Frau
Steiner, was war in den vergangenen Wochen für Sie als Präsidentin der
Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) und Zürcher
Bildungsdirektorin die grösste Herausforderung?
Silvia Steiner: Die grösste Schwierigkeit liegt darin, dass wir
sehr wenig über das neue Coronavirus wissen. Ausserdem widersprechen sich die
Experten in verschiedenen Fragen. So ist immer noch nicht klar, wie stark die
Kinder durch das neue Coronavirus gefährdet sind. Das erschwert den Schulstart
enorm. Unter diesen Voraussetzungen müssen wir innert weniger Tage die Vorgaben
umsetzen, die uns der Bundesrat aus gesundheitspolitischer Sicht macht.
"Es ist alles andere als sicher, ob die Gymnasien am 8. Juni wieder aufgehen", NZZ, 6.5. von Erich Aschwanden und Nils Pfändler
Dabei haben Sie so ziemlich alles falsch gemacht, zumindest wenn man SP, FDP,
SVP, GLP und AL glauben darf. Überrascht Sie die heftige Attacke?
Nein, die überrascht mich nicht. Das Parlament war in den letzten
Wochen nicht in die Erarbeitung der Lösungen eingebunden. Da ist es
wahrscheinlich schwierig, alles nachzuvollziehen. Unsere Lösung haben wir mit
unseren Fachleuten abgesprochen, den Verbänden der Schulleitenden, der
Lehrpersonen, der Schulpräsidien, wir haben Rücksprache genommen mit den
grossen Städten. Die Lehrerverbände stehen hinter der Lösung. Das sind meine
Fachleute vor Ort. Sie beurteilen, was in den Schulen machbar ist.
Als
Fehlentscheid bezeichnet die breitgefächerte Allianz vor allem den
Halbklassenunterricht, den neben Zürich auch Bern und St. Gallen in der
Volksschule einführen werden.
Wir stecken im Dilemma zwischen den gesundheitspolitischen
Vorgaben und dem, was pädagogisch am sinnvollsten ist. Wie andere Kantone auch
haben wir uns ganz bewusst für kleinere Klassen entschieden. Oberste Priorität
hat für uns, dass alle Kinder und Lehrpersonen sicher sind und dass wir die
Kinder pädagogisch gut abholen können und allfällige Lücken, die sich im
Fernunterricht ergeben haben, schnell schliessen. Der Halbklassenunterricht
erlaubt es uns, diese Ziele besser zu erreichen und auch dafür zu sorgen, dass
die Hygienevorschriften eingehalten werden können.
Das ist
sehr aufwendig. Kann am 11. Mai der Unterricht überall beginnen?
Tatsächlich sind die Schulleitungen mit der Zürcher Lösung sehr
stark gefordert. Es wäre organisatorisch einfacher gewesen, schnell zum
normalen Schulbetrieb zurückzukehren. Ich rechne zudem damit, dass wir relativ
viele Lehrerinnen und Lehrer ersetzen müssen, die zu den vulnerablen Personen
gehören. Doch ich bin optimistisch, dass wir es trotzdem schaffen. Wenn dies
nicht an allen Orten am ersten Tag möglich sein wird, so doch am zweiten.
Doch haben die Eltern nach dem Hickhack um das Infektionsrisiko für Kinder
überhaupt genügend Vertrauen, um ihr Kind am kommenden Montag wieder in die
Schule zu schicken?
Es gibt einerseits Eltern, die sich beklagen, dass der
Halbklassenunterricht keine Lösung sei, weil sie ihre Kinder immer noch
teilweise betreuen müssten. Andererseits gibt es Eltern, die Angst haben um
ihre Kinder. Sie halten es für verantwortungslos, dass wir die Schulen
überhaupt wieder öffnen.
Machen es
sich viele andere Kantone zu leicht und schützen ihre Schüler zu wenig, wenn
sie sofort zu einem weitgehend normalen Unterricht zurückkehren?
Jeder Bildungsdirektor kennt die Situation in seinem Kanton am
besten und muss auf die lokalen Gegebenheiten Rücksicht nehmen. Es ist durchaus
sinnvoll, wenn der Kanton Tessin zum Vollbetrieb zurückkehrt. Dort werden
praktisch alle Kinder mit einem Schulbus transportiert. Bei uns hingegen gehen
die meisten Kinder über Mittag nach Hause und bewegen sich in der
Öffentlichkeit. Dies widerspricht der Absicht des Bundes, dass sich die
Bevölkerungsgruppen möglichst wenig durchmischen sollen.
