in einem schulischen Irrgarten vorkommen. Sie verlieren den orientierenden Faden. Vor allem aber bekunden sie Mühe, in diesem Gewusel noch tragende und verlässliche Lernbeziehungen aufzubauen.

Entgegen diesen irritierenden Schulentwicklungen sind sich massgebliche Pädagoginnen und Schulfachleute aber längst einig: Um in Kindern ein dauerhaftes Fundament an Lernfreude und Lerninteresse aufzubauen und lebenslang aufrechtzuerhalten, brauchen diese in den ersten Schuljahren vorab wenige, aber konstante, starke und aufeinander abgestimmte persönliche Lernbeziehungen. Und damit eine Handvoll verlässliche Bezugspersonen, auf die sie zählen können. Die sie in ihren Bemühungen immer wieder bestärken und ihnen als wegweisende Vorbilder dienen.

Mittlerweile haben die Zürcher Bildungsbehörden in einer Zwischenevaluation ein Fazit gezogen: Die drohende wohlorganisierte Verantwortungslosigkeit von immer mehr Schulpersonen ist durch eine klare Lernverantwortung weniger und konstanter Bezugspersonen abzulösen.

Die partnerschaftliche Zusammenarbeit der wenigen Lehr- und Förderkräfte im Rahmen eines Teamteachings ist erwartungsgemäss sehr anspruchsvoll. Sein Aufbau und seine Pflege brauchen viel Sorgfalt, Zeit und wechselseitige Empathie.

Denn letztlich spüren die Kinder selbst am besten, ob die gemeinsame Lehr- und Lernarbeit stimmig und wirkungsvoll abläuft. Und sich alle Beteiligten dabei helfen und respektieren.

Vor allem aber wurde offensichtlich: Schulen brauchen wenige, dafür starke Lernbeziehungen, mehr Ruhe und personelle Konstanz. Und Erwachsene, die mit Geduld und Achtsamkeit die Kinder dabei unterstützen, sich im Schulalltag zurechtfinden und sich darin gefordert und gefördert fühlen.

Was hindert eigentlich die Nordwestschweizer Kantone daran, dieses Projekt des benachbarten Kantons Zürich nachzuahmen?

1 Kommentar:

  1. Hahahahaha und gleich nochmals hahahaha!
    Hans Zbinden schiesst mit seinem Kommentar gleich zweifach daneben. Das Projekt der starken Lernbeziehungen stammt aus der Küche der ex-Bildungschefin Aeppli aus Zürich. Und wer hat denn all die Reformen von Integration bis Tagesschulen fleissigst gefördert und damit einer Horde von Hilfs- und Teilzeitlehrkräften Tür und Tor geöffnet? Mit diesem bildungspolitischen Salto rückwärts sorgte Aeppli auch noch für dringend benötigte Forschungsaufträge an den PH.

    Der zweite Lacher gilt dem amüsanten Versuch, die verblichenen Bildungsregion NW-Schweiz mit einem tollen Projektchen wieder Leben einzuhauchen. Realsatire in Reinkultur!

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