6. Mai 2020

Steiner verteidigt Halbklassenunterricht und stellt Sinn der Maturaprüfungen infrage

Frau Steiner, was war in den vergangenen Wochen für Sie als Präsidentin der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) und Zürcher Bildungsdirektorin die grösste Herausforderung?

Silvia Steiner: Die grösste Schwierigkeit liegt darin, dass wir sehr wenig über das neue Coronavirus wissen. Ausserdem widersprechen sich die Experten in verschiedenen Fragen. So ist immer noch nicht klar, wie stark die Kinder durch das neue Coronavirus gefährdet sind. Das erschwert den Schulstart enorm. Unter diesen Voraussetzungen müssen wir innert weniger Tage die Vorgaben umsetzen, die uns der Bundesrat aus gesundheitspolitischer Sicht macht.

"Es ist alles andere als sicher, ob die Gymnasien am 8. Juni wieder aufgehen", NZZ, 6.5. von Erich Aschwanden und Nils Pfändler


Dabei haben Sie so ziemlich alles falsch gemacht, zumindest wenn man SP, FDP, SVP, GLP und AL glauben darf. Überrascht Sie die heftige Attacke?

Nein, die überrascht mich nicht. Das Parlament war in den letzten Wochen nicht in die Erarbeitung der Lösungen eingebunden. Da ist es wahrscheinlich schwierig, alles nachzuvollziehen. Unsere Lösung haben wir mit unseren Fachleuten abgesprochen, den Verbänden der Schulleitenden, der Lehrpersonen, der Schulpräsidien, wir haben Rücksprache genommen mit den grossen Städten. Die Lehrerverbände stehen hinter der Lösung. Das sind meine Fachleute vor Ort. Sie beurteilen, was in den Schulen machbar ist.


Als Fehlentscheid bezeichnet die breitgefächerte Allianz vor allem den Halbklassenunterricht, den neben Zürich auch Bern und St. Gallen in der Volksschule einführen werden.

Wir stecken im Dilemma zwischen den gesundheitspolitischen Vorgaben und dem, was pädagogisch am sinnvollsten ist. Wie andere Kantone auch haben wir uns ganz bewusst für kleinere Klassen entschieden. Oberste Priorität hat für uns, dass alle Kinder und Lehrpersonen sicher sind und dass wir die Kinder pädagogisch gut abholen können und allfällige Lücken, die sich im Fernunterricht ergeben haben, schnell schliessen. Der Halbklassenunterricht erlaubt es uns, diese Ziele besser zu erreichen und auch dafür zu sorgen, dass die Hygienevorschriften eingehalten werden können.


Das ist sehr aufwendig. Kann am 11. Mai der Unterricht überall beginnen?

Tatsächlich sind die Schulleitungen mit der Zürcher Lösung sehr stark gefordert. Es wäre organisatorisch einfacher gewesen, schnell zum normalen Schulbetrieb zurückzukehren. Ich rechne zudem damit, dass wir relativ viele Lehrerinnen und Lehrer ersetzen müssen, die zu den vulnerablen Personen gehören. Doch ich bin optimistisch, dass wir es trotzdem schaffen. Wenn dies nicht an allen Orten am ersten Tag möglich sein wird, so doch am zweiten.


Doch haben die Eltern nach dem Hickhack um das Infektionsrisiko für Kinder überhaupt genügend Vertrauen, um ihr Kind am kommenden Montag wieder in die Schule zu schicken?

Es gibt einerseits Eltern, die sich beklagen, dass der Halbklassenunterricht keine Lösung sei, weil sie ihre Kinder immer noch teilweise betreuen müssten. Andererseits gibt es Eltern, die Angst haben um ihre Kinder. Sie halten es für verantwortungslos, dass wir die Schulen überhaupt wieder öffnen.


Machen es sich viele andere Kantone zu leicht und schützen ihre Schüler zu wenig, wenn sie sofort zu einem weitgehend normalen Unterricht zurückkehren?

