6. November 2017

Erkenntnisse der Hirnforschung und der pädagogische Alltag

Ursina Pajarola, Unternehmensleiterin der Lernstudio Zürich AG, zur Rolle der Hirnforschung im pädagogischen Alltag.
«Die Haltung der Lehrperson muss stimmen», NZZ, 6.11. von Walter Bernet


Von manchen wird die Hirnforschung als Wunderwaffe der Pädagogik betrachtet. Was halten Sie, Frau Pajarola, davon?
Das Gehirn ist die Basis jeder geistigen Tätigkeit und somit auch des Lernens. Insofern sind die neurobiologischen Erkenntnisse der Hirnforschung gerade für die Pädagogik zentral – neben anderen Erkenntnissen. Lernen und Lernmotivation sind mehrdimensionale Prozesse, die stark von individuellen psychologischen Faktoren und somit den Persönlichkeitsmerkmalen der Lernenden abhängig sind. Darum tun wir als Schulen gut daran, bei der Gestaltung unserer Lern-Settings neurobiologische und psychologische Erkenntnisse zu nutzen.

Zu Ihnen kommen Schüler mit Lernproblemen, aber auch angehende Gymnasiastinnen. Wie wirken sich die Funktionsmechanismen des Hirns konkret auf deren Erfolg oder Misserfolg aus?
Zu klären ist zuerst, was mit «schulischem Erfolg» aus pädagogischer Sicht gemeint ist. Wenn ein Kind eine ungenügende Prüfungsnote bekommt, erlebt es dies vorerst als Misserfolg. Ist es aber noch immer ein Misserfolg, wenn es dem Kind danach gelingt, das Resultat anzuerkennen, die Frustration emotional zu bewältigen, die Fehler zu verstehen, Motivation für die nächste schulische Herausforderung zu bilden und die stofflichen Lücken zu schliessen? Man muss den gesamten Lernprozesses einbeziehen, um die Nachhaltigkeit des Erfolgs beurteilen zu können. Nach den Auswirkungen der Funktionsmechanismen des Hirns zu fragen, bringt uns dabei im Einzelfall nicht weiter. Hingegen versuchen wir, die Lern-Settings gemeinsam mit den Kindern und Jugendlichen den individuellen Lernvoraussetzungen anzupassen – auch unter Zuhilfenahme der Erkenntnisse der Hirnforschung.

Wie haben Sie die Resultate der Hirnforschung bei der Suche nach neuen Lehr- und Lernmethoden genutzt?
Wir haben etliche neue Impulse gewonnen und sind dabei, diese in einem pädagogischen Programm zu konkretisieren und zu strukturieren. Auch die beste neurodidaktische Methode nützt aber nichts, wenn die Haltung der Lehrperson nicht stimmt. Dass die Pädagoginnen und Pädagogen selbst motiviert sind und grundsätzlich in erster Linie auf die Lerntypen und die individuellen kognitiven, emotionalen und sozialen Voraussetzungen der Kinder und Jugendlichen abstellen, ist unabdingbar.

Was machen Sie dabei anders als die Volksschule?
Hüben wie drüben wirken sehr engagierte Lehrpersonen, die ihren Unterricht laufend mit den neusten Erkenntnissen anreichern. Stark unterscheiden wir uns von der Volksschule bei den zeitlichen Ressourcen der Lehrpersonen, den kleineren Klassen, in der Varianz der pädagogischen Schwerpunktsetzung und der Reaktionszeit für innovative Projekte und Methoden. Als privater Bildungsdienstleister leben wir davon, uns tagtäglich mit der Frage nach der «guten Bildung» oder dem «lernförderlichen Klima» zu beschäftigen.

Und was davon setzen Sie um?
Wir haben zum Thema Hirnforschung und Pubertät im vorletzten Jahr eine Veranstaltungsreihe durchgeführt. Entstanden ist daraus das genannte Bildungsprogramm. Zu den darin festgehaltenen Grundsätzen gehört etwa, dass unsere Inputs so strukturiert sein müssen, dass das Hirn die Informationen auch verankern kann, dass auf das Wiederholen und auf genügend Zeit für Reflexion zu achten ist und dass die Schüler im Sinn eines entdeckenden, selbstgesteuerten Lernens eigene Lösungen für Probleme finden sollen.

Angst oder Stress seien schlechte Lernbegleiter, sagen nicht nur Hirnforscher. Wie bringt man Schülern Freude am Lernen und Selbstmotivation bei?
Da spielen zahllose Faktoren mit. Mein persönliches Credo: Freude am Lernen entsteht durch Vertrauen, Selbstachtung und ein gutes Vorbild in Form eines konstanten Wegbegleiters, zum Beispiel einer motivierten Lehrperson.

Interview: Walter Bernet


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