6. November 2017

Überschätzte Hirnforschung

In den Schulen sind die Hoffnungen auf bahnbrechende neurodidaktische Methoden einer Besinnung auf Bekanntes gewichen.
Hirnforschung allein macht keine Schule, NZZ, 6.11. von Walter Bernet


Schule verhindert das Lernen, statt es zu fördern: Die These, die vor fast fünf Jahrzehnten Ivan Illich als grundsätzliche Kritik an der spätkapitalistischen Industriegesellschaft predigte, erlebt seit einigen Jahren eine Wiedergeburt unter neuen Vorzeichen. Autoren wie Jesper Juul («Schulinfarkt»), Richard David Precht («Anna, die Schule und der liebe Gott. Der Verrat des Bildungssystems an unseren Kindern») oder Gerald Hüther («Jedes Kind ist hoch begabt») füllen Säle und erklimmen Spitzenplätze auf den Bestsellerlisten. Gemeinsam ist ihnen, dass sie sich auf die moderne Hirnforschung berufen, wenn sie ein Lernen frei von Erziehungszwängen, Ritalin und Noten fordern.

Jedes Kind ein Einzelfall
Müsste die Volksschule nicht längst mit tiefgreifenden Reformen auf die Fundamentalkritik reagiert haben? Skepsis ist angebracht. Den Vertretern einer «Neurodidaktik» oder «Neuropädagogik», die behaupteten, über fundamental neues Wissen zum hirngerechten Lernen zu verfügen, ist inzwischen der allzu starke Wind aus den Segeln genommen worden. Von Pseudo-Neurowissenschaften spricht Martin Meyer vom Psychologischen Institut der Universität Zürich, die ihre Versprechen nicht hätten einlösen können.
Für ihn liegt ein Grundwiderspruch darin, dass die Neurowissenschaft eine Grundlagendisziplin ist, die für ihre Modelle mit Durchschnittswerten rechnet, während es in Pädagogik und Didaktik um den Einzelfall geht. Das einzelne Gehirn aber sei unberechenbar. Was die kognitive Neurowissenschaft mit der Magnetresonanztomografie an Aktivitätsmustern feststelle, entspreche niemals eins zu eins bestimmten Gedanken, Emotionen oder Vorstellungen. «Es ist sinnfrei, ein einzelnes Kind in den Hirnscanner zu legen, weil man nichts Brauchbares fände.»

Dennoch misst Meyer der kognitiven Neuropsychologie einen hohen Wert für die Pädagogik zu, auch wenn sie keine Konzepte dafür liefern könne, was im Einzelfall mit einem Kind zu tun sei. Sie biete grundlegende Erkenntnisse über die Unterschiede zwischen Lernprozessen im Hirn von Kindern und Erwachsenen, wisse viel über die Rolle der kognitiven Funktionen beim Spracherwerb und könne die Effekte der Veränderungen von Struktur und Funktionen des Hirns schon vor der Geburt und bis ins Alter beobachten und dadurch Entwicklungs- und Reifungsvorgänge identifizieren. Beim Lernen, zeigt die Forschung, verändert sich das Gehirn physisch; es bleibt ein Leben lang formbar. Jeder Mensch hat seine eigene Lernbiografie. Vielseitige Aktivität fördert und stabilisiert seine Entwicklung. Oder, wie es Willi Stadelmann, Naturwissenschafter, Pädagoge und früherer Rektor der Pädagogischen Hochschule Zentralschweiz formuliert: «Begabung ist keine Konstante! Begabungsförderung ist ein Leben lang möglich und nötig.»

