18. August 2019

Lernen nach dem Lustprinzip


Die Sommerferien sind vorbei, die Schule fängt wieder an. Die Kinder erhalten einen neuen Stundenplan. Doch darauf steht: nichts. Weder Mathematik noch Deutsch, nicht einmal Geografie. Die Felder sind alle leer, der Schulunterricht ein weisses Blatt.
Das ist kein Irrtum, das ist ein Blick in die Zukunft. Denn Schulrevolutionäre wollen die Schule umkrempeln. Dieses Mal geht es nicht um zusätzlichen Lernstoff oder einen überarbeiteten Lehrplan, es geht um nicht weniger als die Frage, wie unsere Kinder unterrichtet werden sollen.
Revolution in der Schule: Lernen nach dem Lustprinzip, NZZaS, 18.8. von Anja Burri


In dieser Schule der Zukunft legt jedes Kind zu Beginn der Woche selber fest, was es lernen möchte. Vielleicht will es ein Computerspiel selber programmieren, vielleicht mithilfe eines Youtube-Videos Französisch üben. Ältere helfen Jüngeren, sie erhalten dafür Bonuspunkte und können wie in einem Spiel in neue Stufen aufsteigen: vom «Basisschüler» bis zum «Experten». Um ihren Status zu halten, müssen sie andere Kinder unterstützen.

Die Lehrerin sitzt zwar noch im Klassenzimmer, sie nennt sich jetzt Lerncoach und berät die Schüler individuell. Ihre Hauptaufgabe ist es, zu motivieren. Die Lernfortschritte verfolgt sie online, denn jedes Kind arbeitet mit einem Tablet. So utopisch das jetzt vielleicht klingen mag, an einigen Orten in der Schweiz ist das so ähnlich Realität. Diese Schulen schaffen es, neue Lernformen mit den Bildungszielen des gültigen Lehrplans zu vereinbaren.
«Die Vorstellung, dass alle Kinder zur gleichen Zeit am gleichen Ort das Gleiche lernen, ist veraltet», sagt Christian Müller.

Die Digitalisierung ist gerade dabei, die Art und Weise, wie wir arbeiten und lernen, neu zu definieren. Kindergartenkinder werden in 20 Jahren Jobs haben, von denen wir heute noch nicht wissen, dass es sie geben wird. Anstatt Auswendiggelerntes werden wir andere Fähigkeiten brauchen, um uns in dieser neuen Welt zurechtzufinden: Empathie und weitere soziale Kompetenzen, Kreativität oder die Bereitschaft, uns immer wieder weiterzuentwickeln, die Motivation, lebenslang zu lernen. Mittendrin in diesen Umwälzungen: die Volksschule. Sie ist mit der grossen Frage konfrontiert, wie die Kinder auf diese Zukunft vorzubereiten sind.

Ein Auslaufmodell

Daniel Straub und Christian Müller glauben, die richtige Antwort zu kennen. Die beiden sitzen in ihrem Büro nahe dem Zürcher Paradeplatz und trinken Kaffee mit Sojamilch. Umgeben von Pingpong-Tisch, Schachbrett und Klavier, treiben sie eine Revolution voran.
Sie sind keine Lehrer, nach ihren Wirtschafts-, Politik- und Psychologiestudien haben sie vom Leben gelernt: Straub war für das Rote Kreuz in Afghanistan, Müller hat eine Gemüsekooperative mitgegründet, zuletzt organisierten die beiden die Abstimmungskampagne für das bedingungslose Grundeinkommen.

Die heutige Schule, finden sie, orientiere sich an einem Gesellschaftsbild, das ein Auslaufmodell sei. «Die Vorstellung, dass alle Kinder zur gleichen Zeit am gleichen Ort das Gleiche lernen, ist veraltet», sagt Christian Müller. Ihre Schule der Zukunft orientiert sich an der Leidenschaft und den Eigenheiten jedes einzelnen Schülers: «Jedes Kind lernt das, wozu es bereit ist.»

Fixe Stundenpläne, Prüfungen, Noten haben in dieser Schule keinen Platz mehr. Stattdessen gibt es individuelle Beratungsgespräche, Projektarbeiten und Feedback-Kultur. «Wir wollen, dass Schüler nicht wegen äusseren Anreizen wie Notendruck lernen, sondern aus eigenem Antrieb», sagt Müller. In der Fachwelt nennt man das intrinsisches Lernen, im Gegensatz zum heute verbreiteten extrinsischen Lernen.