Doch so
richtig glücklich scheint mit der teilweisen Schulöffnung am 11. Mai niemand zu
sein.
Es gibt zurzeit keine Lösung, die alle glücklich macht. Ich bin
froh, dass viele Kinder zu einem mehr oder weniger normalen Unterricht
zurückkehren dürfen. Damit können sie ihr Recht auf Bildung wieder wahrnehmen.
Die wirtschaftlichen Aspekte gilt es immer zu berücksichtigen, aber sie stehen
bei der Frage der Schulöffnung nicht im Vordergrund. Und es ist ja auch nicht
so, dass in Sachen Betreuung nichts geht. So will die Stadt Zürich die Zahl der
Betreuungsplätze von 300 auf 4000 erhöhen.
Doch in vielen Gemeinden sieht es in dieser Hinsicht düster aus.
Das lässt sich nicht leugnen. In Sachen Betreuung gibt es noch
viel zu optimieren. Das hat die Corona-Krise klar aufgezeigt. Doch mitten in
der Krise ist es der falsche Zeitpunkt, um Maximalforderungen zu stellen und
zentralistische Ansätze durchzusetzen.
Wo sehen
Sie aufgrund der Corona-Krise neben der Betreuungssituation ausserdem
Handlungsbedarf?
Die letzten Wochen glichen einem grossen Feldversuch, bei dem wir
gesehen haben, dass in der Digitalisierung eine grosse Chance steckt.
Gleichzeitig wurde aber auch klar, dass die Digitalisierung im Schulunterricht
klare Grenzen hat. Diese Erkenntnisse müssen wir analysieren und die nötigen
Schlüsse daraus ziehen. Aber nicht jetzt, mitten in der Krise.
Der
Fernunterricht hat doch nach anfänglichen Schwierigkeiten recht gut
funktioniert?
Ich war positiv überrascht, wie schnell die Kinder in den
Fernunterricht eingebunden wurden. Das war ein riesiger «Hosenlupf» für die
Lehrpersonen. Digitalisierung heisst ja nicht, dass man den normalen Unterricht
einfach über digitale Kanäle verbreitet. Das Gespräch eins zu eins ist durch
nichts zu ersetzen.
Das klingt eher kritisch. Wo hat die Digitalisierung tatsächlich etwas
gebracht?
Auf der Sekundarstufe II hat die Digitalisierung dazu geführt,
dass die Schülerinnen und Schüler durch die Lehrpersonen nicht mehr gleich eng
geführt werden konnten. Die Schüler erhielten Aufträge und musste diese
erledigen, sie hatten mehr Freiräume, und die Lehrpersonen haben ihnen auch das
Vertrauen geben, sich selbständig zu organisieren. Es war für mich frappant,
wie die Gymnasiastinnen und Gymnasiasten das autonome Arbeiten
verantwortungsvoll genutzt haben. Einen Anteil an selbständigem Arbeiten müssen
wir unbedingt beibehalten, nicht zuletzt im Hinblick auf das künftige Studium.
Bis es
zurück ins Gymnasium geht, dauert es aber noch mindestens bis am 8. Juni.
Das ist leider so. Auch die Schüler der oberen Schulstufen leiden
darunter, dass sie ihre Kolleginnen und Kollegen während Wochen nicht mehr
sehen können. Immerhin konnte ich beim Bundesrat erreichen, dass wir auf der
Sekundarstufe II und allen anderen Bildungsinstitutionen Präsenzveranstaltungen
bis zu fünf Personen durchführen können. Diese Möglichkeit sollen die Gymis nun
auch tatsächlich nutzen.
Die
grosse Befürchtung war, dass Kinder aus bildungsfernen Familien einen Rückschlag
erleben werden, wenn sie die Unterstützung durch die Lehrpersonen im
Klassenzimmer nicht mehr haben.
Es ist noch zu früh, um zu beurteilen, ob dies tatsächlich so ist.
