Die Schule bereite unsere Kinder schlecht auf die Zukunft vor, sagt der Philosoph und Bestsellerautor. Er erklärt, wieso Lehrer ihre Schüler nicht mögen müssen und weshalb man auf Goethes «Werther» verzichten sollte.
Richard David Precht: "Algebra braucht kaum jemand im Leben. Das ist verschwendete Zeit", NZZaS, 18.8. von Michael Furger
NZZ am
Sonntag: Herr Precht, von wem haben Sie am meisten gelernt?
Richard David
Precht: Von meinen Eltern.
Was waren die wichtigsten Lektionen?
Es sind drei Dinge, die ich auch meinem Sohn mitzugeben
versuche: Mehrheitsmeinungen misstrauen. Engagiert dafür eintreten, was man für
richtig hält, egal, was die Leute denken. Und sich mit den Schwachen
solidarisieren und nicht mit den Starken.
Wenn Sie das Wichtigste von Ihren Eltern gelernt haben, was hat
dann die Schule falsch gemacht?
Die Bildung kommt zu kurz. Im Unterschied zu blossem Wissen hat
Bildung etwas mit Persönlichkeit zu tun. Wissen kann man künstlich erzeugen.
Künstliche Intelligenz ist voll von Wissen und frei von Bildung. Denn Bildung
bedeutet, Dinge zueinander in Beziehung zu setzen und damit zu arbeiten.
Zum Beispiel?
Wissen ist, wenn ich weiss, wann die Schlacht bei Issos war und
dass da Alexander der Grosse gegen Dareios III. gekämpft hatte. Bildung aber
ist es erst, wenn ich daraus meine Schlüsse ziehe und etwa darüber nachdenke,
ob eine Grossmachtpolitik, wie Alexander sie betrieben hatte, sinnvoll war.
Weshalb setzt die Schule so stark auf Wissen?
Das Wissen kommt interessanterweise auch zu kurz. In der Grundschule
nicht, da lernt man ja ganz viel, Rechnen, Schreiben Lesen. Aber was kommt
später noch dazu? Ich frage in meinen Vorträgen jeweils gerne Stoff für das
fünfte und das sechste Schuljahr ab, zum Beispiel: Zu welcher Wortart gehört
das Wort «manche». Wissen Sie es?
Ich müsste länger überlegen.
Es ist ein Pronomen. Drei bis vier Leute im Publikum können die
eine oder andere meiner Fragen jeweils beantworten, mehr nicht. Und auf dieses
Schulsystem sind wir stolz.
Sie würden es anders machen.
Wir müssen es anders machen, weil die Digitalisierung die
Gesellschaft fundamental verändern wird. Darum stellt sich die Frage: Auf
welche Fähigkeiten kommt es im Zeitalter der Digitalisierung an? Vieles, was
jetzt im Zentrum der Schule steht, wird künftig durch künstliche Intelligenz
erledigt werden.
Welche Fähigkeiten wären das?
Sich kümmern und Probleme lösen. An beidem fehlt es. Meine Bank
etwa hat kürzlich das Onlinesystem umgestellt. Ich versuche seit einer Woche
mit grossen Kämpfen eine Überweisung vorzunehmen. Die Leute von der Bank, mit
denen ich telefoniere, sind alle keine Problemlöser. Die haben eine Schulung
absolviert und können eine Frage nur beantworten, wenn sie in ihr Schema passt.
Diese Art von Arbeit wird verschwinden, weil das eine Maschine erledigen kann.
Was ich brauche, ist der echte Kümmerer, der nicht Dienst nach Vorschrift
macht, sondern sich mit Empathie meines Problems annimmt. Es gibt wenig Leute,
die das können.
Wie kann man das lernen?
Wenn ich in der Schule ein Reimschema auswendig lernen und
anwenden muss, werde ich kein Problemlöser. Wenn ich aber die Aufgabe habe,
selbst ein Gedicht zu schreiben, entstehen viele Schwierigkeiten, die ich
beheben muss. Wenn ich also in eine Situation hineinwachse, in der ich mir
Gedanken darüber machen muss, wie ich ein Problem löse, ist das etwas anderes,
als die Lösung auswendig zu lernen. Szenarien gehen davon aus, dass ein grosser
Teil der Menschen künftig keine Festanstellung mehr haben, sondern als
Selbständige arbeiten werden. Doch die heutige Schule bereitet uns auf Dienst
nach Vorschrift vor.
Dann hat die Schule also Generationen von Menschen falsch
ausgebildet?
