Andernorts würden solche Bedingungen als «Abo-Falle» bezeichnet: Die Anmeldung zum kostenpflichtigen Angebot erfolgt automatisch. Eine Abmeldung ist möglich, aber muss rund fünf Monate vor Vertragsbeginn erfolgen – oder aber innert zehn Tagen nach dem Anmeldebescheid. Die Teilnahme gilt für ein Jahr und kann währenddessen nicht gekündigt werden.
Warum aus der Stadtzürcher "Tagesschule light" keine "Tagesschule vollfett" werden darf, NZZ, 18.5. von Lena Schenkel
Die Rede ist nicht von einem Handyvertrag oder einem Zeitschriftenabonnement, das man versehentlich abgeschlossen hat, sondern vom künftigen Schulmodell der Stadt Zürich.
An sich ist der Deal fair: Für höchstens 9 Franken pro Mittag gibt es eine warme Mahlzeit, Betreuung inklusive. Diese «Mittagskombo» will die Stadt Zürich bald allen Volksschülern anbieten. Zumindest dann, wenn sie nachmittags Unterricht haben. «Tagesschule light» wird das Modell auch genannt. Einfach, günstig und trotzdem effektiv, soll es die Erwartungen an eine moderne Schule erfüllen.
Seit bald fünf Jahren wird die «Tagesschule 2025», so der offizielle Projektname, in der bevölkerungsreichsten Schweizer Stadt erprobt. Ab 2023 soll sie gestaffelt flächendeckend eingeführt werden. Das hat der Zürcher Stadtrat kürzlich beschlossen. Das letzte Wort haben nächstes Jahr die Stadtzürcher Stimmberechtigten.
Zeit für eine Zwischenbilanz.
Als aufschlussreich erweist sich hierfür ein externer Evaluationsbericht zur zweiten Pilotphase von Anfang März. Darin zeigen sich die befragten Kinder und Jugendlichen, ihre Eltern, Lehrerinnen und Betreuer grossmehrheitlich zufrieden oder sehr zufrieden mit dem Modell. Auch das Konzept habe sich insgesamt bewährt, resümiert das Evaluationsteam.
Gleichzeitig macht der Bericht deutlich, dass das an sich gute Projekt aus dem Ruder zu laufen droht. Obwohl das Tagesschulangebot betont freiwillig sein soll, ist darin neuerdings von einer gewünschten Teilnahmequote die Rede. So soll höchstens jeder zehnte Primar- und jeder vierte Sekundarschüler abgemeldet werden. Dieses Ziel sei mit 13 beziehungsweise 42 Prozent verfehlt worden.
Das Evaluationsteam empfiehlt, die Elterninformation zu überprüfen, um die Abmeldequote zu senken. Was das heisst, lässt sich bereits anhand von derzeitigen Projektpräsentationen erahnen: Die Abmeldemöglichkeit wird nur noch eher beiläufig erwähnt.
Auf der Sekundarstufe könnten vermehrt auch Schülerinnen und Schüler direkt angesprochen und von den Vorteilen der Tagesschule überzeugt werden, heisst es im Bericht weiter. Das Prinzip erinnert an die Werbeprospekte von Spielzeugherstellern, die in der Vorweihnachtszeit ins Haus flattern: Sind die Kinder erst einmal geködert, ergibt sich der Rest von selbst.
Aber wie kam es überhaupt zu diesen Soll-Werten? Basieren sie auf den Erfahrungswerten der ersten Pilotphase? Braucht es diese Quote, um das Projekt organisatorisch sinnvoll oder finanziell gewinnbringend durchzuführen? Weit gefehlt: Die hohen Teilnahmequoten sollten eine «möglichst gute soziale Durchmischung» ermöglichen, heisst es an anderer Stelle im Bericht. Das wiederum verbessere die Bildungsgerechtigkeit.
Aus demselben Grund rät das Evaluationsteam von einer Flexibilisierung des Systems ab – obwohl sich viele der befragten Eltern gerade eine solche wünschen. Zwei Drittel möchten, dass man sein Kind im Tagesschulmodell von einzelnen Tagen abmelden kann.
Bis jetzt gilt das Prinzip «Alles oder nichts»: Abmelden kann man sich nur vom Gesamtpaket. Wer sein Kind von der Tagesschule abmeldet, die Mittagsbetreuung aber an einzelnen Tagen in Anspruch nimmt, zahlt den regulären Horttarif von bis zu 33 Franken pro Mittag. Die Option Tagesschule ist dann meist günstiger, «überzeugt» also auch finanziell.