Doch diese Schere existiert auch in Zeiten mit normalem Unterricht. Wir haben
eine Zwei-Klassen-Bildungsgesellschaft. Das haben nun auch Politiker erkannt,
die sich bisher wenig um diese Probleme gekümmert haben. Sie machen sich
Sorgen, und das zu Recht. Die benachteiligten Kinder sind in einem Setting mit
Fernunterricht sicher nicht so gut aufgehoben wie im Präsenzunterricht. Deshalb
bin ich froh, dass wir die Schule nun stufenweise hochfahren. Bei kleineren
Gruppen können Lehrerinnen und Lehrer besser hinschauen, wo Mankos bestehen und
Schüler individuell gefördert werden müssen.
Womit wir wieder beim Halbklassenunterricht wären. Nicht nur dafür mussten Sie
Kritik einstecken. Die fünf Parteien bezeichnen es als krasses Politversagen,
dass es der EDK nicht gelungen ist, eine schweizweit einheitliche Lösung bei
den Maturitätsprüfungen zu finden.
Bei der Matura hätte ich mir auch eine einheitliche Lösung
gewünscht.
Wieso ist
das nicht gelungen?
Bei der Maturafrage zeigte sich ein klarer Röstigraben. Diejenigen
Kantone, die von der Corona-Krise nicht so stark betroffen sind, haben eine
andere Einstellung gegenüber der Prüfung, weil sie nicht so unter Druck stehen
und aufgrund ihrer Grösse leicht Prüfungen durchführen können. Auf der anderen
Seite hätte ein Kanton wie das Tessin die Prüfung niemals durchführen können.
Es herrschte innerhalb der EDK aber Einigkeit, dass es in Bezug auf den
Bildungserfolg und die Studierfähigkeit keinen Unterschied macht, ob die
Prüfung stattfindet oder nicht.
Können
Sie es verstehen, dass breite Kreise enttäuscht sind, dass die Maturandinnen
und Maturanden des Jahrgangs 2020 keine Abschlussprüfung ablegen müssen?
Es beelendet mich ein wenig, dass man den Maturandinnen und
Maturanden noch um jeden Preis die Schlussprüfungen abringen will. Weite Teile
der Öffentlichkeit sehen leichtfertig darüber hinweg, dass die Situation für
die jungen Leute in den vergangenen Wochen alles andere als leicht war.
Diskutiert und beklagt wurde stattdessen vor allem, dass die Erwachsenen nicht
mehr ins Restaurant gehen können. Dabei geht vergessen, dass das Recht der
Jugend auf Bildung eingeschränkt wurde.
So wichtig scheint die Maturitätsprüfung also nicht zu sein. Warum soll sie
denn in Zukunft überhaupt noch stattfinden?
Diese Frage stellen sich Bildungsspezialisten schon seit längerem.
Seit der Bologna-Reform gibt es an den Universitäten andere Prüfungssysteme. Es
ist fraglich, ob der Stresstest am Ende des Gymnasiums pädagogisch so wertvoll
ist, wie immer behauptet wird. Ich bin der Meinung, dass die Art der Prüfung
überdacht werden sollte. Diese Frage muss man aber nach der Krise beantworten.
Dafür ist jetzt der falsche Zeitpunkt.
Auch bei
den Zeugnisnoten hat der Kanton Zürich einen Sonderweg gewählt. Er verzichtet
diesen Sommer darauf, die Schüler zu bewerten. Warum?
Wir können nicht garantieren, dass alle Kinder im Fernunterricht
zu Hause die gleichen Lernvoraussetzungen gehabt haben. Wenn sie die Schule
besuchen, ist das der Fall, und dann ist auch die Leistungsmessung
vergleichbar. Einige Lehrpersonen hätten wegen der verkürzten Beurteilungszeit
zudem Mühe gehabt, faire Noten zu setzen.
Wäre es
nicht besser gewesen, in dieser Frage eine einheitliche Lösung für alle Kantone
zu finden?
Manche verteufeln jetzt den Föderalismus. Aber in drei Jahren
weiss kein Mensch mehr, ob die Kinder in diesem Semester Zeugnisnoten hatten
oder nicht. Wichtig ist, dass sie die harmonisierten Lernziele erreichen. Wie
das gemacht wird, muss jeder Kanton selbst entscheiden. Entscheidend ist, dass
die Eltern das Vertrauen in die Volksschule nicht verlieren.
