6. November 2017

Die Schule von morgen

Jürg Brühlmann vom Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz LCH ist überzeugt: Die Digitalisierung wird die Volksschule grundlegend verändern. 
Die Schule von morgen, Fritz + Fränzi, Oktober 2017 von Jürg Brühlmann (LCH)



Der Lehrplan 21 bringt den Unterricht zu den Informations- und

 Kommunikationstechnologien (ICT) und Medien in die Volksschule. Kinder recherchieren Informationen und lernen sie zu bewerten, können Bildsprache interpretieren und hinterfragen, nutzen selbstverständlich unterschiedlichste Programme und lernen, zu verstehen, wie die Programmierlogik funktioniert. Solche Inhalte und Kompetenzen lernen die Kinder in Zukunft in der Schule. Bis die Schulen so weit sind, kann es noch einige Jahre dauern: je nachdem, wie rasch der jeweilige Kanton den Lehrplan 21 einführt, ob genug Zeit und Geld zur Verfügung gestellt werden für die Weiterbildung der Lehrpersonen, ob die Lehrmittel aktualisiert werden und ob die Schule ausreichend mit Hard- und Software ausgerüstet wird.

Digitalisierung kostet

In Winterthur wurden auf das neue Schuljahr hin 40 Schulhäuser für 2,5 Millionen Franken mit 2000 Notebooks und 900 Tablets ausgerüstet. Jedes Kind erhielt einen USB-Stick mit Linux-Betriebssystem, Lern- und Softwareprogrammen, die auch zu Hause laufen sollen. Es scheint, als ob nun in den Gemeinden das grosse Aufrüsten beginnt. Die schulische Infrastruktur wird nicht vom Kanton gestellt, sondern muss von den Gemeinden finanziert werden, teilweise mit Beiträgen des Kantons. Die Volksschule ist gemäss Bundesverfassung, Artikel 19 unentgeltlich. Daher ist es richtig, dass die Eltern nicht mit Anschaffungen oder Abokosten belastet werden.

Kinder wollen als Individuen gesehen und gefördert werden. Erste öffentliche Schulen setzen als Pioniere für alters- und leistungsdurchmischte Lerngruppen voll auf die Personalisierung mit digitalem Lernwegmanagement und digitalen Lernaufgaben einschliesslich Lernmaterial im Hintergrund. Das Lernen jedes Kindes kann auf übersichtlichen Kompetenzrastern im Auge behalten werden und bleibt für Lehrpersonen und Eltern nachvollziehbar. Andere Schulen stellen um auf flexible Stundenpläne, erste private Schulen verzichten sogar auf fixe Ferienzeiten und bieten Ferncoaching für die Hausaufgaben oder bei Abwesenheiten.

Gelernt werden kann immer, auch abends, Auszeiten und Ferien sind jederzeit möglich. Elternbussen aufgrund von unentschuldigten Absenzen werden abgelöst durch Lernzielvereinbarungen im Dreieck Kind - Eltern - Schule. Die Lehrpersonen fördern als Coaches die Kinder, damit sie die gewünschten standardisierten Tests bestehen, welche anstelle der Lehrpersonen die promotionswirksame Beurteilung und Selektion übernehmen.

Digitalisierung bringt völlig neue Zukunftsszenarien

Im Hintergrund warten bereits grosse Unternehmen, die all dies im Abonnement anbieten: Cloud-Lösungen, Social Media, interaktive Webseiten, alle Arten Apps und Lernprogramme, Videotutorials, modulares Lernmaterial, Lernwegtracking und internationale Tests. Vielleicht umfassen die Pakete bald auch spezialisierte Lehrpersonen, die teilweise vor Ort sind und anderes im Ferncoaching abdecken. Korrekturen können weitgehend automatisiert erledigt werden. Schreiben wird unwichtiger, weil den Computern Texte diktiert werden können. Menschenähnliche Roboter können Fragen beantworten, emotionale Bedürfnisse abdecken, singen oder erzählen.

Derartige Angebote verlangen einen enormen Investitionsbedarf und sind dafür nach oben skalierbar. Nur die immer noch notwendige soziale Betreuung der Kinder muss lokal sichergestellt werden, entweder professionell gegen Bezahlung durch die Eltern oder kostengünstiger mit Freiwilligen. Regionale Lehrmittelverlage und einzelne Kantone können mit Eigenentwicklungen da nicht mehr mithalten.

Digitalisierung erfordert politische Willensbildung

Mit derartigen Szenarien werden wir uns bald schon politisch als Wahl- und Stimmberechtigte, aber auch «persönlich als Eltern auseinandersetzen müssen. Die Bildungskosten sind neben den Gesundheitskosten die auffälligsten Ausgaben in den Gemeinden und Kantonen. Um in Kantonen und Gemeinden weiter Steuern senken zu können, schlagen führende Politiker und Medien eine massive Senkung der Kosten auch im Bildungswesen vor. Wie in den USA bereits zu sehen ist, sind auch digitale Billigstlösungen möglich: Das Sponsoring wird forciert, bezahlt wird mit den Daten und der Beeinflussung der Kinder, Kosten werden nach dem Prinzip BYOD (bring your own device) und über Gebühren auf die Eltern abgewälzt, einfach testbare Fächer bilden die Grundbildung, der Rest muss privat dazugekauft werden.

Wir sehen im Gesundheitswesen bereits ähnliche Entwicklungen, wo Menschen nach Betreuungsintensität «taxiert›› werden. Das Verursacherprinzip kennen wir bereits. Das Prinzip der Finanzierung von Grundangeboten via progressive Steuern wird abgelöst durch das Verursacherprinzip, wie bereits bei den TV/Internet-Gebühren, den Autobahnvignetten, beim Wasser oder beim Kehricht.

Heute ist noch kaum vorstellbar, dass eines Tages auch die heute noch vielfältigen Berufsaufgaben der Lehrpersonen auf andere Berufsgruppen, Laien und Assistenzpersonal aufgeteilt und damit modularisiert werden könnten: die Planung von Unterricht, das Vermitteln von prüfungsfähigen Kompetenzen (das «Lehren»), das Trainieren und Üben, die soziale Betreuung und die Führung der Gruppen, das Herstellen von Lernmaterial, das Prüfen, Testen und Beurteilen. Schauen wir uns in anderen Berufen und Wirtschaftszweigen um, geschieht aber genau das.

Digitalisierung schafft die Allrounderin ab

Die Vorstellung der Allrounderin, die neun Fächer möglichst individualisiert unterrichtet, eine maximal heterogene Klasse führt, die sozialen und personalen Kompetenzen jedes Kindes fordert, rund um die Uhr auf die Sorgen der Eltern eingeht und auch abends online bei Aufgaben hilft, Kinder beurteilt und für spätere schulische und berufliche Karrieren selektioniert - von diesem Bild werden wir uns vielleicht schon bald verabschieden müssen, wenn sich die Trends fortsetzen.


Alles nur Utopien? Vermutlich nicht, wenn wir schauen, was um uns herum gerade passiert.

1 Kommentar:

  1. Glaubt Brühlmann das wirklich selber und wenn ja, freut er sich sogar auf diese Zukunft?

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