Der Staat hat sich seinerzeit bei der Gründung des heutigen
Schulsystems gesagt: Wir brauchen soundso viele Lehrer, Juristen und
Verwaltungsangestellte und soundso viele Leute, die normale Schreibarbeiten
machen. Dann benötigen wir noch Arbeiter und Handwerker. All diese Leute machen
eine bestimmte Arbeit ein Leben lang und kriegen dafür Geld. Darum bauen wir
eine Schule, die auf diese Arbeiten vorbereitet, und teilen sie in verschiedene
Niveaustufen. Als Belohnung geben wir Noten. Dieses System taugt heute nichts
mehr, weil es verhindert, dass die Menschen ihren Neigungen folgen.
Was schwebt Ihnen konkret vor?
Alles muss darauf hinzielen, die intrinsische Motivation zu
fördern, also das Lernen aus eigenem Antrieb. Noten machen genau das Gegenteil.
Sie fördern das Lernen aufgrund einer Belohnung, das sogenannte extrinsische
Lernen. Dazu kommt, dass unsere Schule die faszinierende Welt des Wissens in
Fächer zerlegt und in Lektionen gliedert und sich nach Lehrplänen organisiert,
wonach alle Schüler im gleichen Alter genau dasselbe machen müssen.
Sie würden Noten und Fächer abschaffen?
Die Noten ja, die Fächer zum grossen Teil.
Wie soll der Unterricht dann aussehen?
Ich würde die Klassenverbände auflösen, möglicherweise nach dem
sechsten Schuljahr, und stattdessen Lernhäuser schaffen nach dem englische
College-System. Man gehört dann während seiner ganzen Schullaufbahn dem
gleichen Lernhaus an und wird von denselben Lehrkräften betreut. Jedes Kind
arbeitet in seinem eigenen Tempo. Und der Unterricht folgt weniger einer
künstlichen Einteilung nach Fächern, sondern ist stärker projektorientiert.
Kinder beschäftigten sich mit dem, was sie interessiert.
Jedes Kind interessiert sich für etwas anderes. Das intrinsische
Lernen wird schwierig zu organisieren sein.
Nein, es wird einfacher als heute. Im heutigen System müssen
alle Kinder im gleichen Schuljahr die gleichen Chemie- oder Matheaufgaben
machen. In Zukunft wird es eine Interessensselektion geben. Es ist ja nicht so,
dass sich tausend Kinder in einer Schule für tausend verschiedene Dinge
interessieren. Man kann das bündeln und jene Kinder zusammenbringen, die sich
für etwas Bestimmtes ganz besonders interessieren. Der persönlichen Neigung der
Kinder wird damit stärker Genüge getan als jetzt.
Wer keine Lust hat auf Rechnen, muss nicht?
Doch. Es wird auch in Zukunft Bildungsziele geben, die für alle
gelten. Ich will die Schule nicht in die Beliebigkeit überführen. Aber nach dem
sechsten Schuljahr haben Sie keinen Klassenunterricht mehr, sondern bearbeiten
bestimmte Projekte, und das länger und konzentrierter als im bisherigen Modell.
Die Pointe liegt darin, dass sie in Sinnzusammenhängen lernen und ihre
Neigungen nicht abgewürgt werden.
Die Stoffmenge würde aber reduziert.
Ja. Die Begründung dafür, dass so viel Mathematik unterrichtet
wird, lautet ja: Damit man logisch denken lernt. Aber Analysis und
fortgeschrittene Algebra braucht kaum jemand im Leben. Die meisten beherrschen
das nach der Schule auch nicht mehr. Das ist verschwendete Zeit.
Aber logisch denken ist doch wichtig.
Das kann ich auch mit Schach und mit Philosophie lernen. Aber
jemanden, der schon bei den binomischen Formeln den Anschluss verpasst hat,
noch jahrelang zu quälen, nützt nichts. Da lernt man nicht logisches Denken,
sondern nur, ein Leben lang Mathematik zu hassen.
Und man lernt Dinge auswendig zu lernen.
Auswendiglernen ist eine nützliche Fähigkeit. Die Memo-Technik
sollte man beherrschen, etwa um einen freien Vortrag zu halten. Aber ich würde
den Kindern nicht vorschreiben, was sie auswendig lernen sollen.
Sie wuchsen mit Büchern auf. Ihr Vater hatte eine Bibliothek mit
3000 Exemplaren. Gibt es wenigstens Bücher, die man in seiner Bildungslaufbahn
gelesen haben sollte?
