In den Schulen sind die Hoffnungen auf bahnbrechende neurodidaktische
Methoden einer Besinnung auf Bekanntes gewichen.
Hirnforschung allein macht keine Schule, NZZ, 6.11. von Walter Bernet
Schule verhindert das Lernen, statt es zu fördern: Die These, die vor
fast fünf Jahrzehnten Ivan Illich als grundsätzliche Kritik an der
spätkapitalistischen Industriegesellschaft predigte, erlebt seit einigen Jahren
eine Wiedergeburt unter neuen Vorzeichen. Autoren wie Jesper Juul («Schulinfarkt»),
Richard David Precht («Anna, die Schule und der liebe Gott. Der Verrat des
Bildungssystems an unseren Kindern») oder Gerald Hüther («Jedes Kind ist hoch
begabt») füllen Säle und erklimmen Spitzenplätze auf den Bestsellerlisten.
Gemeinsam ist ihnen, dass sie sich auf die moderne Hirnforschung berufen, wenn
sie ein Lernen frei von Erziehungszwängen, Ritalin und Noten fordern.
Jedes Kind ein Einzelfall
Müsste die Volksschule nicht längst mit tiefgreifenden Reformen auf die
Fundamentalkritik reagiert haben? Skepsis ist angebracht. Den Vertretern einer
«Neurodidaktik» oder «Neuropädagogik», die behaupteten, über fundamental neues
Wissen zum hirngerechten Lernen zu verfügen, ist inzwischen der allzu starke
Wind aus den Segeln genommen worden. Von Pseudo-Neurowissenschaften spricht
Martin Meyer vom Psychologischen Institut der Universität Zürich, die ihre
Versprechen nicht hätten einlösen können.
Für ihn liegt ein Grundwiderspruch darin, dass die Neurowissenschaft
eine Grundlagendisziplin ist, die für ihre Modelle mit Durchschnittswerten
rechnet, während es in Pädagogik und Didaktik um den Einzelfall geht. Das
einzelne Gehirn aber sei unberechenbar. Was die kognitive Neurowissenschaft mit
der Magnetresonanztomografie an Aktivitätsmustern feststelle, entspreche
niemals eins zu eins bestimmten Gedanken, Emotionen oder Vorstellungen. «Es ist
sinnfrei, ein einzelnes Kind in den Hirnscanner zu legen, weil man nichts
Brauchbares fände.»
Dennoch misst Meyer der kognitiven Neuropsychologie einen hohen Wert für
die Pädagogik zu, auch wenn sie keine Konzepte dafür liefern könne, was im
Einzelfall mit einem Kind zu tun sei. Sie biete grundlegende Erkenntnisse über
die Unterschiede zwischen Lernprozessen im Hirn von Kindern und Erwachsenen,
wisse viel über die Rolle der kognitiven Funktionen beim Spracherwerb und könne
die Effekte der Veränderungen von Struktur und Funktionen des Hirns schon vor
der Geburt und bis ins Alter beobachten und dadurch Entwicklungs- und
Reifungsvorgänge identifizieren. Beim Lernen, zeigt die Forschung, verändert
sich das Gehirn physisch; es bleibt ein Leben lang formbar. Jeder Mensch hat
seine eigene Lernbiografie. Vielseitige Aktivität fördert und stabilisiert
seine Entwicklung. Oder, wie es Willi Stadelmann, Naturwissenschafter, Pädagoge
und früherer Rektor der Pädagogischen Hochschule Zentralschweiz formuliert:
«Begabung ist keine Konstante! Begabungsförderung ist ein Leben lang möglich
und nötig.»
Kaum etwas habe die Neurowissenschaft entdeckt, was Psychologie und
Pädagogik nicht schon seit hundert Jahren wüssten, sagt Meyer. «Aber sie kann
die Befunde bestätigen.» Und manchmal kann sie liebgewordene Ansichten infrage
stellen. Ein Beispiel ist die Frühförderung. «Keine Studie zeigt, dass Kinder
im Vorschulalter auf einen höheren Entwicklungsstand getrimmt werden können»,
sagt Meyer. Nur mit viel Aufwand sind Verbesserungen erreichbar. Das gilt
allerdings weniger für Kinder aus sozial benachteiligten Familien. Diese können
erheblich profitieren. «Kinder vielfältige sinnliche Erfahrungen machen zu
lassen, hat sich dabei bewährt.» Gezielte Frühförderung ist also sinnvoll,
während frühkindliche Bildung (im akademischen Sinn) überschätzt wird.
