6. März 2021

Abschaffung der Gymi-Aufnahmeprüfung wird in Zürich zum Dauerbrenner

Am Montag und Dienstag lösen wieder Tausende von Schülerinnen und Schülern in Zürich Prüfungsaufgaben in Deutsch, Mathematik sowie mitunter in Französisch oder Englisch. Die eine Hälfte will nach der sechsten Primarklasse ans Langgymnasium, die andere nach der zweiten oder dritten Sekundarklasse ans Kurzgymnasium, die Fach- oder die Handelsmittelschule.Wenn es nach dem Willen eines linken Politikers geht, soll zumindest Letzteres bald der Vergangenheit angehören. Peter Haberstich, Mitglied der kantonalen SP-Bildungskommission, fordert eine Abschaffung der Aufnahmeprüfung für Zürcher Maturitätsschulen für Sekundarschüler. Eine Forderung, die so oder ähnlich immer wieder einmal aufgebracht wird.

Warum es den "gerechten" Übertritt ins Gymnasium nicht geben kann, NZZ, 6.3. von Lena Schenkel und Nils Pfändler

Nach Ansicht von Haberstich sollten stattdessen Lehrerinnen und Lehrer eine Übertrittsempfehlung aussprechen. Damit würden auch das Lernverhalten und die Leistungen in allen Fächern in die Beurteilung einfliessen, findet er. Kandidaten ohne eine solche Empfehlung sollen auf Wunsch aber weiterhin eine Prüfung ablegen dürfen.

Haberstich und seine Partei, welche die im Kantonsrat eingereichte Einzelinitiative unterstützt, erhoffen sich davon ein für die Kandidatinnen «gerechteres und stressfreieres Auswahlverfahren». Im jetzigen System würden jene Schüler benachteiligt, die sich keine privaten Vorbereitungskurse leisten könnten oder daheim nicht bei der Prüfungsvorbereitung unterstützt würden.

Schliesslich soll mit dieser Umstellung auch die öffentliche Sekundarschule insgesamt gestärkt werden. Dies, weil nach Meinung von Haberstich mehr Schüler den Weg über die Sek wählen würden, statt schon nach der Primarschule ans Langgymnasium zu drängen. Das wiederum reduzierte den Leistungsdruck auf die jungen Kinder und machte die Sekundarschule durchmischter.

Lehrer sind gegen Empfehlungsverfahren

Mit Haberstichs Argumentation und seinen Vorschlägen sind nicht alle einverstanden. Namentlich aus der Lehrerschaft gibt es Kritik. Daniel Kachel präsidiert den Verein Sekundarlehrkräfte des Kantons Zürich. Er sagt: Müssten diese eine Empfehlung für einen Übertritt an eine Maturitätsschule aussprechen, gerieten sie allzu stark unter Druck, namentlich von Eltern. Der Initiant Haberstich entgegnet, dass diese Gefahr auf der Sekundarstufe weniger gegeben sei, weil anders als auf der Primarstufe mehrere (Fach-)Lehrer den Entscheid fällen würden.

Aus wissenschaftlicher Sicht sind Lehrerempfehlungen nicht über alle Zweifel erhaben. Eine deutsche Studie aus dem Jahr 2011 zeigt, dass etwas mehr als jeder zwanzigste Schüler entgegen der persönlichen Einschätzung der Lehrerin eine Übertrittsempfehlung fürs Gymnasium erhielt. Das heisst, sie liess sich durch äussere Umstände von ihrer ursprünglichen Haltung abbringen.

Die Forscher fanden heraus, dass der soziale Hintergrund der Schüler dabei ebenso eine Rolle spielte wie das Verhalten der Eltern. Vereinfacht gesagt: Sozial privilegierte Kinder erhalten eher eine Empfehlung – auch weil ihre Mütter und Väter eher intervenieren. Der ungerechte Effekt wird dadurch verstärkt, dass bildungsferne Eltern die schlechtere Bewertung ihres Kindes beziehungsweise eine Nichtempfehlung weniger infrage stellen und sich seltener wehren.

Dass Elternerwartungen die Lehrkräfte und deren Selektionsentscheide stark beeinflussen, legt auch eine Studie von 2013 am Beispiel des Übertritts von der Primar- in die Sekundarstufe im Kanton Luzern dar. Haberstichs Argument, wonach etliche Kantone bereits positive Erfahrungen mit dem prüfungsfreien Übertritt in die Maturitätsschulen machten, ist insofern mit Vorsicht zu geniessen, als der Andrang in Zürich ungleich grösser ist als etwa im Aargau oder in der Innerschweiz.

Nach Meinung des Sekundarlehrers Kachel müssten zudem Kriterien für eine solche Empfehlung festgelegt werden. «Dann wäre man schnell wieder bei den Noten, die gewissermassen bereits eine Lehrerempfehlung widerspiegeln.»