Jeder Bildungsdirektor kennt die Situation in seinem Kanton am besten und muss auf die lokalen Gegebenheiten Rücksicht nehmen. Es ist durchaus sinnvoll, wenn der Kanton Tessin zum Vollbetrieb zurückkehrt. Dort werden praktisch alle Kinder mit einem Schulbus transportiert. Bei uns hingegen gehen die meisten Kinder über Mittag nach Hause und bewegen sich in der Öffentlichkeit. Dies widerspricht der Absicht des Bundes, dass sich die Bevölkerungsgruppen möglichst wenig durchmischen sollen.


Doch so richtig glücklich scheint mit der teilweisen Schulöffnung am 11. Mai niemand zu sein.

Es gibt zurzeit keine Lösung, die alle glücklich macht. Ich bin froh, dass viele Kinder zu einem mehr oder weniger normalen Unterricht zurückkehren dürfen. Damit können sie ihr Recht auf Bildung wieder wahrnehmen. Die wirtschaftlichen Aspekte gilt es immer zu berücksichtigen, aber sie stehen bei der Frage der Schulöffnung nicht im Vordergrund. Und es ist ja auch nicht so, dass in Sachen Betreuung nichts geht. So will die Stadt Zürich die Zahl der Betreuungsplätze von 300 auf 4000 erhöhen.


Doch in vielen Gemeinden sieht es in dieser Hinsicht düster aus.

Das lässt sich nicht leugnen. In Sachen Betreuung gibt es noch viel zu optimieren. Das hat die Corona-Krise klar aufgezeigt. Doch mitten in der Krise ist es der falsche Zeitpunkt, um Maximalforderungen zu stellen und zentralistische Ansätze durchzusetzen.


Wo sehen Sie aufgrund der Corona-Krise neben der Betreuungssituation ausserdem Handlungsbedarf?

Die letzten Wochen glichen einem grossen Feldversuch, bei dem wir gesehen haben, dass in der Digitalisierung eine grosse Chance steckt. Gleichzeitig wurde aber auch klar, dass die Digitalisierung im Schulunterricht klare Grenzen hat. Diese Erkenntnisse müssen wir analysieren und die nötigen Schlüsse daraus ziehen. Aber nicht jetzt, mitten in der Krise.


Der Fernunterricht hat doch nach anfänglichen Schwierigkeiten recht gut funktioniert?

Ich war positiv überrascht, wie schnell die Kinder in den Fernunterricht eingebunden wurden. Das war ein riesiger «Hosenlupf» für die Lehrpersonen. Digitalisierung heisst ja nicht, dass man den normalen Unterricht einfach über digitale Kanäle verbreitet. Das Gespräch eins zu eins ist durch nichts zu ersetzen.


Das klingt eher kritisch. Wo hat die Digitalisierung tatsächlich etwas gebracht?

Auf der Sekundarstufe II hat die Digitalisierung dazu geführt, dass die Schülerinnen und Schüler durch die Lehrpersonen nicht mehr gleich eng geführt werden konnten. Die Schüler erhielten Aufträge und musste diese erledigen, sie hatten mehr Freiräume, und die Lehrpersonen haben ihnen auch das Vertrauen geben, sich selbständig zu organisieren. Es war für mich frappant, wie die Gymnasiastinnen und Gymnasiasten das autonome Arbeiten verantwortungsvoll genutzt haben. Einen Anteil an selbständigem Arbeiten müssen wir unbedingt beibehalten, nicht zuletzt im Hinblick auf das künftige Studium.


Bis es zurück ins Gymnasium geht, dauert es aber noch mindestens bis am 8. Juni.

Das ist leider so. Auch die Schüler der oberen Schulstufen leiden darunter, dass sie ihre Kolleginnen und Kollegen während Wochen nicht mehr sehen können. Immerhin konnte ich beim Bundesrat erreichen, dass wir auf der Sekundarstufe II und allen anderen Bildungsinstitutionen Präsenzveranstaltungen bis zu fünf Personen durchführen können. Diese Möglichkeit sollen die Gymis nun auch tatsächlich nutzen.


