Mit 13 Jahren passiert es zum ersten Mal. Anna blutete. Sie bemerkt auf
der Toilette, dass sich ihre Unterhose rot gefärbt hat. Und das in der Pause
zwischen Französisch- und Matheunterricht. Natürlich hat Anna weder Binden noch
Tampons dabei. Geschweige denn, dass sie weiss, wie man Tampons einsetzt.
Jemanden um Hilfe zu bitten, ist ihr zu peinlich.
In der Stadt St. Gallen soll es in Schulen gratis Binden und Tampons geben, um mit dem Tabuthema Menstruation zu brechen, St. Galler Tagblatt, 30.5. von Marlen Hämmerle
Das ist zwar ein fiktives Beispiel. Es könnte sich aber durchaus so oder so ähnlich zutragen. «Für mich wäre es eine Horrorvorstellung gewesen, im Sekretariat oder bei der Schulmedizin um eine Binde zu bitten. Unter Schülerinnen ist das Thema Menstruation noch ziemlich mit Scham verbunden», sagt Andrea Scheck.
Die Juso-Stadtparlamentarierin fordert deshalb in einem Vorstoss, dass
die Stadt in allen öffentlichen Gebäuden gratis Binden und Tampons zur
Verfügung stellt – gerade auch in Schulen. Sodass Anna in ihrer Not ganz
einfach zu einer bereitliegenden Binde greifen könnte.
«Es ist der falsche Zeitpunkt»
19 Stadtparlamentarierinnen und Stadtparlamentarier haben das Postulat
«Gratis Menstruationsartikel in öffentlichen Gebäuden» unterzeichnet. Darunter
elf Frauen, aber kein einziger bürgerlicher Politiker. Karin Winter-Dubs,
SVP-Fraktionspräsidentin, sagt: «Es ist der falsche Zeitpunkt für diesen
Vorstoss. Derzeit gibt es ganz viele Leute, die andere existenzielle Probleme
haben. Leute, die sich etwa ums Essen sorgen.»
Genau diesen Einwand hat Andrea Scheck befürchtet: «Das ist für mich nur
ein Vorwand, um dem Thema auszuweichen, damit es keine Diskussion gibt.» Dabei
sei es wichtig, über die Menstruation und das Bereitstellen von
Damenhygieneprodukte zu reden. Eben weil es ein Tabuthema sei.
Das sieht Winter-Dubs wiederum ganz anders.
«Es ist ein natürliches Thema, das alle betrifft.
Die Menstruation existiert, jeder weiss das und darum redet man auch nicht
darüber.»
Winter-Dubs unterrichtet am Kaufmännischen und Weiterbildungszentrum
St.Gallen (KBZSG) Berufsschülerinnen und Berufsschüler. Diese gingen mit der
Periode ganz offen um. Schülerinnen würden auch mal in die Runde fragen, wenn
sie einen Tampon bräuchten.
Das Gegenteil erlebt Andrea Hornstein:
«Viele Frauen getrauen sich nicht, offen um einen
Tampon zu bitten. Die Menstruation ist leider immer noch mit Ekel verbunden.»
Die Stadtparlamentarierin gehört der Politischen Frauengruppe (PFG)
an.Trotzdem hat sie den Vorstoss nicht unterschrieben – wegen eines technischen
Problems. Aufgrund der Coronapandemie dürfen Vorstösse nicht im Stadtparlament
zirkulieren, sondern werden via Doodle-Umfrage unterschrieben. «Dass das
Unterschreiben nicht funktionierte, hat mich geärgert», sagt Hornstein.
«Anderen Frauen ging es wohl auch so.»
Ihr wie auch Andrea Scheck ist es wichtig, dass öffentlich über die
Menstruation diskutiert wird, um das Thema zu enttabuisieren. So wünscht sich
Scheck mindestens eine gute Diskussion im Stadtparlament. «Für mich gibt es
rational kaum Argumente, die gegen eine Erheblicherklärung des Postulats
sprechen.»
Nicht jede kann sich Binden und Tampons leisten
Die Menstruation bringt laut Scheck eine finanzielle Ungleichbehandlung
mit sich. Eine Grundsatzfrage: Die Güter des täglichen Bedarfs werden bei der
Mehrwertsteuer mit 2,5 Prozent besteuert. Tampons und Binden unterliegen dem
Normalsatz von 7,7 Prozent. Dabei gehören die Hygieneprodukte für die meisten
Frauen zum Grundbedarf.
Eine Frau menstruiert durchschnittlich während 40 Jahren einmal im
Monat für etwa fünf Tage. Scheck schreibt, dass Frauen rund 3000 Tage ihres
Lebens mit der Menstruation verbrächten. In dieser Zeit verbrauchten sie rund
17000 Menstruationsartikel, für die sie zwischen 4800 und 7200 Franken
bezahlen.
Kommen Nebenkosten für Schmerzmittel oder neue Unterwäsche hinzu,
belaufe sich die Summe auf etwa 16000 bis 21500 Franken. «Kosten, die nur
menstruierende Menschen tragen – für eine Körperfunktion, die angeboren ist»,
schreibt Scheck.
Nicht jede kann sich diese Kosten leisten. Andrea Hornstein leitet die
Spitex St.Gallen-Ost. Sie berichtet von armutsbetroffenen Frauen, die sich mit
Stoffresten behelfen oder Tampons einen ganzen Tag nicht auswechseln, weil sie
zu wenig Geld besitzen. Dabei sollten Tampons alle vier bis sechs Stunden
gewechselt werden. Ansonsten kann das Toxische Schocksyndrom auftreten.
In schottischen Schulen und Universitäten gibt es seit 2018 gratis
Tampons und Binden. Im Februar hat das Parlament nun beschlossen, die
Hygieneprodukten allen Frauen im Land kostenlos zur Verfügung zu stellen.
Grossbritannien schafft die Mehrwertsteuer auf Tampons und Binden ab und
Deutschland hat sie zum Jahreswechsel gesenkt. Damenhygieneprodukte gehören
dort nun zum Grundbedarf.
In der Schweiz haben Bundesrat und Nationalrat beschlossen, den
Mehrwertsteuersatz zu senken. Nun muss der Ständerat über das Geschäft
entscheiden. Karin Winter-Dubs hält davon nicht viel. «Wenn diese Artikel
dem reduzierten Satz zugerechnet werden, löst das eine Diskussion aus, welche
Produkte ebenfalls mit 2,5 Prozent besteuert werden müssten.»
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