Désirée Dettwiler erklärt den Kindern der Klasse 3a, was sie zu tun haben: «Du öffnest dein Buch auf Seite 140 und kreist die wichtigen Wörter ein.» Sie spricht deutlich, mit theatralischen Pausen und sieht jedem Kind mit grossen Augen ins Gesicht. Die starren gebannt zurück. Man spürt: Dettwiler hat Spass am Austausch mit den Schülern. Sie muss die Interaktion vermisst haben in den vergangenen Monaten. Es ist kaum ein Zufall, dass der Schuldirektor ausgerechnet die Klasse 3a der Primarschule Erlenmatt in Basel vorschlug, als man anfragte, ob man vor Ort nachsehen könne, wie die Schüler durch die Corona-Krise gekommen seien.
"Ich habe die Hausaufgaben nicht gemacht", NZZ, 5.10. von Ruth Fulterer
In der Schweiz hängt die Bildung von Kindern sehr stark von
jener ihrer Eltern ab. Dass ärmere Schüler schlechtere Chancen auf einen
höheren Bildungsabschluss haben ist ungerecht und ökonomisch gesehen
ineffizient, weil Potenziale verschenkt werden. In den vergangenen Monaten
warnten Ökonomen immer wieder, dass die Schulschliessungen die Nachteile sozial
schlechter gestellter Kinder noch verschlimmerten. Andere fanden diese Sorge
übertrieben. Inzwischen ist das neue Schuljahr losgegangen, zugleich steigen
die Fallzahlen. Gut möglich, dass einige Schulen erneut schliessen müssen. Ein
guter Moment, der Frage nachzugehen, wie unterschiedlich die Zeit wirklich war
und welche Folgen zu erwarten sind.
«Anstrengend», sagt die 10-jährige Lena,* ein
grossgewachsenes Mädchen mit braunem Pferdeschwanz. Auf die Frage, wie sie die
Corona-Zeit erlebt habe, antwortet sie wie eine abgeklärte Managerin. Sie habe
viel zu tun gehabt, zu den eigenen Hausaufgaben sei noch die Unterstützung ihrer
Geschwister im Kindergartenalter gekommen: «Ich musste ihnen vorlesen, was sie
zu tun hatten, zum Beispiel Seilspringen.» Manchmal trafen sich alle Kinder im
Haus, um die Aufgaben zu machen. Danach ging es gemeinsam auf den
Spielplatz.
Für Fatmir,* einen blonden Buben mit Sommersprossen und
Spitzbubengrinsen, war die Zeit «chillig». Er sei jeden Tag bis um Mitternacht
wach geblieben und habe dann lange geschlafen. Nur die Hausaufgaben hätten sich
schwierig angefühlt, und das, obwohl sie einfacher gewesen seien als in
normalen Zeiten. Freimütig erzählt er, dass er sie für einige Wochen komplett
vergessen hatte: «Ich habe sie nicht gemacht. Dann hab ich sie mit Frau
Dettwiler erledigt. In der Schule, im Lehrerzimmer. Alles an einem Tag.» Fatmir
ist einer jener Schüler, deren Leistung die Experten schon im Frühling
beunruhigte. Bis zu ein Drittel der Schüler würden kaum Zeit für schulische
Belange aufwenden, sagte damals Stephan Huber, Professor an der Pädagogischen
Hochschule in Zug und Herausgeber des Bildungs-Barometers, das unter anderem
rund 8000 Schüler in der Schweiz, Österreich und Deutschland befragt hat.
Andere Studien hätten seine Erkenntnisse seither erhärtet, sagt er heute.
Finanzielle Langzeitfolgen
Viele Eltern machen sich Sorgen, besonders jene, deren
Kinder in diesem Jahr in eine neue Schulstufe wechseln. Einige von ihnen haben
ihre Kinder beispielsweise aus der sechsten Klasse abgemeldet, um sie zur
besseren Vorbereitung auf die Sekundarstufe an eine private Schule zu schicken.