Die grosse Befürchtung war, dass Kinder aus bildungsfernen Familien einen Rückschlag erleben werden, wenn sie die Unterstützung durch die Lehrpersonen im Klassenzimmer nicht mehr haben.

Es ist noch zu früh, um zu beurteilen, ob dies tatsächlich so ist. Doch diese Schere existiert auch in Zeiten mit normalem Unterricht. Wir haben eine Zwei-Klassen-Bildungsgesellschaft. Das haben nun auch Politiker erkannt, die sich bisher wenig um diese Probleme gekümmert haben. Sie machen sich Sorgen, und das zu Recht. Die benachteiligten Kinder sind in einem Setting mit Fernunterricht sicher nicht so gut aufgehoben wie im Präsenzunterricht. Deshalb bin ich froh, dass wir die Schule nun stufenweise hochfahren. Bei kleineren Gruppen können Lehrerinnen und Lehrer besser hinschauen, wo Mankos bestehen und Schüler individuell gefördert werden müssen.


Womit wir wieder beim Halbklassenunterricht wären. Nicht nur dafür mussten Sie Kritik einstecken. Die fünf Parteien bezeichnen es als krasses Politversagen, dass es der EDK nicht gelungen ist, eine schweizweit einheitliche Lösung bei den Maturitätsprüfungen zu finden.

Bei der Matura hätte ich mir auch eine einheitliche Lösung gewünscht.


Wieso ist das nicht gelungen?

Bei der Maturafrage zeigte sich ein klarer Röstigraben. Diejenigen Kantone, die von der Corona-Krise nicht so stark betroffen sind, haben eine andere Einstellung gegenüber der Prüfung, weil sie nicht so unter Druck stehen und aufgrund ihrer Grösse leicht Prüfungen durchführen können. Auf der anderen Seite hätte ein Kanton wie das Tessin die Prüfung niemals durchführen können. Es herrschte innerhalb der EDK aber Einigkeit, dass es in Bezug auf den Bildungserfolg und die Studierfähigkeit keinen Unterschied macht, ob die Prüfung stattfindet oder nicht.


Können Sie es verstehen, dass breite Kreise enttäuscht sind, dass die Maturandinnen und Maturanden des Jahrgangs 2020 keine Abschlussprüfung ablegen müssen?

Es beelendet mich ein wenig, dass man den Maturandinnen und Maturanden noch um jeden Preis die Schlussprüfungen abringen will. Weite Teile der Öffentlichkeit sehen leichtfertig darüber hinweg, dass die Situation für die jungen Leute in den vergangenen Wochen alles andere als leicht war. Diskutiert und beklagt wurde stattdessen vor allem, dass die Erwachsenen nicht mehr ins Restaurant gehen können. Dabei geht vergessen, dass das Recht der Jugend auf Bildung eingeschränkt wurde.


So wichtig scheint die Maturitätsprüfung also nicht zu sein. Warum soll sie denn in Zukunft überhaupt noch stattfinden?

Diese Frage stellen sich Bildungsspezialisten schon seit längerem. Seit der Bologna-Reform gibt es an den Universitäten andere Prüfungssysteme. Es ist fraglich, ob der Stresstest am Ende des Gymnasiums pädagogisch so wertvoll ist, wie immer behauptet wird. Ich bin der Meinung, dass die Art der Prüfung überdacht werden sollte. Diese Frage muss man aber nach der Krise beantworten. Dafür ist jetzt der falsche Zeitpunkt.


Auch bei den Zeugnisnoten hat der Kanton Zürich einen Sonderweg gewählt. Er verzichtet diesen Sommer darauf, die Schüler zu bewerten. Warum?

