Seit 2012 geht es mit den Lesefähigkeiten signifikant bergab.
Mittlerweile liegt die Schweiz sogar unterhalb des OECD-Durchschnitts von 75
Ländern. Das zeigen die Resultate des Leseverstehens, die von PISA 2018 in
Abschlussklassen ermittelt wurden (1). Die dabei gemessenen Fähigkeiten stimmen
grösstenteils mit den im Lehrplan 21 gestellten Kompetenzanforderungen überein
und dienen daher als wichtige Rückmeldung zum Leseunterricht an Schweizer
Schulen. Die Leistungen lassen sehr zu wünschen übrig. Konkret erreichen 24
Prozent der Schulabgänger bloss die unterste von sechs Kompetenzstufen – sie
verstehen die wörtliche Bedeutung von Sätzen oder die Hauptaussage von Texten
nicht. Wenn wir dazu noch die Schüler im zweittiefsten Niveau addieren, dann liegen
wir knapp bei der Hälfte der Schüler.
Kurswechsel beim Leseunterricht dringend nötig: Strategietraining reicht nicht, Urs Kalberer, 26.5.
Wie reagiert ein Land, das neben Luxemburg am meisten Geld pro Schüler
in sein Schulsystem steckt, auf diese ungenügenden Resultate? Die
Eidgenössische Erziehungsdirektoren-Konferenz (EDK) gibt sich gefasst: «Im
Lesen entspricht er (der Mittelwert, Anm. U.K.), wie bereits 2015, dem
OECD-Mittel, wobei die Schweiz – wie viele andere OECD-Länder auch – eine
prozentuale Zunahme bei der Gruppe der leseschwachen Jugendlichen zu
verzeichnen hat.» (2) Das Zentrum Lesen der FHNW lässt in seiner Stellungnahme
verlauten: «Insgesamt ist die Leseleistung bei Schweizer Schülern und Schülerinnen leicht gesunken. Die Differenz
ist jedoch nicht signifikant» (3). Diese Aussage bezieht sich auf die
Veränderung zwischen 2015 und 2018 und soll wohl beruhigen, obgleich die
Veränderung seit 2012 sehr wohl statistisch signifikant ist. Im Gegensatz zur
Fremdsprachen-Debatte führte der fortschreitende Lesenotstand also zu keinen
Ängsten hinsichtlich des Auseinanderbrechens unserer Nation. Die gelassenen Reaktionen
sind nicht nachvollziehbar, denn die gesellschaftliche Brisanz dieser Daten ist
offensichtlich: Lesen ermöglicht Schritte in Richtung Autonomie und mehr
Chancengerechtigkeit. Wer einfache Texte nicht versteht, ist in unserer
Gesellschaft klar benachteiligt.
Wenn’s nicht funktioniert, einfach noch mehr vom Selben
Die EDK stellte die Wichtigkeit der Vermittlung von Lernstrategien ins
Zentrum. «Die PISA-Ergebnisse zeigen
wiederholt, dass sowohl das Engagement im Lesen als auch das Wissen über
Lernstrategien in einem positiven Zusammenhang mit der Lesekompetenz
15-jähriger Schülerinnen und Schüler stehen.“(2) und „Es liegt auf der Hand,
dass der Entfaltung eines Interesses für Texte und der Vermittlung von
Lernstrategien mehr Gewicht geschenkt werden sollte.“ (2) Dies ist auch
das Credo an den Pädagogischen Hochschulen und das Angebot an
Strategie-Trainingsmethoden der Lehrbuch-Verlage ist unübersehbar und wird im
Unterricht auch fleissig eingesetzt. Man verschreibt als Rezept nun einfach
noch mehr von derselben Medizin, nämlich Strategietraining. Doch trotz der
jahrelangen Offensive scheint der Ansatz wirkungslos zu sein. Strategietraining
ist der falsche Ansatz. Dies zeigt auch ein weiterer Blick in den EDK-eigenen
Bericht zu den PISA-Resultaten.