Empfehlungsverfahren seien in Zürich ein alter Hut, dessen man sich längst entledigt habe, sagt Kachel. In einer früheren Vernehmlassung zum Prüfungsreglement hatten sich insbesondere Lehrerinnen und Lehrer dagegen ausgesprochen. Kachel findet es deshalb «höchst seltsam und unzeitgemäss», eine solche Forderung erneut aufs Tapet zu bringen. Zudem sei es der falsche Zeitpunkt, schon wieder Änderungen an den Prüfungsmodalitäten anzuregen.

Bald gibt es neue Prüfungsregeln

Erst im Frühling 2019 erliess der Zürcher Regierungsrat eine neue Verordnung für die zentralen Aufnahmeprüfungen der Zürcher Maturitätsschulen, die wohl ab der Ausgabe 2023 gelten dürfte. Ab dann werden mit Ausnahmen auch Sekundarschülern Erfahrungsnoten angerechnet. Die mündliche Nachprüfung für Wackelkandidaten mit knapp ungenügendem Testresultat entfällt, ebenso die Französischprüfung für Anwärterinnen auf das Kurzgymnasium.

Doch wie Haberstich stellen sich viele die Frage: Ist dieses Auswahlverfahren auch wirklich fair? Auf jeden Fall ist es sehr selektiv: Rund die Hälfte der Prüflinge fällt durch. Jahr für Jahr brechen in Zürich neue Debatten darüber aus. In der Regel immer dann, wenn die Aufnahmeprüfungen am Zeithorizont erscheinen.

Der Leiter des Zürcher Mittelschul- und Berufsbildungsamts, Niklaus Schatzmann, hält das System für fair, wie er auf Anfrage sagt. Das zeige auch die Erfolgsquote der Schüler, welche die Aufnahmeprüfung bestehen würden: «Sie bewältigen mit sehr grosser Wahrscheinlichkeit auch die Probezeit.»

Laut Schatzmann ist es unbestritten, dass man das Thema Chancengerechtigkeit im Auge behalten muss. Er weist aber auch darauf hin, dass bei der Menge an Kandidaten und der Grösse des Prozesses immer ein gewisser Schematismus nötig sei. Alle Einzelfälle zufriedenzustellen, vermöge man kaum. «Wenn man eine Ungerechtigkeit behebt, dann schafft man eine neue.»

Allenfalls fairer, aber nie gerecht

Die Erziehungswissenschafterin Margrit Stamm, die sich auf Fragen der Bildungsgerechtigkeit spezialisiert hat, sagt, ein prüfungsfreier Zugang zu den Maturitätsschulen sei aus wissenschaftlicher Sicht fairer als einer mit. «Das Reüssieren an der Prüfung kann tatsächlich erkauft werden.» Auch stütze diese Art der Selektion allein auf Noten ab, welche anfällig für Verzerrungen seien. Ausserdem stuft sie selbständiges Denken, Eigeninitiative oder Ausdauer als genauso wichtig ein, um dort und später an der Universität oder einer Fachhochschule bestehen zu können.

Trotzdem sagt Stamm: «Eine Abschaffung der Aufnahmeprüfung packt das Problem der ungleichen Chancen nicht bei der Wurzel.» Die Weichen würden nämlich schon beim Schuleintritt gestellt. Ihr Lösungsansatz wäre deshalb eine systematische frühkindliche Förderung, wie sie auch die Schweizer Unesco-Kommission und der Schweizer Wissenschaftsrat fordern. Eine Forderung, die politisch indes umstritten ist. Ganz grundsätzlich braucht es laut Stamm jedoch vor allem eine Veränderung in den Köpfen von Lehrerinnen und Eltern, um das brachliegende Potenzial benachteiligter Kinder besser zu erkennen und anzuerkennen.

Was das Übertrittsverfahren bezüglich der Maturitätsschulen betrifft, sagt Stamm: «Es gibt keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass das eine oder andere Verfahren zu einem Abbau der sozialen Ungleichheit führt.» Weder mit einer seriösen Notengebung noch mit einem wissenschaftlich durchdachten System könne man den Übertrittsentscheid «gerecht» gestalten – höchstens fairer. «Welches Verfahren gewählt wird, bleibt deshalb eine politische Glaubensfrage.»

Wissenschaft im Spannungsfeld der Politik

Ein anderer Experte in Sachen Bildungsgerechtigkeit ist Jürg Schoch, ehemaliger Leiter des privaten Gymnasiums und des Instituts Unterstrass. Dort entstand das Förderprogramm Chagall für begabte jugendliche Migranten, das, einem parlamentarischen Vorstoss folgend, auf den ganzen Kanton ausgeweitet werden soll. Schoch ist Mitautor der Studie «Soziale Selektivität», die 2018 im Auftrag des Schweizerischen Wissenschaftsrates erschienen ist.

Eine systematische Frühförderung wäre auch laut dieser das erste Gebot für mehr Bildungsgerechtigkeit. «Das ist politisch aber offensichtlich noch nicht überall mehrheitsfähig», sagt Schoch. Noch weniger Chancen habe die Forderung der Wissenschaft nach einer späteren Selektion «frühestens ab der zweiten Sekundarklasse», was eine Abschaffung des Langgymnasiums bedeutete.