Die Psychologen Richard Ryan und Edward Deci haben bereits in den neunziger Jahren gezeigt, dass Schüler dann intrinsisch motiviert lernen, wenn sie den Eindruck haben, selbstbestimmt zu handeln und gleichzeitig nicht überfordert sind. Eine wichtige Rolle für den Lernerfolg spielt die Klasse: Schüler müssten sich vom sozialen Umfeld unterstützt fühlen.

Diese Erkenntnisse prägen auch die Vorstellungen der heutigen Schulentwickler: Weg vom linearen Frontalunterricht hin zum vernetzten und selbstorganisierten Lernen, zu Unterrichtsformen also, bei denen jedes Kind nach seinem Tempo und seinen Bedürfnissen lernen und sich gleichzeitig in der Gruppe behaupten kann. Doch wie soll so etwas für die breite Masse funktionieren?

Um ihre Ziele zu erreichen, wagen Daniel Straub und Christian Müller einen Tabubruch: Sie rütteln an der Hoheit des öffentlichen Bildungswesens und gründen eine private, vorderhand nicht anerkannte Lehrerausbildung. Am 18. September beginnt gut ein Dutzend Personen in den Zürcher Büroräumen, dem «Intrinsic Campus», das Studium. Es dauert Vollzeit drei Jahre und soll die Absolventen zu Primarlehrern ausbilden, die künftig auch an öffentlichen Schulen unterrichten.

«Wir sind Fans der Volksschule», sagt Christian Müller. Ziel sei es, dort den Wandel voranzutreiben. Was allerdings noch fehlt, ist Geld und die Akkreditierung als Hochschule beziehungsweise die Anerkennung der Lehrerausbildung. Die Stiftung Mercator leistet eine Anschubfinanzierung, doch das wird nicht reichen, um den Betrieb mittelfristig aufrechtzuerhalten.

«Wir werden irgendwann anerkannt werden, weil die Zeit für uns spielt», sagt Müller. Lehrermangel, Burnouts, unzufriedene Eltern, leidende Kinder – das alles zeige, dass die heutige Schule nicht mit den gesellschaftlichen Veränderungen mithalten könne.
Die Gegner befürchten, dass die Kinder nichts mehr lernen und dass die Schwächsten noch mehr abgehängt werden.

Auf dem «Intrinsic Campus» lernen die künftigen Lehrpersonen auf die gleiche Art wie die Schüler in der Schule der Zukunft: jeder in seinem eigenen Tempo und gemäss eigenen Lernzielen. Die Hälfte der Studienzeit besteht aus Praxis: An zwei Tagen pro Woche unterrichten die Studenten als Praktikanten an öffentlichen oder privaten Schulen. Als Lerncoaches stehen ihnen auch Kreative, Psychologinnen oder Dozenten von Pädagogischen Hochschulen zur Verfügung.

Die Intrinsic-Gründer sind längst nicht die Einzigen, die darüber nachdenken, wie die Volksschule zukunftstauglich gemacht werden kann. An der Pädagogischen Hochschule Zürich zum Beispiel beginnt im September die weiterentwickelte Primarlehrerausbildung, die stärker auf innovative Lernformen setzt.

Auch die Rektorenkonferenz der Schweizer Hochschulen hat eine Arbeitsgruppe eingesetzt, um die Primarlehrerausbildung zu modernisieren. Dennoch fallen die Reaktionen auf das Guerilla-Projekt aus wie so oft, wenn an Etabliertem gerüttelt wird: Es hagelt Bedenken.

Der Rektor der Pädagogischen Hochschule (PH) Zürich Heinz Rhyn zum Beispiel sagt: «Wenn Lehrpersonen an der öffentlichen Schule unterrichten, die gemäss dem Konzept von Intrinsic ausgebildet sind, halte ich das für problematisch.» Man könne den Lehrberuf nicht erlernen, indem man einfach das studiere, was einen interessiere. Die Ausübung des Berufs sei an bestimmte Kompetenzen gebunden.