Festzuhalten ist: Der Evaluationsbericht und die daraus abgeleiteten Empfehlungen sind von einer externen Firma erstellt worden. Im jüngsten Stadtratsbeschluss sind keine solchen Zielwerte definiert worden. Sie sind auch nicht Bestandteil der Weisung zu Handen des Parlaments.
Gleichwohl zeigt der Bericht, in welche Richtung das Projekt abzudriften droht, wurden die Soll-Werte doch von Vertreterinnen von Schulamt, Projektausschuss und Schulpflege definiert. Und diese Richtung ist in zweierlei Hinsicht problematisch.
Kein Zwang, aber eine Zwängerei
Zum einen fällt es schwer, noch von einer freiwilligen Teilnahme zu sprechen. Offenbar möchte man in der Stadt Zürich auf etwas hinwirken, was sich gesetzlich nicht vorschreiben lässt.
Um in eigener Kompetenz ein flächendeckendes Schulmodell mit Mittagsobligatorium einzuführen, hätte die Stadt Zürich eine Änderung des Zürcher Volksschulgesetzes anstossen oder einen kantonalen Schulversuch beantragen müssen.
Rechtlich möglich wurde die Schulreform erst mit einer begründungslosen Abmeldemöglichkeit. Die Freiwilligkeit trage auch den Bedürfnissen der unterschiedlichen Familienmodelle Rechnung, argumentierte der Zürcher Stadtrat bei der Ausarbeitung des Pilotprojekts. Dies dürfte auch die breite Bevölkerung ins Boot geholt haben.
Angesichts der für die Evaluation definierten Soll-Werte und der zunehmenden Scheinfreiwilligkeit scheint es aber nur noch ein richtiges Modell zu geben: das, in der möglichst viele bei der Tagesschule mitmachen. Dabei war das nie das Ziel des Projekts. Das Stimmvolk hat lediglich den Auftrag erteilt, ein Angebot für eine Tagesschule zu schaffen, auf explizit freiwilliger Basis.
Die Stadt Zürich erweist sich einmal mehr als Meisterin im sogenannten «Nudging», einem «sanften Schubsen». Ob es darum geht, Schulkindern die «bösen» Bananen zum Znüni zu vergällen, oder darum, sie vom Auto aufs Velo zu bringen: Die Stadtzürcher werden von ihren Obrigen gerne in die vermeintlich richtige Richtung «geschubst». Eine rot-grün gefärbte Richtung, versteht sich.
Den gewieften Abo-Verkäufern der Tagesschule scheint jedes Mittel recht, von ihrem Produkt zu «überzeugen». Geheiligt werden die fast schon unlauteren Mittel im Namen der Bildungsgerechtigkeit. Womit wir bei der zweiten problematischen Entwicklung wären. Anstatt Mütter und Väter dabei zu unterstützen, Familie und Beruf individuell unter einen Hut zu bekommen, versteift man sich auf ein ideologisches Ziel.
Die Bedürfnisse benachteiligter Schulkinder dürfen jedoch nicht höher gewichtet werden als diejenigen von berufstätigen Eltern. Die Vereinbarkeit ist als Projektziel ebenso wichtig wie die Bildungsgerechtigkeit.
Ihre Kombination ist der Kern des Konzepts von «Tagesschule 2025». Es beruht wie so vieles, was in der Stadt Zürich Hand und Fuss haben soll, auf einer Zusammenarbeit zwischen Sozialdemokraten und Freisinnigen im Stadtparlament. 2010 forderte die SP dort mehr Tagesschulen pro Schulkreis, die FDP im Jahr darauf einen durchgängigen Schulbetrieb mit einer verkürzten Mittagspause.
Während Erstere ebenso wie andere linke Parteien bis heute vor allem mit einer besseren Bildungsgerechtigkeit argumentiert, steht für Letztere die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu wirtschaftlich attraktiven Konditionen im Vordergrund. Mit dem Modell «Tagesschule light» brachten sie diese Ziele auf den grösstmöglichen gemeinsamen Nenner. Den Kompromiss unterstützten schliesslich alle Parteien ausser der SVP, die sich freiere Angebote gewünscht hätte.
Das Problem eines politisch sorgfältig austarierten Kompromisses ist freilich, dass er schnell aus dem Gleichgewicht geraten kann. Tatsächlich dauerte es im rot-grün dominierten Zürich nicht lange, bis die Linke das Projekt zu ihren Gunsten zu beeinflussen versuchte.