Aus der obigen Grafik lässt sich erkennen, dass die Schweiz (CHE)
bezüglich des Strategiewissens trotz den Empfehlungen der EDK und trotz der
Einführung des Lehrplans 21 zurückgefallen ist. Entgegen den Verlautbarungen
der EDK existiert aber kein Zusammenhang zwischen dem Strategiewissen und der
Leseleistung. Länder mit einem tiefen Strategiewissen wie Finnland und Kanada belegen
nämlich beim Leseverstehen Spitzenpositionen. Italien hat höhere Werte beim
Strategiewissen als die Schweiz, liegt beim Leseverstehen aber hinter der
Schweiz. Luxemburg hat beim Strategiewissen zugelegt, liegt jedoch weit
abgeschlagen hinter der Schweiz.
Neben dem Strategietraining, das Lesen in eine Fülle von Teilbereichen
zerstückelt, werden aktuell an unseren Schulen noch weitere Methoden angewandt.
Beim Tandemlesen arbeiten Schülerpaare zusammen, ein Kind versucht, einen Text
möglichst fehlerfrei laut vorzulesen, während das andere zuhört und Fehler
korrigiert. Das Tandemlesen reduziert den Leseprozess auf das mündliche
Wiedergeben von Gedrucktem. Durch die Konzentration auf die mündliche
Wiedergabe bleibt nicht genug Aufmerksamkeit für den Inhalt des Textes übrig.
Lautes Vorlesen hat keinen oder sogar störenden Einfluss auf das
Leseverständnis.
Weiter fällt auf, dass die meist fiktionalen Texte in der Primarschule generell
zu einfach sind und zu wenig Gelegenheit bieten, den Wortschatz zu erweitern. Es
fehlen Texte mit Bezug zum Schulstoff, in denen der neue Wortschatz in neuer
Umgebung erscheint. Verständnisfragen sind sehr verbreitet, sie sind aber meist
nur oberflächlich und verlangen blosses Auffinden von Wörtern oder Textstellen.
Dieses «wordspotting» bietet keine Gelegenheit zur Stärkung des Leseverständnisses.
Strategien lassen sich nicht transferieren
Der Lehrplan 21 erlaubt es, die geforderten Lesestrategien an
beliebigen Texten anzuwenden. Dabei spielt es keine Rolle, ob ich wichtige
Informationen auf einem Joghurtbecher oder aus einem Text über den 2. Weltkrieg
erschliesse. Es wird postuliert, dass man die Fähigkeit, Informationen zu
erschliessen auf andere Texte transferieren kann. Doch dies ist nicht möglich:
Das Leseverstehen basiert in erster Linie auf dem Wissen und damit verbunden auf
dem thematisch relevanten Wortschatz der Leser. Wer nicht weiss, wer Henri Guisan
war, kommt mit allem Vorwissen der Joghurtzutaten bei einem Text über die
Schweiz im 2. Weltkrieg nicht weiter. Das bestätigen auch verschiedene
Untersuchungen aus den USA, die zeigten, dass das Vorwissen für das Verständnis
eines Textes essenziell ist - wichtiger als die Lesestrategien (4), der Intelligenzquotient,
ja sogar als der Schwierigkeitsgrad eines Textes.
Wer nichts weiss, wird bestraft
In der Literatur zum Leseunterricht spricht man vom «Matthäus-Effekt»:
Wer da hat, dem wird gegeben, wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen,
was er hat. Im Sportteil einer Zeitung heisst es: «Ammann springt weiter – bis
Peking». Hier handelt es sich nicht um einen kilometerweiten Sprung bis zur
chinesischen Hauptstadt. Der Leser muss wissen, dass es sich bei Ammann um den
Skispringer Simon Ammann handelt, der seinen Sport noch bis zu den Olympischen
Spielen, die in Peking stattfinden, weiter ausüben wird. Es zeigt sich, dass
zum Verständnis eines Satzes viel Vorwissen vorausgesetzt wird. Dasselbe gilt
auch bei Suchmaschinen im Internet. Google ist kein egalitärer Faktenfinder:
Wer schon etwas weiss, wird belohnt.