Auch die im Zusammenhang mit dem frühen Erlernen von Fremdsprachen stets
bemühte Vorstellung von «Zeitfenstern» in der Kindheit, die es nicht zu
verpassen gelte, hat sich nicht bestätigt. Die Frage bleibt also offen, ob sich
der Aufwand für frühen Fremdsprachenunterricht lohnt, wenn es später
möglicherweise wesentlich einfacher geht. Wirklich entscheidende Zeitfenster
gibt es in den ersten Lebenswochen eines Kindes. Würde man einem Kind während
der ersten Wochen die Augen verbinden, führte dies zu irreparablen Schäden,
weil die Entwicklung des Sehens von Stimulation abhängt.
Hilfreich sind Erkenntnisse zu Hirnstruktur und -funktionen in der
Heilpädagogik. Allerdings ist der Nutzen im Einzelfall auch für Claudia
Ziehbrunner, Leiterin des Instituts für Lernen unter erschwerten Bedingungen
der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich, begrenzt. So gelte
zwar generell, dass eine hohe Stimulierung das Lernen befördert, bei
Hirnverletzten kann aber im Gegenteil eine Reizreduktion angezeigt sein. Die
Neurobiologie zeigt auf, dass eine Prüfung der Umweltreize nötig ist. Konkrete
Massnahmen bedürfen aber einer Beurteilung im Gesamtzusammenhang, der auch das
soziale Umfeld einschliesst. So wird eine Lehrerin, die über die möglichen
Folgen von Hirnverletzungen Bescheid weiss, andere Erwartungen an die
Aufmerksamkeitsleistung eines hirnverletzten Kindes haben, wenn sie weiss, dass
dieses mit drei Jahren eine solche Verletzung erlitt. Umgekehrt können
vergleichbare Aufmerksamkeitsschwierigkeiten bei einem anderen Kind auf
erschwerende Faktoren im familiären Umfeld zurückgehen. Es sind dann andere
Massnahmen angezeigt. Die Erkenntnisse der Hirnforschung bilden damit einen
Faktor unter anderen beim Verstehen komplexer Phänomene.
Das Dilemma im Schulzimmer
Was muss eine Primarlehrerin von der Hirnforschung wissen? Die Forschung
zeige, wie individuell die Hirnentwicklung verlaufe, sagt Meyer. Es lohne sich
deshalb, sich mit dem einzelnen Kind zu beschäftigen. Klar müsse sein, dass die
Neurowissenschaft keine einfachen Rezepte liefere. «Sie kann aber entlastend
wirken, etwa wenn sie Legasthenikern oder deren Eltern die Schuldgefühle nimmt,
weil sie zeigen kann, dass die Leseschwäche eine neurobiologisch nachweisbare
Ursache hat.»
Das grundlegende Dilemma im Schulzimmer bleibt aber, dass der Lehrer
zwar weiss, dass er allen Kindern gerecht werden muss, aber nicht jedem die
nötigen Extras bieten kann. Bei 26 Kindern ist das schlicht nicht möglich,
zumal die Streuung nach Geburtsdaten, Geschlecht und individueller, oft in
Sprüngen verlaufender Entwicklung riesig ist. Es ist dieses Grunddilemma, das
Bestsellerautoren ansprechen. Auch die Hirnforschung kann es nicht lösen.
Überschätzte Hirnforschung = unterschätzte Pädagogik und Psychologie!
AntwortenLöschenMeyer ist durch und durch Wissenschaftler und ein mutiger dazu, der die Sache beim Namen nennt und mit falschen, unwissenschaftlichen Vorstellungen aufräumt, die in die Frühfremdsprachendoktrin und den
Grundlagen für den Lehrplan 21 eingeflossen sind und von den Fachleuten an der Front und in der öffentlichen Debatte nicht hinterfragt werden dürfen. Ein Lehrer mit 26 Kindern ist nur hilflos, wenn er keinen Klassenunterricht mehr machen darf und die Heterogenität seiner Klasse mit AdL usw. laufend künstlich vergrössert wird.