Die
Sommerferien sind vorbei, die Schule fängt wieder an. Die Kinder erhalten einen
neuen Stundenplan. Doch darauf steht: nichts. Weder Mathematik noch Deutsch,
nicht einmal Geografie. Die Felder sind alle leer, der Schulunterricht ein
weisses Blatt.
Das ist kein
Irrtum, das ist ein Blick in die Zukunft. Denn Schulrevolutionäre wollen die
Schule umkrempeln. Dieses Mal geht es nicht um zusätzlichen Lernstoff oder
einen überarbeiteten Lehrplan, es geht um nicht weniger als die Frage, wie
unsere Kinder unterrichtet werden sollen.
Revolution in der Schule: Lernen nach dem Lustprinzip, NZZaS, 18.8. von Anja Burri
In dieser
Schule der Zukunft legt jedes Kind zu Beginn der Woche selber fest, was es
lernen möchte. Vielleicht will es ein Computerspiel selber programmieren,
vielleicht mithilfe eines Youtube-Videos Französisch üben. Ältere helfen Jüngeren,
sie erhalten dafür Bonuspunkte und können wie in einem Spiel in neue Stufen
aufsteigen: vom «Basisschüler» bis zum «Experten». Um ihren Status zu halten,
müssen sie andere Kinder unterstützen.
Die Lehrerin
sitzt zwar noch im Klassenzimmer, sie nennt sich jetzt Lerncoach und berät die
Schüler individuell. Ihre Hauptaufgabe ist es, zu motivieren. Die
Lernfortschritte verfolgt sie online, denn jedes Kind arbeitet mit einem
Tablet. So utopisch das jetzt vielleicht klingen mag, an einigen Orten in der
Schweiz ist das so ähnlich Realität. Diese Schulen schaffen es, neue Lernformen
mit den Bildungszielen des gültigen Lehrplans zu vereinbaren.
«Die Vorstellung, dass
alle Kinder zur gleichen Zeit am gleichen Ort das Gleiche lernen, ist
veraltet», sagt Christian Müller.
Die
Digitalisierung ist gerade dabei, die Art und Weise, wie wir arbeiten und
lernen, neu zu definieren. Kindergartenkinder werden in 20 Jahren Jobs haben,
von denen wir heute noch nicht wissen, dass es sie geben wird. Anstatt
Auswendiggelerntes werden wir andere Fähigkeiten brauchen, um uns in dieser
neuen Welt zurechtzufinden: Empathie und weitere soziale Kompetenzen,
Kreativität oder die Bereitschaft, uns immer wieder weiterzuentwickeln, die
Motivation, lebenslang zu lernen. Mittendrin in diesen Umwälzungen: die
Volksschule. Sie ist mit der grossen Frage konfrontiert, wie die Kinder auf
diese Zukunft vorzubereiten sind.
Ein
Auslaufmodell
Daniel Straub
und Christian Müller glauben, die richtige Antwort zu kennen. Die beiden sitzen
in ihrem Büro nahe dem Zürcher Paradeplatz und trinken Kaffee mit Sojamilch.
Umgeben von Pingpong-Tisch, Schachbrett und Klavier, treiben sie eine
Revolution voran.
Sie sind keine Lehrer, nach ihren Wirtschafts-, Politik- und
Psychologiestudien haben sie vom Leben gelernt: Straub war für das Rote Kreuz
in Afghanistan, Müller hat eine Gemüsekooperative mitgegründet, zuletzt
organisierten die beiden die Abstimmungskampagne für das bedingungslose
Grundeinkommen.
Die heutige
Schule, finden sie, orientiere sich an einem Gesellschaftsbild, das ein
Auslaufmodell sei. «Die Vorstellung, dass alle Kinder zur gleichen Zeit am
gleichen Ort das Gleiche lernen, ist veraltet», sagt Christian Müller. Ihre
Schule der Zukunft orientiert sich an der Leidenschaft und den Eigenheiten
jedes einzelnen Schülers: «Jedes Kind lernt das, wozu es bereit ist.»
Fixe
Stundenpläne, Prüfungen, Noten haben in dieser Schule keinen Platz mehr.
Stattdessen gibt es individuelle Beratungsgespräche, Projektarbeiten und
Feedback-Kultur. «Wir wollen, dass Schüler nicht wegen äusseren Anreizen wie
Notendruck lernen, sondern aus eigenem Antrieb», sagt Müller. In der Fachwelt
nennt man das intrinsisches Lernen, im Gegensatz zum heute verbreiteten
extrinsischen Lernen.
