11. Oktober 2020

Hohes Mass an Chancenungleichheit

Es spielt keine Rolle, wie alt eine Studie ist, sie kommt immer zum selben Schluss: In der Schweiz ist die Chancengleichheit im Bildungssystem schwach entwickelt. Kinder von Akademikern besuchen doppelt so oft eine Kantonsschule oder ein Gymnasium wie Kinder von Eltern mit mittlerem und niedrigem Bildungsniveau.

Vor einer weiteren Bildungsreform sollten wir den überschätzten Wert der Bildung diskutieren, NZZaS, 11.10. von Tobias Straumann

Akademikerkinder haben zudem eine fünfmal höhere Chance, ein Universitätsstudium absolvieren zu können. Die Befunde der Statistik decken sich mit der Alltagserfahrung. Wer ins Gymnasium geht oder studiert, merkt bald, dass die meisten Kolleginnen und Kollegen aus gutsituierten Familien stammen.

Der Grund für die Chancenungleichheit ist kein Geheimnis. Kinder aus höheren Sozialschichten wachsen in einem Umfeld auf, in dem die Tugenden, die zum schulischen Erfolg führen, früh eingeübt werden. Es wird gelesen und diskutiert, Teile des schulischen Stoffs werden von den Eltern vermittelt, und die Kinder merken schnell, dass gute Noten wichtig sind, um im Leben Einkommen und Ansehen zu haben.

Irritierende Ungleichheit

Entsprechend wachsen diese Kinder mit dem Bewusstsein auf, dass sie für die höhere Bildung geeignet sind, und haben weniger Selbstzweifel, die auf ihre Leistungen durchschlagen können. Hat ein Kind aus gutsituiertem Hause Probleme in der Schule, werden seine Eltern umgehend aktiv und finanzieren Nachhilfe oder sogar den Besuch einer Privatschule.

Das hohe Mass an Chancenungleichheit ist irritierend, besonders in einem direktdemokratischen Land wie der Schweiz, das zu den europäischen Pionieren der kostenlosen Volksschule gehört und in dem die Studiengebühren der Universitäten im internationalen Vergleich gering sind.

Weil die Chancenungleichheit im Bildungssystem so eklatant ist, haben sich schon viele Gremien und Studiengruppen den Kopf darüber zerbrochen, welche Massnahmen Abhilfe schaffen könnten. Besonders grosse Unterstützung erhält dabei die Idee der frühkindlichen Förderung durch staatliche Institutionen. Beliebt ist auch die intensive Sprachförderung, insbesondere für Kinder mit Migrationshintergrund. Dann sollen natürlich auch die Lehrpersonen besonders sensibilisiert werden.

Vernünftige Vorschläge – bescheidene Wirkung

Und schliesslich gelte es die Übergänge zwischen den Schulstufen zu überdenken, denn dort mache sich die unterschiedliche Herkunft besonders bemerkbar. So solle sich zum Beispiel der Kanton Zürich überlegen, ob die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium die beste Selektionsvariante ist. Andere Kantone, die mit Abschlussprüfungen operieren, würden zeigen, dass es auch anders geht.

Diese Vorschläge klingen vernünftig. Aber sie werden kaum etwas ändern, wenn es stimmt, dass die Chancenungleichheit fundamentale familiäre Gründe hat. Auch die historische Erfahrung spricht dagegen, dass sich die Verhältnisse mit einigen Massnahmen verbessern lassen. Im Zuge einer grossen Bildungsoffensive, die in den 1960er Jahren begann, setzte sich die westdeutsche Regierung das Ziel, den Anteil von Arbeiterkindern mit akademischem Abschluss signifikant zu erhöhen. Vorübergehend gab es einige Erfolge zu vermelden, aber mittlerweile gehört auch Deutschland zu jenen Ländern, in welchen die Bedeutung der Herkunft für beruflichen Erfolg genauso hoch ist wie in anderen europäischen Ländern.

«Die Eliten finden immer neue Wege, um ihre Exklusivität abzusichern.»

Auch die bildungspolitische Ernüchterung, die sich seit einiger Zeit in den USA verbreitet, sollten wir zur Kenntnis nehmen. Die Demokratisierung des Hochschulzugangs nach dem Zweiten Weltkrieg hat dazu geführt, dass sich eine erbarmungslose Hierarchie unter den Hochschulen etabliert hat. Wer an der New Mexico State University einen exzellenten Masterabschluss gemacht hat, hat im Vergleich zu den Absolventen der Harvard University deutlich weniger Karrierechancen.

Ohne höhere Bildung ein Mängelwesen?

Mittlerweile sind auch die Studiengebühren der Eliteuniversitäten in astronomische Höhen geklettert. Wer das Werk des französischen Soziologen Pierre Bourdieu kennt, ist nicht überrascht. Eliten finden immer neue Wege, um ihre Exklusivität abzusichern.

Namhafte Intellektuelle wie zum Beispiel der Philosoph Michael Sandel fordern deshalb ein grundlegendes Umdenken in Bezug auf den Wert der Universitäten. Statt immer mehr Bildung für alle zu fordern und diejenigen, die keinen guten Bildungsabschluss haben, sozusagen als Mängelwesen zu bezeichnen, sollten die akademischen Eliten den Wert der nicht-akademischen Arbeit wieder höher schätzen.

Diesem Plädoyer kann ich nur beipflichten: Bevor wir in der Schweiz erneut eine Bildungsreform lancieren, bei der die Verfehlung der Ziele von Anfang an absehbar ist, wir darüber nachdenken, wie man es vermeidet, in die gleichen Fallen zu geraten wie die USA.

Tobias Straumann ist Wirtschaftshistoriker an der Universität Zürich.

 

1 Kommentar:

  1. Chancenungleichheit ist nicht in Stein gemeisselt

    (Vor einer weiteren Bildungsreform sollten wir den überschätzten Wert der Bildung diskutieren, NZZaS, 11.10.2020)

    Die Chancenungleichheit kann nicht vermindert werden, indem man die Bildungsanforderungen hinunter schraubt. Dass die Chancenungleichheit drastisch vermindert werden kann, hat die Schweiz schon einmal bewiesen. 1991 nahm die Schweiz zum ersten Mal an dem internationalen Test „International Assessment of Educational Progress (IAEP)“ in Mathematik und Naturwissenschaften mit grossen repräsentativen Stichproben von 13-jährigen Schülern teil. Der IAEP wurde von Schülerinnen und Schülern in rund zwanzig Ländern unter der Schirmherrschaft des US-Bildungsministeriums durchgeführt. Die Resultate der Schweizer Schüler lagen bei den höchsten Durchschnittswerten in Mathematik und Naturwissenschaften. Die Werte, die das niedrigste Zehntel aller Schweizer Schüler erreichte, lagen sehr weit vor dem entsprechenden Anteil der Schülerinnen und Schüler in Grossbritannien und allen anderen Ländern in dieser Umfrage. China, Korea und Taiwan hatten ähnliche Durchschnittswerte wie die Schweiz; aber für das unterste Zehntel der Schüler lag die Schweiz immer noch weit vorne (!). Warum schauen wir nicht, wie die Schweiz das damals fertig gebracht hat?

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