12. Oktober 2020

Verschlimmert Corona die Chancenungerechtigkeit?

Désirée Dettwiler erklärt den Kindern der Klasse 3a, was sie zu tun haben: «Du öffnest dein Buch auf Seite 140 und kreist die wichtigen Wörter ein.» Sie spricht deutlich, mit theatralischen Pausen und sieht jedem Kind mit grossen Augen ins Gesicht. Die starren gebannt zurück. Man spürt: Dettwiler hat Spass am Austausch mit den Schülern. Sie muss die Interaktion vermisst haben in den vergangenen Monaten. Es ist kaum ein Zufall, dass der Schuldirektor ausgerechnet die Klasse 3a der Primarschule Erlenmatt in Basel vorschlug, als man anfragte, ob man vor Ort nachsehen könne, wie die Schüler durch die Corona-Krise gekommen seien. 

"Ich habe die Hausaufgaben nicht gemacht", NZZ, 5.10. von Ruth Fulterer

In der Schweiz hängt die Bildung von Kindern sehr stark von jener ihrer Eltern ab. Dass ärmere Schüler schlechtere Chancen auf einen höheren Bildungsabschluss haben ist ungerecht und ökonomisch gesehen ineffizient, weil Potenziale verschenkt werden. In den vergangenen Monaten warnten Ökonomen immer wieder, dass die Schulschliessungen die Nachteile sozial schlechter gestellter Kinder noch verschlimmerten. Andere fanden diese Sorge übertrieben. Inzwischen ist das neue Schuljahr losgegangen, zugleich steigen die Fallzahlen. Gut möglich, dass einige Schulen erneut schliessen müssen. Ein guter Moment, der Frage nachzugehen, wie unterschiedlich die Zeit wirklich war und welche Folgen zu erwarten sind. 

«Anstrengend», sagt die 10-jährige Lena,* ein grossgewachsenes Mädchen mit braunem Pferdeschwanz. Auf die Frage, wie sie die Corona-Zeit erlebt habe, antwortet sie wie eine abgeklärte Managerin. Sie habe viel zu tun gehabt, zu den eigenen Hausaufgaben sei noch die Unterstützung ihrer Geschwister im Kindergartenalter gekommen: «Ich musste ihnen vorlesen, was sie zu tun hatten, zum Beispiel Seilspringen.» Manchmal trafen sich alle Kinder im Haus, um die Aufgaben zu machen. Danach ging es gemeinsam auf den Spielplatz. 

Für Fatmir,* einen blonden Buben mit Sommersprossen und Spitzbubengrinsen, war die Zeit «chillig». Er sei jeden Tag bis um Mitternacht wach geblieben und habe dann lange geschlafen. Nur die Hausaufgaben hätten sich schwierig angefühlt, und das, obwohl sie einfacher gewesen seien als in normalen Zeiten. Freimütig erzählt er, dass er sie für einige Wochen komplett vergessen hatte: «Ich habe sie nicht gemacht. Dann hab ich sie mit Frau Dettwiler erledigt. In der Schule, im Lehrerzimmer. Alles an einem Tag.» Fatmir ist einer jener Schüler, deren Leistung die Experten schon im Frühling beunruhigte. Bis zu ein Drittel der Schüler würden kaum Zeit für schulische Belange aufwenden, sagte damals Stephan Huber, Professor an der Pädagogischen Hochschule in Zug und Herausgeber des Bildungs-Barometers, das unter anderem rund 8000 Schüler in der Schweiz, Österreich und Deutschland befragt hat. Andere Studien hätten seine Erkenntnisse seither erhärtet, sagt er heute.

Finanzielle Langzeitfolgen

Viele Eltern machen sich Sorgen, besonders jene, deren Kinder in diesem Jahr in eine neue Schulstufe wechseln. Einige von ihnen haben ihre Kinder beispielsweise aus der sechsten Klasse abgemeldet, um sie zur besseren Vorbereitung auf die Sekundarstufe an eine private Schule zu schicken. Auf Anfrage bestätigen Privatschulen, dass das Interesse seit Corona gestiegen sei.

Auf Jugendliche, die jetzt die Schule abschliessen, wartet ein Arbeitsmarkt in der Rezession. Aus anderen Krisen weiss man, dass diese schlechteren Startbedingungen oft jahrelange Folgen nach sich ziehen. Noch schwieriger wird es für diese Generation, wenn Arbeitgeber argwöhnen, dass die Abschlüsse aus der Corona-Zeit weniger wert seien und den Kindern Bildungslücken blieben. Aber trifft das überhaupt zu? Ökonomen der Weltbank glauben: ja. Sie haben errechnet, dass Schulschliessungen das spätere Einkommen der betroffenen Kinder weltweit um 10 Bio. $ senken werden. Das Lebenseinkommen je Kind schrumpfe um rund 5%. Auf diesen Wert kommen die Ökonomen, indem sie simulieren, um wie viel eine Schulschliessung von fünf Monaten die Ergebnisse des Pisa-Leistungstests verschlechtert. Sie prognostizieren, dass mehr Kinder als früher die Mindestanforderungen nicht erreichen werden. 

Allerdings krankt die Studie daran, dass sie von geschlossenen Schulen ausgeht und nicht von Homeschooling. Das entspricht zwar der Realität in armen Ländern, aber die Annahme lässt sich nicht ohne weiteres auf Staaten wie die Schweiz übertragen. Hier wurde je nach Kanton repetiert oder sogar der übliche Stoff durchgenommen. 