Kaum etwas habe die Neurowissenschaft entdeckt, was Psychologie und Pädagogik nicht schon seit hundert Jahren wüssten, sagt Meyer. «Aber sie kann die Befunde bestätigen.» Und manchmal kann sie liebgewordene Ansichten infrage stellen. Ein Beispiel ist die Frühförderung. «Keine Studie zeigt, dass Kinder im Vorschulalter auf einen höheren Entwicklungsstand getrimmt werden können», sagt Meyer. Nur mit viel Aufwand sind Verbesserungen erreichbar. Das gilt allerdings weniger für Kinder aus sozial benachteiligten Familien. Diese können erheblich profitieren. «Kinder vielfältige sinnliche Erfahrungen machen zu lassen, hat sich dabei bewährt.» Gezielte Frühförderung ist also sinnvoll, während frühkindliche Bildung (im akademischen Sinn) überschätzt wird.
Auch die im Zusammenhang mit dem frühen Erlernen von Fremdsprachen stets bemühte Vorstellung von «Zeitfenstern» in der Kindheit, die es nicht zu verpassen gelte, hat sich nicht bestätigt. Die Frage bleibt also offen, ob sich der Aufwand für frühen Fremdsprachenunterricht lohnt, wenn es später möglicherweise wesentlich einfacher geht. Wirklich entscheidende Zeitfenster gibt es in den ersten Lebenswochen eines Kindes. Würde man einem Kind während der ersten Wochen die Augen verbinden, führte dies zu irreparablen Schäden, weil die Entwicklung des Sehens von Stimulation abhängt.
Hilfreich sind Erkenntnisse zu Hirnstruktur und -funktionen in der Heilpädagogik. Allerdings ist der Nutzen im Einzelfall auch für Claudia Ziehbrunner, Leiterin des Instituts für Lernen unter erschwerten Bedingungen der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich, begrenzt. So gelte zwar generell, dass eine hohe Stimulierung das Lernen befördert, bei Hirnverletzten kann aber im Gegenteil eine Reizreduktion angezeigt sein. Die Neurobiologie zeigt auf, dass eine Prüfung der Umweltreize nötig ist. Konkrete Massnahmen bedürfen aber einer Beurteilung im Gesamtzusammenhang, der auch das soziale Umfeld einschliesst. So wird eine Lehrerin, die über die möglichen Folgen von Hirnverletzungen Bescheid weiss, andere Erwartungen an die Aufmerksamkeitsleistung eines hirnverletzten Kindes haben, wenn sie weiss, dass dieses mit drei Jahren eine solche Verletzung erlitt. Umgekehrt können vergleichbare Aufmerksamkeitsschwierigkeiten bei einem anderen Kind auf erschwerende Faktoren im familiären Umfeld zurückgehen. Es sind dann andere Massnahmen angezeigt. Die Erkenntnisse der Hirnforschung bilden damit einen Faktor unter anderen beim Verstehen komplexer Phänomene.

Das Dilemma im Schulzimmer
Was muss eine Primarlehrerin von der Hirnforschung wissen? Die Forschung zeige, wie individuell die Hirnentwicklung verlaufe, sagt Meyer. Es lohne sich deshalb, sich mit dem einzelnen Kind zu beschäftigen. Klar müsse sein, dass die Neurowissenschaft keine einfachen Rezepte liefere. «Sie kann aber entlastend wirken, etwa wenn sie Legasthenikern oder deren Eltern die Schuldgefühle nimmt, weil sie zeigen kann, dass die Leseschwäche eine neurobiologisch nachweisbare Ursache hat.»

Das grundlegende Dilemma im Schulzimmer bleibt aber, dass der Lehrer zwar weiss, dass er allen Kindern gerecht werden muss, aber nicht jedem die nötigen Extras bieten kann. Bei 26 Kindern ist das schlicht nicht möglich, zumal die Streuung nach Geburtsdaten, Geschlecht und individueller, oft in Sprüngen verlaufender Entwicklung riesig ist. Es ist dieses Grunddilemma, das Bestsellerautoren ansprechen. Auch die Hirnforschung kann es nicht lösen.

1 Kommentar:

  1. Überschätzte Hirnforschung = unterschätzte Pädagogik und Psychologie!
    Meyer ist durch und durch Wissenschaftler und ein mutiger dazu, der die Sache beim Namen nennt und mit falschen, unwissenschaftlichen Vorstellungen aufräumt, die in die Frühfremdsprachendoktrin und den
    Grundlagen für den Lehrplan 21 eingeflossen sind und von den Fachleuten an der Front und in der öffentlichen Debatte nicht hinterfragt werden dürfen. Ein Lehrer mit 26 Kindern ist nur hilflos, wenn er keinen Klassenunterricht mehr machen darf und die Heterogenität seiner Klasse mit AdL usw. laufend künstlich vergrössert wird.

    AntwortenLöschen