Die
Psychologen Richard Ryan und Edward Deci haben bereits in den neunziger Jahren
gezeigt, dass Schüler dann intrinsisch motiviert lernen, wenn sie den Eindruck
haben, selbstbestimmt zu handeln und gleichzeitig nicht überfordert sind. Eine
wichtige Rolle für den Lernerfolg spielt die Klasse: Schüler müssten sich vom
sozialen Umfeld unterstützt fühlen.
Diese Erkenntnisse
prägen auch die Vorstellungen der heutigen Schulentwickler: Weg vom linearen
Frontalunterricht hin zum vernetzten und selbstorganisierten Lernen, zu
Unterrichtsformen also, bei denen jedes Kind nach seinem Tempo und seinen
Bedürfnissen lernen und sich gleichzeitig in der Gruppe behaupten kann. Doch
wie soll so etwas für die breite Masse funktionieren?
Um ihre Ziele
zu erreichen, wagen Daniel Straub und Christian Müller einen Tabubruch: Sie
rütteln an der Hoheit des öffentlichen Bildungswesens und gründen eine private,
vorderhand nicht anerkannte Lehrerausbildung. Am 18. September beginnt gut ein
Dutzend Personen in den Zürcher Büroräumen, dem «Intrinsic Campus», das
Studium. Es dauert Vollzeit drei Jahre und soll die Absolventen zu
Primarlehrern ausbilden, die künftig auch an öffentlichen Schulen unterrichten.
«Wir sind
Fans der Volksschule», sagt Christian Müller. Ziel sei es, dort den Wandel
voranzutreiben. Was allerdings noch fehlt, ist Geld und die Akkreditierung als
Hochschule beziehungsweise die Anerkennung der Lehrerausbildung. Die Stiftung
Mercator leistet eine Anschubfinanzierung, doch das wird nicht reichen, um den
Betrieb mittelfristig aufrechtzuerhalten.
«Wir werden
irgendwann anerkannt werden, weil die Zeit für uns spielt», sagt Müller. Lehrermangel,
Burnouts, unzufriedene Eltern, leidende Kinder – das alles zeige, dass die
heutige Schule nicht mit den gesellschaftlichen Veränderungen mithalten könne.
Die Gegner befürchten,
dass die Kinder nichts mehr lernen und dass die Schwächsten noch mehr abgehängt
werden.
Auf dem
«Intrinsic Campus» lernen die künftigen Lehrpersonen auf die gleiche Art wie
die Schüler in der Schule der Zukunft: jeder in seinem eigenen Tempo und gemäss
eigenen Lernzielen. Die Hälfte der Studienzeit besteht aus Praxis: An zwei
Tagen pro Woche unterrichten die Studenten als Praktikanten an öffentlichen
oder privaten Schulen. Als Lerncoaches stehen ihnen auch Kreative,
Psychologinnen oder Dozenten von Pädagogischen Hochschulen zur Verfügung.
Die
Intrinsic-Gründer sind längst nicht die Einzigen, die darüber nachdenken, wie
die Volksschule zukunftstauglich gemacht werden kann. An der Pädagogischen
Hochschule Zürich zum Beispiel beginnt im September die weiterentwickelte
Primarlehrerausbildung, die stärker auf innovative Lernformen setzt.
Auch die
Rektorenkonferenz der Schweizer Hochschulen hat eine Arbeitsgruppe eingesetzt,
um die Primarlehrerausbildung zu modernisieren. Dennoch fallen die Reaktionen
auf das Guerilla-Projekt aus wie so oft, wenn an Etabliertem gerüttelt wird: Es
hagelt Bedenken.
Der Rektor
der Pädagogischen Hochschule (PH) Zürich Heinz Rhyn zum Beispiel sagt: «Wenn
Lehrpersonen an der öffentlichen Schule unterrichten, die gemäss dem Konzept
von Intrinsic ausgebildet sind, halte ich das für problematisch.» Man könne den
Lehrberuf nicht erlernen, indem man einfach das studiere, was einen
interessiere. Die Ausübung des Berufs sei an bestimmte Kompetenzen gebunden.
Rhyn erinnert
an den demokratischen Auftrag der Volksschule, es müsse sichergestellt sein,
dass Schulbildung überall in vergleichbarer Qualität angeboten wird. Die
Grundsätze der Intrinsic-Gründer hingegen teilt auch Rhyn: «Auch an den
Pädagogischen Hochschulen vermitteln wir die Haltung, dass eine Lehrperson
nicht bloss Stoff vermittelt, sondern die Schülerinnen und Schüler in ihrem
Lernprozess begleitet.»