Digitaler Unterricht mit Lücken 

In Basel-Stadt hätten Lehrer neuen Stoff durchgenommen, sagt Dettwiler, allerdings weniger als sonst. Sie selbst rief die Kinder einzeln an und produzierte wöchentliche Videos. Dettwiler erklärt darin die Arbeitsaufträge, neben ihr poppen diese schriftlich auf. «Das kurz und präzise zu machen, war gar nicht so einfach. Die Videos waren mehr Arbeit als der normale Unterricht», sagt sie.

Zumindest konnte sie, anders als ihre Kollegen, jedes Kind übers Internet erreichen. Allerdings nicht alle gleich gut. Während Lena sich beklagt, dass sie die Videos nicht immer rechtzeitig ansehen konnte, weil ihre Mutter als Lehrerin das Smartphone selbst brauchte und der Vater als Arzt meistens unterwegs war, hat Fatmir gar kein Video gesehen: «Die hat mein Vater angeschaut, am Wochenende nach der Arbeit», sagt er. Seine Eltern stammen aus Albanien. Der Vater arbeitet bei Syngenta, die Mutter in einem Restaurant. Sie war in Kurzarbeit. Fatmir teilt sich das Zimmer mit seinem kleinen Bruder. Der habe ihn bei den Aufgaben gestört, sagt er. 

Eine enge Wohnung, Migrationshintergrund: Bei Fatmir kommen einige Klischees zusammen. Doch Dettwiler warnt vor Denkschablonen. Sie selbst hat asiatische und italienische Wurzeln. In ihrer Klasse sprechen 13 von 17 Kindern kein Deutsch zu Hause. Weder dieser Aspekt noch die Frage, ob die Eltern «bildungsfern» sind, erklärt ihrer Erfahrung nach die Unterschiede zwischen den Kindern in der Corona-Zeit. Nicht einmal, ob sie sonst gute Schüler sind.

Das deckt sich mit der Einschätzung des Bildungsökonomen Stefan Wolter. Er hält die Prognose sich verschärfender sozioökonomischer Unterschiede unter Schulkindern für vereinfacht. Studien zu kompletten Schulausfällen findet er unpassend, deshalb bezieht er sich lieber auf solche, die untersuchen, was passiert, wenn in einem Fach Unterrichtsstunden gestrichen werden, etwa zwei statt drei Stunden Englisch bei gleichem Lehrplan: «Wir wissen, dass das die Leistungsunterschiede zwischen den Kindern verringert. Denn die traurige Wahrheit ist: Die schlechten Schüler hätten in der Schule sowieso nicht viel gelernt, die guten aber verpassen viel.»

In der Corona-Zeit zählten vor allem Selbstmotivation und die Fähigkeit, sich die Zeit einzuteilen. Das ist nicht gleichbedeutend wie gute Noten in der Schule. Fatmir beispielsweise ist in normalen Zeiten kein schlechter Schüler. Deutsch macht ihm Probleme, Mathe findet er dafür «bubileicht». Dettwiler weiss, dass er sich leicht ablenken lässt. Darauf kann sie im Unterricht eingehen. Die Zeiteinteilung in der Schule hilft ihm, sich zu konzentrieren; dass andere Kinder auch arbeiten, motiviert ihn. Als sich die Kinder an diesem Tag gegenseitig vorlesen, macht er selbstverständlich mit.

Kinder wie er waren in der Corona-Zeit darauf angewiesen, dass die Eltern zu Hause einen ähnlichen Rahmen boten, wie ihn sonst die Schule vorgibt. Doch nicht alle haben dafür die Kapazität. So gelangen soziale Unterschiede durch die Hintertür doch wieder in die Rechnung. Man kann zwar nicht generell von einer sich öffnenden Schere sprechen. Doch es ist wahrscheinlich, dass klassisch benachteiligte Kinder auch während der Corona-Krise besonders häufig leiden. Nachprüfen lässt sich das allerdings nicht. Zumindest nicht in der Schweiz. Dafür hat das Land zu selten an Leistungstests teilgenommen, es würde also in jeder Studie über die Zeit das «Vorher» fehlen. Die einzige internationale langfristige Vergleichsstudie Pisa wurde ironischerweise wegen Corona verschoben. Laut Wolter teilweise aus logistischen Gründen, aber auch weil kein Land in dieser Ausnahmesituation schlecht dastehen wollte. Der Wissenschaft macht das die Arbeit schwer. 

Nicht repräsentativ

Viele Untersuchungen, die derzeit durch die Medien geistern, sind streng genommen keine wissenschaftlichen Studien. Etwa die Umfrage zur Zeiteinteilung des deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung IFO oder das Schul-Barometer von Professor Huber. Denn wenn Befragte rückblickend einschätzen müssen, was ihre Routine vor Corona war, kann das Antworten verzerren. Ausserdem sind die Stichproben in diesen Fällen nicht repräsentativ. Das ist Huber bewusst: «Es ging darum, der Praxis zeitnah eine Einschätzung der Lage zu ermöglichen. Das Schul-Barometer ist ein Stimmungsbild. Als Frühwarnsignal ist es alarmierend, wenn herauskommt, dass Schüler, die unter Umständen sowieso schon benachteiligt sind, in dieser Zeit ‹abgehängt› waren oder ‹abhängen›, vor allem über längere Zeit.»

In der Primarschule Erlenmatt sieht man die Sache gelassener. In der Abschlussklasse gab es kein Zeugnis, für den Schulübertritt zählten die Noten des ersten Semesters. Wer sich verbessern wollte, durfte zu einem Test antreten. Nur eine Handvoll Kinder habe sich dafür entschieden. In den anderen Stufen gilt es nun, Inhalte nachzuholen und wieder alle Kinder mitzunehmen. Und die Klassen so gut wie möglich voneinander zu isolieren. Denn auf eine weitere Schulschliessung hat hier niemand Lust. Ausser Fatmir, der meint, das würde ihn nicht stören. 

* Namen der Kinder geändert.

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