Rhyn erinnert an den demokratischen Auftrag der Volksschule, es müsse sichergestellt sein, dass Schulbildung überall in vergleichbarer Qualität angeboten wird. Die Grundsätze der Intrinsic-Gründer hingegen teilt auch Rhyn: «Auch an den Pädagogischen Hochschulen vermitteln wir die Haltung, dass eine Lehrperson nicht bloss Stoff vermittelt, sondern die Schülerinnen und Schüler in ihrem Lernprozess begleitet.»
Und auch die PH suchten intensiv nach Antworten auf die Digitalisierung. «Wir beobachten Intrinsic deshalb interessiert.» Je nachdem, in welche Richtung sich das Projekt entwickle, sei eine Kooperation durchaus möglich.

Ginge es nach der Wirtschaft, hätten sich die Schulen bereits viel stärker auf die Digitalisierung eingestellt. Selbst der Wirtschaftsverband Economiesuisse fordert Reformen, die das intrinsisch motivierte und selbständige Lernen der Schüler in den Vordergrund stellen.

Roger Wehrli, stellvertretender Leiter Bildungspolitik bei Economiesuisse, sagt: «Das öffentliche Bildungswesen ist sehr gut. Aber es braucht Veränderungen.» Heute würden in der Schule alle Kinder über einen Leisten geschlagen, das sei eine verpasste Chance.

Streit und Panik

Tatsächlich hat der Wandel zum selbstorganisierten Lernen vielerorts begonnen: Es gibt Lehrerfortbildungen, Broschüren und Arbeitsgruppen. An den meisten Orten hängt es aber von der Initiative der Lehrpersonen oder Schulleitungen ab, ob Schüler auch in «Lernateliers» arbeiten sollen oder ob sie mithilfe von «Gamification», mit spielerischen Elementen, motiviert werden.

Doch sobald das individualisierte Lernen im grösseren Stil eingeführt wird, passiert fast immer dasselbe. Es gibt Streit. Die Gegner befürchten, dass die Kinder nichts mehr lernen und dass die Schwachen noch stärker abgehängt werden. Eltern verfallen in Panik, Lehrpersonen kündigen, es gibt Demonstrationen, die Politik schaltet sich ein, Eltern organisieren sich in Vereinen, und in den Medien werden Schlammschlachten ausgetragen. Warum?

Julia Wenger ist Psychologin, sie hat lange Firmen beraten, die Umstrukturierungen durchführten. Intrinsische Lernansätze kennt sie auch aus Seminaren für Führungskräfte der Wirtschaft. Heute ist sie Koordinatorin der Schulpsychologen im Zürcher Bezirk Bülach. Als sie von Müllers und Straubs Projekt hörte, stellte sie sich als Coach zur Verfügung. Ein wichtiger Grund für die Proteste seien die Fehler, die bei der Einführung von Reformen gemacht würden: Anders als in der Privatwirtschaft gebe es oft keine professionelle Begleitung der Veränderungen.

Aus schulpsychologischer Sicht sei das individualisierte Lernen ein notwendiger Schritt. «Es ist eine Illusion, zu meinen, dass alle Kinder bereit sind, dasselbe zu lernen», sagt sie. Anstatt dieses System zu hinterfragen, würden viel zu oft die Schüler problematisiert, die aus dem Rahmen fallen.

Ortstermin im Zürcher Unterland in Niederhasli. In der kleinen Gemeinde hat die Sekundarschule Seehalde vor einigen Jahren beschlossen, «eine zeitgemässe Schule» zu werden. Individualisiertes Lernen, Tablets oder Online-Lernplattformen gehören seither zum Schulprogramm.

Schulleiter Marco Stühlinger sitzt vor einer elektronischen Wandtafel und sagt: «Die Umstellung war ein Big-Bang-Approach, keine schleichende Einführung.» Das sorgte für Ärger, der Protest war so heftig, dass die Schulbehörden beschlossen, die gleichen Reformen im Partnerschulhaus in der Nachbargemeinde zu stoppen. Heute hat sich die Lage beruhigt, und die Revolutionäre von Niederhasli gelten schweizweit als Pioniere.
Ihr Anspruch, zeitgemäss zu sein, schlägt sich auch in der Sprache nieder, Schulleiter Stühlingers Ausführungen sind gespickt mit englischen Begriffen. Anstatt «Klasse» sagt er zum Beispiel «Homebase». Doch anders, als man vermuten könnte, ging es bei den Reformen nicht darum, die Bedürfnisse elitärer Expat-Eltern und englischaffiner Lehrerschaft zu befriedigen. Die Ausgangslage waren vielmehr überdurchschnittlich viele Schüler aus bildungsfernen Familien und deutlich weniger Gymiübertritte als anderswo.