Für die zweite Pilotphase wurde zunächst das Budget aufgestockt und eine freiwillige Aufgabenhilfe im Modell verankert. Das trug auch die FDP noch mit. Dabei soll es in Hinblick auf die flächendeckende Einführung aus Sicht der Linken aber nicht bleiben. Die AL will die schulergänzende Betreuungszeit ausweiten, die Grünen möchten sie «neu denken». Zusammen mit der SP fordern sie einen Ausbau der informellen Angebote an den Schulen für einen «pädagogischen Mehrwert».
Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Es spricht tatsächlich nichts gegen zusätzliche freiwillige Programme, die kostenpflichtig von privaten Drittanbietern oder gratis von Freiwilligen angeboten werden. Den Projektverantwortlichen schwebt jedoch etwas anderes vor, wie eine Empfehlung im Evaluationsbericht verdeutlicht: Weshalb nicht die über Mittag aufgebotenen Betreuer dafür oder als Klassenassistenzen im Unterricht einsetzen? Wo sie doch schon mal da sind.
Kurzum: Aus der «Tagesschule light» droht eine «Tagesschule vollfett» zu werden. Eine Kostenexplosion ist programmiert. Die SP kündigte bereits an, sich im Gemeinderat dafür einzusetzen, die Mittagsgebühr mit dem Übergang zur Tagesschule als Regelmodell abzuschaffen. Sie setze sich für eine «gebührenfreie Volksschule» ein.
Familie vor «Schulfamilie»
Die Volksschule ist aber keine Staatsschule à la DDR. Natürlich ist es sinnvoll, Schule und Betreuung stärker miteinander zu verzahnen, wie es die Tagesschule tut. Es ist jedoch nicht Aufgabe der einen, das andere gratis zu gewährleisten. Ohnehin stellt das Modell die traditionelle Aufgabenverteilung zwischen Schule und Eltern bereits bis zu einem gewissen Grad infrage.
Die Tagesschule leite einen grundlegenden Wandel der Schule ein, heisst es dazu im Evaluationsbericht: Sie werde zu einem auf die ganzheitliche Förderung von Kindern ausgerichteten Lebens- und Lernraum. In Projektpräsentationen ist von einer «Schulfamilie» die Rede.
Das Vokabular zeigt, auf welch schmalem Grat zwischen staatlicher und privater Sphäre sich die Tagesschule bewegt. Bisher hat das Stadtzürcher Pilotprojekt diese Gratwanderung gut gemeistert. Umso wichtiger ist es jetzt, dass es bei der Implementierung in die Regelschule nicht aus der Balance gerät.
Sonst droht sich das Projekt von einer zentralen Zielgruppe zu entfremden: den Eltern. Bereits jetzt regt sich unter ihnen Widerstand. Es fühlen sich vor allem jene benachteiligt, die ihre Kinder über Mittag lieber daheim haben wollen. Sei es, weil es dem Familienmodell eher entspricht oder auch nur, weil sich das Kind so besser erholen kann.
Sie stossen sich zum einen an der Scheinfreiwilligkeit des Tageschulmodells und
zum anderen an der von 110 auf 80 Minuten verkürzten Mittagspause, wie es in
einer von einem Elternpaar lancierten Petition dagegen heisst.
Für Kinder, die
währenddessen essen und den doppelten Schulweg zurücklegen müssen, ist die Zeit
tatsächlich knapp bemessen – aber auch für jene, die zwar am Tagesschulmodell
teilnehmen, ihr Mittagessen aber wegen Platzmangel auswärts einnehmen müssen.
Es ist deshalb zu begrüssen,
dass die Regelung vom Parlament nochmals überprüft wird und eine Verlängerung
der Mittagszeit auf 90 Minuten – wie sie an einigen Schulen bereits Usus ist –
politisch mehrheitsfähig zu sein scheint.
Wie im Falle der Aufgabenhilfe darf dies etwas kosten, aber in
Massen. Die Grundpfeiler Freiwilligkeit, Vereinbarkeit und
Bildungsgerechtigkeit dürfen zudem nicht einseitig geschwächt oder gestärkt
werden. Denn die Tagesschule ist ein zu wichtiges Projekt, als dass die breite
Unterstützung und das grosse Vertrauen in das Vorhaben leichtfertig aufs Spiel
gesetzt werden dürften.
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