Vorwurf Streber: Super Noten, Geschlecht und Unbeliebtheit haben sehr wohl miteinander zu tun.
Aargauer Zeitung, 6.11. von Margrit Stamm
Es gibt Talente, die es in der Schule trotzdem
schwer haben, vor allem dann, wenn sie männlich sind. Jeder kennt sie,
lernbegierige Primarschüler, die Bestnoten schreiben. Manchmal sind sie
hochbegabt, oft lediglich besonders gewissenhaft und ehrgeizig. In Mathematik
oder Deutsch sind sie der Klasse voraus, und auch mit ihrem Wissen halten sie
sich im Unterricht nicht zurück. Verhalten sie sich unauffällig, sind sie die
Lieblinge der Lehrkräfte, und auch viele Eltern verknüpfen schon die
Frühförderung mit dem Ziel, ein strebsames Kind zu erziehen, das einmal zur
Leistungsspitze gehört.
Der Schein trügt. Es gibt einen deutlichen
Zusammenhang zwischen sehr guten Noten, Geschlecht und Unbeliebtheit. Je besser
die Leistung, desto stärker sitzt guten Schülern die Angst im Nacken, als
Angeber oder Streber diffamiert zu werden. Im Unterschied zu den Mädchen ist
das Wort «Streber» bei vielen Knaben negativ besetzt, und das war wohl schon
immer so.
Es erstaunt deshalb kaum, dass sich viele sehr gute
Schüler dem Druck zum Mittelmass beugen und ihre Noten im Verlaufe der
Schulzeit sinken. Dies gibt deshalb zu denken, weil die Forschung zeigt, dass
die Angst vor dem Strebervorwurf bei uns deutlich grösser ist als in anderen
Ländern, wie etwa in den USA, in Israel oder Kanada, und dass dies vor allem
ein männliches Problem ist. Einer der Gründe ist der Trend, dass Knaben
hierzulande den Schulerfolg im Schnitt für weniger wichtig halten als Mädchen
und sich seltener anstrengen. Viele finden Hochleistung in der Schule suspekt –
nicht aber im Sport.
Spätestens in der Pubertät kommt es zu Neid und
Missgunst
Noch im Kindergarten gilt ein lernbegieriges Kind
als Ideal. Auch Lehrkräfte sparen nicht mit Lob und heben den ehrgeizigen
Schüler als Vorbild für die Klasse hervor. Doch spätestens in der Pubertät
kommt es zu Neid und Missgunst. Dann fangen Jugendliche an, ihre Rolle zu
suchen und um Anerkennung zu werben. Zwar ist ein strebsamer Schüler in der
Klasse integriert, wenn es noch andere dieser Art hat. Sind sie jedoch in der
Minderheit und neben vielen Leistungsschwächeren die einzigen Herausragenden,
wirken ihre Supernoten suspekt und führen ins Abseits. Sie werden schnell zur
Zielscheibe von Häme und Spott, ganz besonders dann, wenn sie linkisch oder
unsportlich sind.
In nicht wenigen Klassen herrscht ein «heimlicher
Lehrplan», d.h. ein versteckter Codex dessen, was cool ist. Hat ein Schüler in
Französisch eine Sechs, dann wird er nur anerkannt, wenn er dafür kaum etwas
tun musste. Noch mehr Bewunderer bekommt er, wenn er sich als Klassenclown
profilieren, die Lehrkräfte nerven, sein Fussballteam zum Sieg führen und als
Erster die neuesten Yeezy-Adidas von Kanye West tragen kann. Doch ist die
Französischnote durch intensives Lernen zustande gekommen, dann gilt er als
Streber und als Aussenseiter.
Schlechte Noten werden bewusst einkalkuliert
Solche Schüler stecken in einem Dilemma. Entweder
bleiben sie ihrem Ehrgeiz treu, doch dann müssen sie sich als Einzelgänger
akzeptieren. Viele versuchen deshalb, ihren Status erträglicher zu machen. Sie
helfen Klassenkameraden bei den Hausaufgaben, geben den aussichtslosen Fällen
Nachhilfe oder lassen den Sitznachbar in Prüfungen abschreiben. Werden sie
trotzdem nicht zur Teeny-Party eingeladen, kränkt sie dies enorm. Deshalb wählt
etwa jeder Dritte den Weg ins Mittelmass. Aus Angst, ins Abseits zu geraten,
vertuschen solche Jugendlichen ihren schulischen Ehrgeiz und versuchen, dem
Mainstream zu folgen – mit der bewussten Einkalkulierung schlechter Noten. Aber
auch wenn die Leistungen einbrechen, bleibt der Wunsch nach Klassenakzeptanz
bestehen.
Damit diese Aussenseiter wieder zu ihrer
Hochleistung zurückfinden, braucht es oft eine lange Durststrecke. Manchmal
kommen sie erst in der Berufslehre oder am Gymnasium mit Gleichgesinnten
zusammen. Und nicht immer können sie ihren Ehrgeiz wieder finden und ihren Habitus
als Minderleister überwinden. Knaben mit guten Noten haben ein schwieriges
Leben. Die in ihren Peer-Groups verbreitete Verliebtheit ins Mittelmass führt
oft dazu, dass sie zu schlechten Schülern werden, nur um dem Aussenseiter-Image
zu entfliehen. In dieser Problematik liegt wahrscheinlich ein bisher
unberücksichtigtes Dilemma in der Diskussion um die Knaben als «den neuen
Bildungsverlierern».
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