Und auch die
PH suchten intensiv nach Antworten auf die Digitalisierung. «Wir beobachten
Intrinsic deshalb interessiert.» Je nachdem, in welche Richtung sich das
Projekt entwickle, sei eine Kooperation durchaus möglich.
Ginge es nach
der Wirtschaft, hätten sich die Schulen bereits viel stärker auf die
Digitalisierung eingestellt. Selbst der Wirtschaftsverband Economiesuisse
fordert Reformen, die das intrinsisch motivierte und selbständige Lernen der
Schüler in den Vordergrund stellen.
Roger Wehrli,
stellvertretender Leiter Bildungspolitik bei Economiesuisse, sagt: «Das
öffentliche Bildungswesen ist sehr gut. Aber es braucht Veränderungen.» Heute
würden in der Schule alle Kinder über einen Leisten geschlagen, das sei eine
verpasste Chance.
Streit
und Panik
Tatsächlich
hat der Wandel zum selbstorganisierten Lernen vielerorts begonnen: Es gibt
Lehrerfortbildungen, Broschüren und Arbeitsgruppen. An den meisten Orten hängt
es aber von der Initiative der Lehrpersonen oder Schulleitungen ab, ob Schüler
auch in «Lernateliers» arbeiten sollen oder ob sie mithilfe von «Gamification»,
mit spielerischen Elementen, motiviert werden.
Doch sobald
das individualisierte Lernen im grösseren Stil eingeführt wird, passiert fast
immer dasselbe. Es gibt Streit. Die Gegner befürchten, dass die Kinder nichts
mehr lernen und dass die Schwachen noch stärker abgehängt werden. Eltern
verfallen in Panik, Lehrpersonen kündigen, es gibt Demonstrationen, die Politik
schaltet sich ein, Eltern organisieren sich in Vereinen, und in den Medien werden
Schlammschlachten ausgetragen. Warum?
Julia Wenger
ist Psychologin, sie hat lange Firmen beraten, die Umstrukturierungen
durchführten. Intrinsische Lernansätze kennt sie auch aus Seminaren für
Führungskräfte der Wirtschaft. Heute ist sie Koordinatorin der Schulpsychologen
im Zürcher Bezirk Bülach. Als sie von Müllers und Straubs Projekt hörte,
stellte sie sich als Coach zur Verfügung. Ein wichtiger Grund für die Proteste
seien die Fehler, die bei der Einführung von Reformen gemacht würden: Anders
als in der Privatwirtschaft gebe es oft keine professionelle Begleitung der
Veränderungen.
Aus
schulpsychologischer Sicht sei das individualisierte Lernen ein notwendiger
Schritt. «Es ist eine Illusion, zu meinen, dass alle Kinder bereit sind,
dasselbe zu lernen», sagt sie. Anstatt dieses System zu hinterfragen, würden
viel zu oft die Schüler problematisiert, die aus dem Rahmen fallen.
Ortstermin im
Zürcher Unterland in Niederhasli. In der kleinen Gemeinde hat die
Sekundarschule Seehalde vor einigen Jahren beschlossen, «eine zeitgemässe
Schule» zu werden. Individualisiertes Lernen, Tablets oder
Online-Lernplattformen gehören seither zum Schulprogramm.
Schulleiter
Marco Stühlinger sitzt vor einer elektronischen Wandtafel und sagt: «Die
Umstellung war ein Big-Bang-Approach, keine schleichende Einführung.» Das
sorgte für Ärger, der Protest war so heftig, dass die Schulbehörden
beschlossen, die gleichen Reformen im Partnerschulhaus in der Nachbargemeinde
zu stoppen. Heute hat sich die Lage beruhigt, und die Revolutionäre von
Niederhasli gelten schweizweit als Pioniere.
Ihr Anspruch,
zeitgemäss zu sein, schlägt sich auch in der Sprache nieder, Schulleiter
Stühlingers Ausführungen sind gespickt mit englischen Begriffen. Anstatt
«Klasse» sagt er zum Beispiel «Homebase». Doch anders, als man vermuten könnte,
ging es bei den Reformen nicht darum, die Bedürfnisse elitärer Expat-Eltern und
englischaffiner Lehrerschaft zu befriedigen. Die Ausgangslage waren vielmehr
überdurchschnittlich viele Schüler aus bildungsfernen Familien und deutlich weniger
Gymiübertritte als anderswo.
