Jürg
Brühlmann vom Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz LCH ist überzeugt: Die
Digitalisierung wird die Volksschule grundlegend
verändern.
Die Schule von morgen, Fritz + Fränzi, Oktober 2017 von Jürg Brühlmann (LCH)
Kommunikationstechnologien (ICT) und
Medien in die Volksschule. Kinder recherchieren Informationen und lernen sie zu
bewerten, können Bildsprache interpretieren und hinterfragen, nutzen
selbstverständlich unterschiedlichste Programme und lernen, zu verstehen, wie
die Programmierlogik funktioniert. Solche Inhalte und Kompetenzen lernen die
Kinder in Zukunft in der Schule. Bis die Schulen so weit sind, kann es noch
einige Jahre dauern: je nachdem, wie rasch der jeweilige Kanton den Lehrplan 21
einführt, ob genug Zeit und Geld zur Verfügung gestellt werden für die
Weiterbildung der Lehrpersonen, ob die Lehrmittel aktualisiert werden und ob
die Schule ausreichend mit Hard- und Software ausgerüstet wird.
Digitalisierung
kostet
In
Winterthur wurden auf das neue Schuljahr hin 40 Schulhäuser für 2,5 Millionen
Franken mit 2000 Notebooks und 900 Tablets ausgerüstet. Jedes Kind erhielt
einen USB-Stick mit Linux-Betriebssystem, Lern- und Softwareprogrammen, die
auch zu Hause laufen sollen. Es scheint, als ob nun in den Gemeinden das grosse
Aufrüsten beginnt. Die schulische Infrastruktur wird nicht vom Kanton gestellt,
sondern muss von den Gemeinden finanziert werden, teilweise mit Beiträgen des
Kantons. Die Volksschule ist gemäss Bundesverfassung, Artikel 19 unentgeltlich.
Daher ist es richtig, dass die Eltern nicht mit Anschaffungen oder Abokosten
belastet werden.
Kinder
wollen als Individuen gesehen und gefördert werden. Erste öffentliche Schulen
setzen als Pioniere für alters- und leistungsdurchmischte Lerngruppen voll auf
die Personalisierung mit digitalem Lernwegmanagement und digitalen Lernaufgaben
einschliesslich Lernmaterial im Hintergrund. Das Lernen jedes Kindes kann auf
übersichtlichen Kompetenzrastern im Auge behalten werden und bleibt für Lehrpersonen
und Eltern nachvollziehbar. Andere Schulen stellen um auf flexible
Stundenpläne, erste private Schulen verzichten sogar auf fixe Ferienzeiten und
bieten Ferncoaching für die Hausaufgaben oder bei Abwesenheiten.
Gelernt
werden kann immer, auch abends, Auszeiten und Ferien sind jederzeit möglich.
Elternbussen aufgrund von unentschuldigten Absenzen werden abgelöst durch Lernzielvereinbarungen
im Dreieck Kind - Eltern - Schule. Die Lehrpersonen fördern als Coaches die
Kinder, damit sie die gewünschten standardisierten Tests bestehen, welche anstelle
der Lehrpersonen die promotionswirksame Beurteilung und Selektion übernehmen.
Digitalisierung
bringt völlig neue Zukunftsszenarien
Im
Hintergrund warten bereits grosse Unternehmen, die all dies im Abonnement
anbieten: Cloud-Lösungen, Social Media, interaktive Webseiten, alle Arten Apps
und Lernprogramme, Videotutorials, modulares Lernmaterial, Lernwegtracking und
internationale Tests. Vielleicht umfassen die Pakete bald auch spezialisierte
Lehrpersonen, die teilweise vor Ort sind und anderes im Ferncoaching abdecken.
Korrekturen können weitgehend automatisiert erledigt werden. Schreiben wird
unwichtiger, weil den Computern Texte diktiert werden können. Menschenähnliche
Roboter können Fragen beantworten, emotionale Bedürfnisse abdecken, singen oder
erzählen.
Derartige
Angebote verlangen einen enormen Investitionsbedarf und sind dafür nach oben
skalierbar. Nur die immer noch notwendige soziale Betreuung der Kinder muss lokal
sichergestellt werden, entweder professionell gegen Bezahlung durch die Eltern
oder kostengünstiger mit Freiwilligen. Regionale Lehrmittelverlage und einzelne
Kantone können mit Eigenentwicklungen da nicht mehr mithalten.
Digitalisierung
erfordert politische Willensbildung
Mit
derartigen Szenarien werden wir uns bald schon politisch als Wahl- und
Stimmberechtigte, aber auch «persönlich als Eltern auseinandersetzen müssen.
Die Bildungskosten sind neben den Gesundheitskosten die auffälligsten Ausgaben
in den Gemeinden und Kantonen. Um in Kantonen und Gemeinden weiter Steuern
senken zu können, schlagen führende Politiker und Medien eine massive Senkung
der Kosten auch im Bildungswesen vor. Wie in den USA bereits zu sehen ist, sind
auch digitale Billigstlösungen möglich: Das Sponsoring wird forciert, bezahlt
wird mit den Daten und der Beeinflussung der Kinder, Kosten werden nach dem
Prinzip BYOD (bring your own device) und über Gebühren auf die Eltern
abgewälzt, einfach testbare Fächer bilden die Grundbildung, der Rest muss
privat dazugekauft werden.
Wir
sehen im Gesundheitswesen bereits ähnliche Entwicklungen, wo Menschen nach
Betreuungsintensität «taxiert›› werden. Das Verursacherprinzip kennen wir
bereits. Das Prinzip der Finanzierung von Grundangeboten via progressive Steuern
wird abgelöst durch das Verursacherprinzip, wie bereits bei den
TV/Internet-Gebühren, den Autobahnvignetten, beim Wasser oder beim Kehricht.
Heute
ist noch kaum vorstellbar, dass eines Tages auch die heute noch vielfältigen
Berufsaufgaben der Lehrpersonen auf andere Berufsgruppen, Laien und
Assistenzpersonal aufgeteilt und damit modularisiert werden könnten: die
Planung von Unterricht, das Vermitteln von prüfungsfähigen Kompetenzen (das «Lehren»),
das Trainieren und Üben, die soziale Betreuung und die Führung der Gruppen, das
Herstellen von Lernmaterial, das Prüfen, Testen und Beurteilen. Schauen wir uns
in anderen Berufen und Wirtschaftszweigen um, geschieht aber genau das.
Digitalisierung
schafft die Allrounderin ab
Die
Vorstellung der Allrounderin, die neun Fächer möglichst individualisiert
unterrichtet, eine maximal heterogene Klasse führt, die sozialen und personalen
Kompetenzen jedes Kindes fordert, rund um die Uhr auf die Sorgen der Eltern
eingeht und auch abends online bei Aufgaben hilft, Kinder beurteilt und für
spätere schulische und berufliche Karrieren selektioniert - von diesem Bild werden
wir uns vielleicht schon bald verabschieden müssen, wenn sich die Trends
fortsetzen.
Alles
nur Utopien? Vermutlich nicht, wenn wir schauen, was um uns herum gerade
passiert.
Glaubt Brühlmann das wirklich selber und wenn ja, freut er sich sogar auf diese Zukunft?
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