Das ist ja der Ansatz des klassischen Bildungsbürgertums. Man
sammelt Schätze an, die man bei jeder Gelegenheit auspacken kann, Goethe-Zitate
etwa. Ich wäre damit vorsichtig. Natürlich könnte ich eine Liste erstellen mit
Inhalten, von denen man eine Ahnung haben sollte. Aber ich würde nie sagen,
dass jeder Goethes «Werther» oder «Faust» gelesen haben sollte. Bei «Faust»
freue ich mich über jeden Leser. Bei «Werther» nicht. Das war schon damals kein
gutes Buch, und ist es auch heute nicht.
Wieso?
Es ist Sozialkitsch von vorne bis hinten.
Was wäre besser?
Aus derselben Zeit: «Anton Reiser» von Karl Philipp Moritz. Ein
Roman über die Entwicklung eines Jugendlichen, der versucht, dem beengenden
mittelständischen Milieu seiner Familie zu entkommen. Prallvoll mit echtem
Leben, echten Sorgen und echten Gefühlen.
Hatten Sie selbst gute Lehrer?
Im Gymnasium hatte ich drei gute.
Wieso waren die gut?
Der Lateinlehrer zum Beispiel war schon pensioniert und
unterrichtete nur noch aus Vergnügen. Der schaffte es, die Zeit lebendig zu
machen. Er schilderte die Schlacht von Cannae, als hätte er persönlich die
Truppen Roms gegen Hannibal in den Kampf geführt. Ich hatte auch einen
katholischen Religionslehrer, der nahm uns einfach ernst. Wir waren damals in
der Pubertät. Er diskutierte mit uns über Atheismus und gab uns Nietzsche zu
lesen. Wir wollten diese Texte wirklich verstehen. Das muss man erst mal schaffen.
Das Fach war freiwillig. Ich war nur wegen des Lehrers da.
Muss ein guter Lehrer seine Schüler mögen?
Viele sagen, die wichtigste Eigenschaft eines Lehrers wäre, dass
er Kinder mag. Ich finde, das ist gar nicht so wichtig. Ich bin mir jedenfalls
bei meinen besten Lehrern nicht sicher, ob sie Kinder wirklich gemocht haben.
Ich hab ihnen einfach wahnsinnig gerne zugehört. Man kann von niemandem etwas
lernen, dem man nicht gerne zuhört. Darum wäre ich dafür, dass Lehrer wie in
einer Casting-Show ausgewählt werden.
Eine Casting-Show?
Jeder angehende Lehrer soll nach dem Studium in einer
Probelektion ein paar hundert Schülern ein Thema aus seinem Fach näherbringen.
Nach zwei Minuten werden Sie wissen, ob der Kandidat Lehrer werden sollte oder
nicht. Es geht darum, wie man dasteht, redet, Farbe in sein Thema bringt.
Sollte man Philosophie in der Schule lernen?
Philosophie ist die Kunst, intelligent übers Leben nachzudenken.
Das ist sehr wichtig. Ich möchte mehr Philosophie in der Schule, aber nicht als
Fach, sondern als Teil von Projekten. Wenn etwas ganz bestimmt kein Fach ist,
dann Philosophie. Wittgenstein hat einmal gesagt: Philosophie ist eine
Tätigkeit, und das ist richtig.
Was sollte jeder Jugendliche tun, bevor er ins Berufsleben
einsteigt?
Ein soziales Pflichtjahr absolvieren. Jeder sollte sich zweimal
im Leben für ein solches Pflichtjahr zur Verfügung stellen, einmal nach der
Schule, einmal nach der Pensionierung. Immer weniger Menschen fühlen sich noch
fürs Gemeinwohl zuständig.
Wenn die Digitalisierung Jobs verschwinden lässt und viele von
uns keine Festanstellung mehr haben werden, wie verändert sich dann unser
Verhältnis zur Arbeit?
Arbeitslosigkeit, auch temporäre Arbeitslosigkeit, wird häufiger
werden. In vielen Berufen wird die Arbeit vom Zentrum des Lebens an den Rand
rücken. Das ist hervorragend. Das Beste an der Digitalisierung überhaupt ist,
dass es den Menschen von den langweiligen Routinetätigkeiten erlöst. Einige
Berufe werden überleben, vor allem Empathieberufe wie Krankenpflegerin, aber auch
Handwerksberufe. Auch in 20 Jahren wird kein Roboter zu ihnen nach Hause
kommen, um ihre Heizung zu reparieren, sondern ein Mensch.
Was machen dann all die anderen mit der vielen freien Zeit?