Was das Übertrittsverfahren betrifft, fände Schoch zusätzliche mündliche Prüfungen für alle am fairsten. Damit könnte auch die Motivation für eine akademische Laufbahn beurteilt werden. Es gehe schliesslich um eine prognostische Beurteilung der Frage, ob eine Maturität für die Kandidaten machbar sei. Es sei schade, dass dies aus praktischen Gründen schwer umsetzbar sei. Dass nun sogar die mündliche Prüfung für Grenzfälle abgeschafft wird, findet er stossend.

Auch dass in Zukunft nur noch zwei Fächer geprüft werden, bedauert Schoch. Wenn es eine Aufnahmeprüfung gibt, muss diese aus seiner Sicht möglichst breit aufgestellt sein. Dass Vornoten wieder in die Beurteilung einfliessen, sei wiederum begrüssenswert, um den Effekt eines «teaching to the test» für Privilegierte abzuschwächen.

Die Ideen drehen sich im Kreis

Und was empfiehlt der oberste Sekundarlehrer Kachel, der sich gegen Lehrerempfehlungen ausspricht, für mehr Fairness? Er fände es lohnenswert, bei den Prüfungsvorbereitungskursen anzusetzen und diese für alle Primar- und Sekundarschüler kostenlos und auf qualitativ hohem Niveau anzubieten.

Ein entsprechender Vorstoss, die Gemeinden zur Durchführung solcher Kurse zu verpflichten, scheiterte allerdings 2013 im Kantonsrat mit der Begründung, damit würde zu stark in die Gemeindeautonomie eingegriffen. Ausserdem seien solche Kurse systemfremd; die Kompetenzen für eine Maturitätsschule sollten im Regelunterricht erworben werden können. Auch der Initiant Haberstich findet: Wenn das nicht möglich sei, dann stimme entweder beim Niveau der Gymnasien oder bei jenem der Volksschule etwas nicht.

Was er bis anhin nicht wusste: Seine Idee, die Prüfung abzuschaffen, ist nicht neu. Sie wurde in ähnlicher Form 2013 schon einmal im Kantonsrat eingebracht – und verworfen. Damals forderten die Initianten aus den Reihen der Grünen, der SP und der EVP eine Abschaffung der Prüfung für Primar- und Sekundarschüler. Die Gründe für die Ablehnung dürften auch der jetzigen Initiative Gegenwind verschaffen, selbst wenn sich die Mehrheitsverhältnisse im Parlament inzwischen geändert haben.

Eine ersatzlose Abschaffung stand für die zuständige Bildungskommission damals nicht zur Diskussion: Sämtliche Aufnahmewilligen probehalber aufzunehmen, wäre für die Schulen logistisch und finanziell nicht machbar. Stattdessen wurde beschlossen, die Vorleistungen der Schüler «angemessen» zu berücksichtigen. Das sollte das Gewicht der Prüfung schmälern, auf die manche Kandidatinnen gezielt trainieren und deren Ergebnis stark von der Tagesform der Prüflinge abhängt.

Aufgrund des Widerstands der Lehrer hatte man auf Vorleistungen in Form von Empfehlungen verzichtet. Aus diesem Grund werden Vornoten für Sekundarschüler bald wieder zählen. Dies war bereits bis 2015 der Fall. Seit dann sind auch Sek-B-Schüler zur Prüfung zugelassen. Weil man die Vornoten der verschiedenen Sekundarabteilungen als nicht vergleichbar erachtete, wurden sie nicht mehr berücksichtigt. Bis heute zählt für Sekundarschülerinnen nur die Prüfungsnote.

Eine Lösung des anerkannten Problems scheint nicht in Sicht

Die neue, alte Initiative Haberstichs zeigt, dass die faire Zulassung vor allem zu den Gymnasien in Zürich ein Dauerbrenner bleibt. Der Initiant Haberstich lässt sich davon nicht abschrecken. «Bloss weil es die ideale Lösung nicht gibt und alle Alternativen auch wieder neue Ungerechtigkeiten schaffen können, kann man ja trotzdem versuchen, diejenige Lösung zu finden, welche am wenigsten Ungerechtigkeit schafft und die grösste Annäherung an den Idealzustand erreicht», schreibt er. Genau das versuche er mit seinem Vorstoss.

Klar und wissenschaftlich belegt ist: Kinder aus deutschsprachigen, bildungsnahen, gutsituierten Haushalten haben einen deutlichen Startvorteil für eine höhere Schulbildung. Das ist nicht nur für die Betroffenen ungerecht. Angesichts des Fachkräftemangels ist es aus wirtschaftlicher Sicht nicht wünschenswert, wenn dem universitären Bildungssystem kluge Köpfe abhandenkommen. Das Problem ist hinlänglich bekannt – nur über die Lösung streiten sich Bildungsexpertinnen und Politiker noch immer.

 

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