Auf Anfrage bestätigen Privatschulen, dass das Interesse seit Corona gestiegen
sei.
Auf Jugendliche, die jetzt die Schule abschliessen, wartet
ein Arbeitsmarkt in der Rezession. Aus anderen Krisen weiss man, dass diese
schlechteren Startbedingungen oft jahrelange Folgen nach sich ziehen. Noch
schwieriger wird es für diese Generation, wenn Arbeitgeber argwöhnen, dass die
Abschlüsse aus der Corona-Zeit weniger wert seien und den Kindern
Bildungslücken blieben. Aber trifft das überhaupt zu? Ökonomen der Weltbank
glauben: ja. Sie haben errechnet, dass Schulschliessungen das spätere Einkommen
der betroffenen Kinder weltweit um 10 Bio. $ senken werden. Das Lebenseinkommen
je Kind schrumpfe um rund 5%. Auf diesen Wert kommen die Ökonomen, indem sie
simulieren, um wie viel eine Schulschliessung von fünf Monaten die Ergebnisse
des Pisa-Leistungstests verschlechtert. Sie prognostizieren, dass mehr Kinder
als früher die Mindestanforderungen nicht erreichen werden.
Allerdings krankt die Studie daran, dass sie von
geschlossenen Schulen ausgeht und nicht von Homeschooling. Das entspricht zwar
der Realität in armen Ländern, aber die Annahme lässt sich nicht ohne weiteres
auf Staaten wie die Schweiz übertragen. Hier wurde je nach Kanton repetiert
oder sogar der übliche Stoff durchgenommen.
Digitaler Unterricht mit Lücken
In Basel-Stadt hätten Lehrer neuen Stoff durchgenommen, sagt
Dettwiler, allerdings weniger als sonst. Sie selbst rief die Kinder einzeln an
und produzierte wöchentliche Videos. Dettwiler erklärt darin die
Arbeitsaufträge, neben ihr poppen diese schriftlich auf. «Das kurz und präzise
zu machen, war gar nicht so einfach. Die Videos waren mehr Arbeit als der
normale Unterricht», sagt sie.
Zumindest konnte sie, anders als ihre Kollegen, jedes Kind
übers Internet erreichen. Allerdings nicht alle gleich gut. Während Lena sich
beklagt, dass sie die Videos nicht immer rechtzeitig ansehen konnte, weil ihre
Mutter als Lehrerin das Smartphone selbst brauchte und der Vater als Arzt
meistens unterwegs war, hat Fatmir gar kein Video gesehen: «Die hat mein Vater
angeschaut, am Wochenende nach der Arbeit», sagt er. Seine Eltern stammen aus
Albanien. Der Vater arbeitet bei Syngenta, die Mutter in einem Restaurant. Sie
war in Kurzarbeit. Fatmir teilt sich das Zimmer mit seinem kleinen Bruder. Der
habe ihn bei den Aufgaben gestört, sagt er.
Eine enge Wohnung, Migrationshintergrund: Bei Fatmir kommen
einige Klischees zusammen. Doch Dettwiler warnt vor Denkschablonen. Sie selbst
hat asiatische und italienische Wurzeln. In ihrer Klasse sprechen 13 von 17
Kindern kein Deutsch zu Hause. Weder dieser Aspekt noch die Frage, ob die
Eltern «bildungsfern» sind, erklärt ihrer Erfahrung nach die Unterschiede
zwischen den Kindern in der Corona-Zeit. Nicht einmal, ob sie sonst gute
Schüler sind.
Das deckt sich mit der Einschätzung des Bildungsökonomen
Stefan Wolter. Er hält die Prognose sich verschärfender sozioökonomischer
Unterschiede unter Schulkindern für vereinfacht. Studien zu kompletten
Schulausfällen findet er unpassend, deshalb bezieht er sich lieber auf solche,
die untersuchen, was passiert, wenn in einem Fach Unterrichtsstunden gestrichen
werden, etwa zwei statt drei Stunden Englisch bei gleichem Lehrplan: «Wir
wissen, dass das die Leistungsunterschiede zwischen den Kindern verringert.