Das ist ein grosses Problem. Einige können damit umgehen, andere
können sich nicht beschäftigen und werden im Zweifelsfall zu Alkoholikern. Es
ist die Aufgabe der Schule, dafür zu sorgen, dass es in Zukunft mehr Leute
gibt mit guten Ideen für ihre freie Zeit. Ich habe vorhin gesagt, dass Kinder
heute in der Schule lernen, nur für eine Belohnung zu arbeiten. Werden sie
später arbeitslos und kriegen keine Belohnung mehr in Form von einem Lohn, ist
die Wahrscheinlichkeit, dass sie deprimiert werden, ziemlich gross. Wenn ich
aber lerne, für mich selbst zu arbeiten, gibt es gar keine Arbeitslosigkeit. In
meinem Beruf zum Beispiel findet Arbeitslosigkeit nicht statt. Was ich mache,
ist ja keine Arbeit, sondern bezahlte Selbstverwirklichung.
Ein Lohn ist doch auch ein Zeichen von Wertschätzung.
Das ist so, weil die Gesellschaft so denkt. Unser Anerkennungs-
und Belohnungssystem misst den Wert eines Menschen daran, wie viel Geld er nach
Hause trägt. Aber das wird sich ändern, sobald die Maschinen uns viel Arbeit
abnehmen. Unsere kulturelle DNA wird eine andere werden.
Wie bestreite ich mein Leben, wenn ich kein Geld verdiene?
Der Umbruch wird tatsächlich dazu führen, dass künftig
diejenigen Menschen, die noch arbeiten werden, nicht in der Lage sein werden,
jene zu finanzieren, die nicht arbeiten. Damit brechen die sozialen Sicherungssysteme
zusammen. Sehr wahrscheinlich wird man ein bedingungsloses Grundeinkommen
einführen. Das wird zur Folge haben, dass Erwerbslosigkeit nicht mehr so stark
stigmatisiert wird wie heute.
Über ein solches Grundeinkommen wurde in der Schweiz vor drei
Jahren abgestimmt . . .
. . . Ja, mit einem sensationellen Ergebnis.
Finden Sie? Drei Viertel lehnten es ab. Ein vernichtendes
Resultat.
Wenn es ein Land gibt, das heute kein Grundeinkommen benötigt,
dann die Schweiz. Und trotzdem war ein Viertel dafür. Ich bin aus den Schuhen
gekippt, ich hätte nicht einmal mit fünf Prozent gerechnet. Wenn man in
Deutschland vor zehn Jahren von einem bedingungslosen Grundeinkommen gesprochen
hätte, wären vielleicht fünf Prozent der Bevölkerung dafür gewesen. Laut Umfragen
ist es heute schon ein Drittel.
Ein Grundeinkommen verleitet noch mehr dazu, nichts mit seiner
Zeit anzufangen.
Es kommt drauf an, wie man es einführt. Ich würde das
Grundeinkommen von den Steuern befreien. Was heisst, dass Geld, das ich
dazuverdiene, erst ab einer gewissen Summe versteuert werden muss.
Hartz-IV-Empfänger in Deutschland müssen heute fast alles Dazuverdiente dem
Staat abliefern. Es lohnt sich für diese Menschen nicht, Arbeit anzunehmen. In
meinem Modell wäre der Reiz zu arbeiten dramatisch erhöht. Ein paar Leute
werden faul bleiben, aber das Grundeinkommen wird niemanden faul machen, der es
vorher nicht war.
Der Umbruch durch die Digitalisierung, der Verlust von
Verlässlichkeiten. Das macht den Menschen Angst. Schlechte Voraussetzungen für
eine Bildungsrevolution.
Es mehren sich tatsächlich die Zeichen, dass die Menschen Angst
vor der Zukunft haben. Es herrscht eine gesellschaftliche Unruhe. Die Menschen
verhalten sich wie Tiere, die spüren, dass ein Erdbeben bevorsteht. Es geht uns
sehr gut, aber die Leute sind unzufrieden. Sie erkennen es daran, dass der
Nationalismus blüht. Die Angst wird an den Migranten festgemacht, die bei
weitem nicht das grösste Problem sind, aber ein sichtbares. Wenn die
Arbeitslosigkeit stark steigen wird, und das wird bald passieren, wird diese
Unsicherheit und Unzufriedenheit viel stärker werden. Die Alltagsaggressivität
und die Verachtung der Politik werden zunehmen. Aber genau deshalb brauchen wir
neue Strategien für die Zukunft.
Ist Precht ein Bildungspopulist?
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