Was haben die Schulentwickler in Niederhasli konkret verändert? Das zeigt sich im «Office», einem riesigen Klassenzimmer, in dem 80 Schüler einen persönlichen Arbeitsplatz haben. Jeden Montagmorgen treffen sie sich hier. In der ersten Lektion haben die Schüler aller Klassen die Aufgabe, ihre Woche zu planen. Etwa ein Viertel der Lektionen im Stundenplan müssen sie selbständig im Lernatelier verbringen und entweder an ihren Kenntnissen in Französisch, Englisch, Deutsch oder Mathematik arbeiten.
In einem persönlichen, zwei Finger dicken Buch füllen sie die leeren Felder ihres Stundenplans aus, sie notieren Noten und ob sie ihre Lernziele erreicht haben. Die Klassenlehrer kontrollieren diese Wochenpläne und helfen, wenn nötig. Die restliche Zeit verbringen die Schüler anderswo im Klassenzimmer, je nach Lehrperson und Fach mit Frontalunterricht, Gruppenarbeiten oder Projekten. «Bei Fächern wie Deutsch oder Mathematik ist die Mischung wichtig, um auf die Bedürfnisse der Schüler einzugehen», sagt Stühlinger.

Ein Punktesystem belohnt die engagierten Schüler: Wer Mitschüler unterstützt, alle Hausaufgaben macht und die vorgeschriebenen Coachings bei den Lehrern absolviert, sammelt Bonuspunkte. Die erfolgreichsten Schüler schaffen es, wie die Mitarbeiter des Monats bei McDonald’s, in eine Fotogalerie im Schulhaus. Diese «überfachlichen Kompetenzen» fliessen ins Zeugnis ein und zählen zu einem Drittel, die zwei anderen Drittel machen klassische Noten aus. Ob das neue System die Leistungen der Schüler verbessert hat, ist bisher jedoch kaum zu beweisen.

Über die schulinterne Kommunikationsplattform laufen pro Monat bis zu 50 000 Chats. Das ist nur ein Beispiel für die digitalen Hilfsmittel, die hier im Einsatz sind und die das individualisierte Lernen überhaupt erst ermöglichen. Denn ohne Lernprogramme, die dank künstlicher Intelligenz erkennen, weshalb ein Schüler beim Bruchrechnen scheitert, oder die es vereinfachen, die Lernfortschritte jedes Schülers online zu verfolgen, wäre der Aufwand für die Lehrer viel zu gross.

Im Schulzimmer der Zukunft

Julia Oertly, 22, glaubt so stark an dieses Konzept, dass sie bereit ist, am «Intrinsic Campus» ihr Studium zu beginnen, ohne Sicherheit, dass es jemals mit einem staatlichen Diplom anerkannt werden wird.

Mit ihrer pädagogischen Matura müsste sie bloss noch zwei Jahre an der PH Thurgau studieren und hätte das Lehrerdiplom in der Tasche. Doch nach sieben Praktika in Primarschulen sei ihr vor allem ein Gefühl geblieben: «Als Lehrperson steht man unter immensem Druck, den Schulstoff durchzubringen.» Gebe es Probleme, lagere man diese möglichst rasch aus. Auf einzelne Bedürfnisse der Kinder könne man nur ungenügend eingehen.

In einem Vorbereitungswochenende des «Intrinsic Campus» hat sie kürzlich in einer Fabrikhalle aus Holzlatten und Nägeln ein Klassenzimmer ganz nach ihren Vorstellungen gestaltet. Wie sah das aus? Der Raum bestand aus verschiedenen Bereichen: unter anderem aus einem Zimmer, in dem freies Bewegen, Koordination und Geschicklichkeit geübt wird, einem Platz für ein Anfangsritual am Morgen oder einem Platz für stilles Arbeiten.

Eigentlich, sagt Julia Oertly, während sie davon erzählt, seien die Klassenzimmer, die sie bisher kennengelernt hat, oft gar nicht so weit davon entfernt gewesen. Das zeigt: Für die Schulrevolution der Zukunft ist in der Schweiz im Grunde alles vorhanden. Nun kommts drauf an, was in den Köpfen passiert.



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