Denn die traurige Wahrheit ist: Die schlechten Schüler hätten in der Schule
sowieso nicht viel gelernt, die guten aber verpassen viel.»
In der Corona-Zeit zählten vor allem Selbstmotivation und
die Fähigkeit, sich die Zeit einzuteilen. Das ist nicht gleichbedeutend wie
gute Noten in der Schule. Fatmir beispielsweise ist in normalen Zeiten kein
schlechter Schüler. Deutsch macht ihm Probleme, Mathe findet er dafür
«bubileicht». Dettwiler weiss, dass er sich leicht ablenken lässt. Darauf kann
sie im Unterricht eingehen. Die Zeiteinteilung in der Schule hilft ihm, sich zu
konzentrieren; dass andere Kinder auch arbeiten, motiviert ihn. Als sich die
Kinder an diesem Tag gegenseitig vorlesen, macht er selbstverständlich mit.
Kinder wie er waren in der Corona-Zeit darauf angewiesen,
dass die Eltern zu Hause einen ähnlichen Rahmen boten, wie ihn sonst die Schule
vorgibt. Doch nicht alle haben dafür die Kapazität. So gelangen soziale
Unterschiede durch die Hintertür doch wieder in die Rechnung. Man kann zwar
nicht generell von einer sich öffnenden Schere sprechen. Doch es ist
wahrscheinlich, dass klassisch benachteiligte Kinder auch während der
Corona-Krise besonders häufig leiden. Nachprüfen lässt sich das allerdings
nicht. Zumindest nicht in der Schweiz. Dafür hat das Land zu selten an
Leistungstests teilgenommen, es würde also in jeder Studie über die Zeit das
«Vorher» fehlen. Die einzige internationale langfristige Vergleichsstudie Pisa
wurde ironischerweise wegen Corona verschoben. Laut Wolter teilweise aus
logistischen Gründen, aber auch weil kein Land in dieser Ausnahmesituation
schlecht dastehen wollte. Der Wissenschaft macht das die Arbeit schwer.
Nicht repräsentativ
Viele Untersuchungen, die derzeit durch die Medien geistern,
sind streng genommen keine wissenschaftlichen Studien. Etwa die Umfrage zur
Zeiteinteilung des deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung IFO oder das
Schul-Barometer von Professor Huber. Denn wenn Befragte rückblickend
einschätzen müssen, was ihre Routine vor Corona war, kann das Antworten
verzerren. Ausserdem sind die Stichproben in diesen Fällen nicht repräsentativ.
Das ist Huber bewusst: «Es ging darum, der Praxis zeitnah eine Einschätzung der
Lage zu ermöglichen. Das Schul-Barometer ist ein Stimmungsbild. Als
Frühwarnsignal ist es alarmierend, wenn herauskommt, dass Schüler, die unter
Umständen sowieso schon benachteiligt sind, in dieser Zeit ‹abgehängt› waren
oder ‹abhängen›, vor allem über längere Zeit.»
In der Primarschule Erlenmatt sieht man die Sache
gelassener. In der Abschlussklasse gab es kein Zeugnis, für den Schulübertritt
zählten die Noten des ersten Semesters. Wer sich verbessern wollte, durfte zu
einem Test antreten. Nur eine Handvoll Kinder habe sich dafür entschieden. In
den anderen Stufen gilt es nun, Inhalte nachzuholen und wieder alle Kinder
mitzunehmen. Und die Klassen so gut wie möglich voneinander zu isolieren. Denn
auf eine weitere Schulschliessung hat hier niemand Lust. Ausser Fatmir, der
meint, das würde ihn nicht stören.
* Namen der Kinder geändert.
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