Aber dieses Vertrauen leidet doch, wenn die Situation in jedem Kanton
verschieden ist.
Krankenkassenprämien oder Steuersätze unterscheiden sich auch. Das
sind Auswirkungen des Föderalismus. In der Diskussion um die Schulöffnung wird
der Bildungsauftrag häufig mit der Betreuungsfrage vermischt. Dabei sind die
Unterschiede zwischen den Kantonen gar nicht so gross. Es kommt nicht so darauf
an, ob ein Kind nun wieder 28 oder nur 14 Stunden in die Schule geht.
Entscheidend ist, dass es die Lernziele erreicht.
Während
andere Kantone Maturaprüfungen durchführen und Zeugnisse ausstellen, geht
Zürich einen anderen Weg. Wo setzen Sie die Schwerpunkte für die kommenden
Wochen?
Die Lehrpersonen sollten die methodischen und didaktischen
Erfahrungen, die sie nun mit der Fernunterricht und der Digitalisierung gemacht
haben, aufarbeiten und sich um die nächsten Jahrgänge kümmern. Denn es ist
alles andere als sicher, ob die Gymnasien am 8. Juni wieder aufgehen.
Warum
nicht? Eigentlich rechnen doch alle mit diesem weiteren Öffnungsschritt.
Es könnte eine zweite Welle von Infektionen mit dem Coronavirus
geben. Oder der Bundesrat macht beim Schutzkonzept für die älteren Schüler strengere
Auflagen in Bezug auf die Distanz. Wenn zum Beispiel pro Person zehn
Quadratmeter und zwei Meter Abstand verlangt werden, sind das fünf Schüler pro
Klassenzimmer. Dann kann man die Gymnasien gar nicht öffnen.
Wäre es nicht sinnvoller, auf Sekundarstufe II den Unterricht erst nach den
Sommerferien wieder aufzunehmen?
Nein, ich möchte nicht bis zu den Sommerferien warten. Auch wenn
der Fernunterricht gut funktioniert, haben die jungen Leute das Anrecht, einen
Schritt in den Alltag zu machen. Wir haben aktuell mit einer grossen
Unsicherheit zu kämpfen: der Entwicklung der Infektionsrate. Sie hängt wie ein
Damoklesschwert über uns. Wenn sich die Lage positiv entwickelt, können wir den
Schulbetrieb wieder hochfahren. Wenn dies nicht der Fall ist, wird es extrem
schwierig.
Was für
eine Rolle spielt die EDK bei dem Entscheid, wie es mit der Öffnung der Schulen
weitergeht?
Wir sind sehr eng eingebunden, bei pädagogischen und
organisatorischen Fragen. Die EDK hat sich stets auf den Standpunkt gestellt,
dass sie sich nicht auf gesundheitswissenschaftliche Fragestellungen einlässt.
Diese Verantwortung liegt beim Bund.
Führt das
zu Schwierigkeiten?
Ein grosses Problem ist, dass ich das Parlament nicht mit
einbeziehen kann. Deshalb herrscht wohl im Kantonsrat eine grosse
Unzufriedenheit. Die Parlamente wollen ihre Verantwortung wahrnehmen. Aber die
gegenwärtige Krise hat sowohl im Bund als auch in den anderen Kantonen gezeigt,
dass dies während der Krise nur sehr beschränkt möglich ist. Die Situation
ändert sich von Stunde zu Stunde. Ich könnte den Kantonsrat nicht einmal mit
allen nötigen Informationen auf dem neuesten Stand halten. So läuft das in
einer Krise. Wir sind seit Wochen nur am Reagieren und müssen oft innert sehr
kurzer Zeit Entscheide fällen.
Glauben Sie, dass das nächste Schuljahr ohne grössere Einschränkungen beginnen
kann?
Wenn die Infektionsrate nicht steigt, glaube ich, dass wir spätestens nach den Sommerferien wieder Normalbetrieb in den Schulen haben werden. Noch optimistischer wäre, dass wir den Betrieb bereits am 8. Juni wieder hochfahren können. Aber das hängt von ganz vielen verschiedenen Faktoren ab. Die Schule ist nicht der Treiber dieser Pandemie, sondern das Freizeitverhalten der Schweizerinnen und Schweizer. Hier stelle ich bereits eine gewisse Sorglosigkeit fest.
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