Was ist zu tun?
Anstatt also sehr viel Zeit und Energie in den Aufbau von
Lesestrategien zu stecken, brauchen die Schüler Kenntnisse, Wissen über
Sachverhalte und einen breitgefächerten Wortschatz. Der Fokus auf Lesetechniken
und -strategien führt dazu, dass die Schüler die wichtige Aneignung von
Grundwissen verpassen.
Im Erstleseunterricht muss intensiv die Buchstaben-Laut-Beziehung geübt
werden, sodass diese am Ende des Zyklus I bei möglichst allen Kindern
automatisiert ist und «sitzt». Dabei ist auf gezielte Instruktion zu achten,
welche gemäss der IGLU-Studie (5) besonders für die schwächeren Schüler
vorteilhaft ist. Selbstentdeckendes Lernen mit individuellen Schreibvarianten
ist deshalb zu vermeiden. Ab der Primarschule muss auf einen bewussten Ausbau
des Wortschatzes geachtet werden, dazu müssen mehr Sachtexte in den Unterricht
eingebaut werden. Häufiges Vorlesen durch die Lehrperson aktiviert den aktiven
und passiven Wortschatz und liefert Hilfe für die korrekte Aussprache.
Es bringt keinen Vorteil, mit dem Lesen bereits im Kindergarten zu
beginnen. Das ideale Alter liegt bei sechs bis sieben Jahren, weil die
kognitive Entwicklung dann genügend fortgeschritten ist. Das Leseverständnis
sollte auch regelmässig geprüft werden, damit die Lehrperson
Entscheidungshilfen bekommt. Dabei muss der Schwierigkeitsgrad der Aufgaben
gegenüber heute deutlich erhöht werden. Ebenfalls wichtig ist es, das Lesetempo
zu erhöhen. Dies sollte im Zyklus II nach der Festigung der Buchstaben-Laut-Beziehung
erfolgen. Ein erhöhtes Lesetempo verhindert eine Überlastung des
Kurzzeitgedächtnisses. Inhalte können so gespeichert werden, ohne dass man den
Satz nochmals von vorne lesen muss.
Die Förderung des Lesens und des Leseverständnisses auf der Grundlage
von Buchstaben-Laut-Beziehung, einem vergrösserten Wortschatz und gesteigertem
Lesetempo ist eine pädagogisch sinnvolle Alternative zum aufwändigen
Strategietraining an inhaltlich belanglosen Texten. Lesen lernen erhöht die
Chancengerechtigkeit und hilft soziale Unterschiede zu verringern. Alle Schüler
haben ein Anrecht darauf, in den neun Schuljahren der Volksschule passabel
lesen zu lernen. Die unhaltbaren Zustände im Leseunterricht müssen mit aller
Kraft korrigiert und verbessert werden.
Quellen:
1 PISA 2018
Results (volume I) What students Know and Can Do https://www.oecd.org/publications/pisa-2018-results-volume-i-5f07c754-en.htm
2 PISA 2018 Schülerinnen und Schüler der Schweiz im
internationalen Vergleich, Nationaler Bericht, EDK, 2019. https://www.edk.ch/dyn/32703.php
3 PISA 2018 – Ergebnisse Schweiz, Zentrum Lesen FHNW, 2019 https://web0.fhnw.ch/plattformen/zl/pisa-2018-lesen/
4 Recht, D.R. and Leslie, L., 1988. Effect of prior
knowledge on good and poor readers’ memory of text. Journal of Educational Psychology
5 IGLU 2016, Lesekompetenzen von
Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich. https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/PresseUndAktuelles/2017/IGLU_2016_Berichtsband.pdf
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