Was haben die
Schulentwickler in Niederhasli konkret verändert? Das zeigt sich im «Office»,
einem riesigen Klassenzimmer, in dem 80 Schüler einen persönlichen Arbeitsplatz
haben. Jeden Montagmorgen treffen sie sich hier. In der ersten Lektion haben
die Schüler aller Klassen die Aufgabe, ihre Woche zu planen. Etwa ein Viertel
der Lektionen im Stundenplan müssen sie selbständig im Lernatelier verbringen
und entweder an ihren Kenntnissen in Französisch, Englisch, Deutsch oder Mathematik
arbeiten.
In einem
persönlichen, zwei Finger dicken Buch füllen sie die leeren Felder ihres
Stundenplans aus, sie notieren Noten und ob sie ihre Lernziele erreicht haben.
Die Klassenlehrer kontrollieren diese Wochenpläne und helfen, wenn nötig. Die
restliche Zeit verbringen die Schüler anderswo im Klassenzimmer, je nach
Lehrperson und Fach mit Frontalunterricht, Gruppenarbeiten oder Projekten. «Bei
Fächern wie Deutsch oder Mathematik ist die Mischung wichtig, um auf die
Bedürfnisse der Schüler einzugehen», sagt Stühlinger.
Ein
Punktesystem belohnt die engagierten Schüler: Wer Mitschüler unterstützt, alle
Hausaufgaben macht und die vorgeschriebenen Coachings bei den Lehrern
absolviert, sammelt Bonuspunkte. Die erfolgreichsten Schüler schaffen es, wie
die Mitarbeiter des Monats bei McDonald’s, in eine Fotogalerie im Schulhaus.
Diese «überfachlichen Kompetenzen» fliessen ins Zeugnis ein und zählen zu einem
Drittel, die zwei anderen Drittel machen klassische Noten aus. Ob das neue
System die Leistungen der Schüler verbessert hat, ist bisher jedoch kaum zu
beweisen.
Über die
schulinterne Kommunikationsplattform laufen pro Monat bis zu 50 000 Chats. Das ist
nur ein Beispiel für die digitalen Hilfsmittel, die hier im Einsatz sind und
die das individualisierte Lernen überhaupt erst ermöglichen. Denn ohne
Lernprogramme, die dank künstlicher Intelligenz erkennen, weshalb ein Schüler
beim Bruchrechnen scheitert, oder die es vereinfachen, die Lernfortschritte
jedes Schülers online zu verfolgen, wäre der Aufwand für die Lehrer viel zu
gross.
Im
Schulzimmer der Zukunft
Julia Oertly,
22, glaubt so stark an dieses Konzept, dass sie bereit ist, am «Intrinsic
Campus» ihr Studium zu beginnen, ohne Sicherheit, dass es jemals mit einem
staatlichen Diplom anerkannt werden wird.
Mit ihrer
pädagogischen Matura müsste sie bloss noch zwei Jahre an der PH Thurgau
studieren und hätte das Lehrerdiplom in der Tasche. Doch nach sieben Praktika
in Primarschulen sei ihr vor allem ein Gefühl geblieben: «Als Lehrperson steht
man unter immensem Druck, den Schulstoff durchzubringen.» Gebe es Probleme,
lagere man diese möglichst rasch aus. Auf einzelne Bedürfnisse der Kinder könne
man nur ungenügend eingehen.
In einem
Vorbereitungswochenende des «Intrinsic Campus» hat sie kürzlich in einer
Fabrikhalle aus Holzlatten und Nägeln ein Klassenzimmer ganz nach ihren
Vorstellungen gestaltet. Wie sah das aus? Der Raum bestand aus verschiedenen
Bereichen: unter anderem aus einem Zimmer, in dem freies Bewegen, Koordination
und Geschicklichkeit geübt wird, einem Platz für ein Anfangsritual am Morgen
oder einem Platz für stilles Arbeiten.
Eigentlich,
sagt Julia Oertly, während sie davon erzählt, seien die Klassenzimmer, die sie
bisher kennengelernt hat, oft gar nicht so weit davon entfernt gewesen. Das
zeigt: Für die Schulrevolution der Zukunft ist in der Schweiz im Grunde alles
vorhanden. Nun kommts drauf an, was in den Köpfen passiert.
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