Wir können nicht garantieren, dass alle Kinder im Fernunterricht zu Hause die gleichen Lernvoraussetzungen gehabt haben. Wenn sie die Schule besuchen, ist das der Fall, und dann ist auch die Leistungsmessung vergleichbar. Einige Lehrpersonen hätten wegen der verkürzten Beurteilungszeit zudem Mühe gehabt, faire Noten zu setzen.


Wäre es nicht besser gewesen, in dieser Frage eine einheitliche Lösung für alle Kantone zu finden?

Manche verteufeln jetzt den Föderalismus. Aber in drei Jahren weiss kein Mensch mehr, ob die Kinder in diesem Semester Zeugnisnoten hatten oder nicht. Wichtig ist, dass sie die harmonisierten Lernziele erreichen. Wie das gemacht wird, muss jeder Kanton selbst entscheiden. Entscheidend ist, dass die Eltern das Vertrauen in die Volksschule nicht verlieren.


Aber dieses Vertrauen leidet doch, wenn die Situation in jedem Kanton verschieden ist.

Krankenkassenprämien oder Steuersätze unterscheiden sich auch. Das sind Auswirkungen des Föderalismus. In der Diskussion um die Schulöffnung wird der Bildungsauftrag häufig mit der Betreuungsfrage vermischt. Dabei sind die Unterschiede zwischen den Kantonen gar nicht so gross. Es kommt nicht so darauf an, ob ein Kind nun wieder 28 oder nur 14 Stunden in die Schule geht. Entscheidend ist, dass es die Lernziele erreicht.


Während andere Kantone Maturaprüfungen durchführen und Zeugnisse ausstellen, geht Zürich einen anderen Weg. Wo setzen Sie die Schwerpunkte für die kommenden Wochen?

Die Lehrpersonen sollten die methodischen und didaktischen Erfahrungen, die sie nun mit der Fernunterricht und der Digitalisierung gemacht haben, aufarbeiten und sich um die nächsten Jahrgänge kümmern. Denn es ist alles andere als sicher, ob die Gymnasien am 8. Juni wieder aufgehen.


Warum nicht? Eigentlich rechnen doch alle mit diesem weiteren Öffnungsschritt.

Es könnte eine zweite Welle von Infektionen mit dem Coronavirus geben. Oder der Bundesrat macht beim Schutzkonzept für die älteren Schüler strengere Auflagen in Bezug auf die Distanz. Wenn zum Beispiel pro Person zehn Quadratmeter und zwei Meter Abstand verlangt werden, sind das fünf Schüler pro Klassenzimmer. Dann kann man die Gymnasien gar nicht öffnen.


Wäre es nicht sinnvoller, auf Sekundarstufe II den Unterricht erst nach den Sommerferien wieder aufzunehmen?

Nein, ich möchte nicht bis zu den Sommerferien warten. Auch wenn der Fernunterricht gut funktioniert, haben die jungen Leute das Anrecht, einen Schritt in den Alltag zu machen. Wir haben aktuell mit einer grossen Unsicherheit zu kämpfen: der Entwicklung der Infektionsrate. Sie hängt wie ein Damoklesschwert über uns. Wenn sich die Lage positiv entwickelt, können wir den Schulbetrieb wieder hochfahren. Wenn dies nicht der Fall ist, wird es extrem schwierig.


Was für eine Rolle spielt die EDK bei dem Entscheid, wie es mit der Öffnung der Schulen weitergeht?

Wir sind sehr eng eingebunden, bei pädagogischen und organisatorischen Fragen. Die EDK hat sich stets auf den Standpunkt gestellt, dass sie sich nicht auf gesundheitswissenschaftliche Fragestellungen einlässt. Diese Verantwortung liegt beim Bund.


Führt das zu Schwierigkeiten?

Ein grosses Problem ist, dass ich das Parlament nicht mit einbeziehen kann. Deshalb herrscht wohl im Kantonsrat eine grosse Unzufriedenheit. Die Parlamente wollen ihre Verantwortung wahrnehmen. Aber die gegenwärtige Krise hat sowohl im Bund als auch in den anderen Kantonen gezeigt, dass dies während der Krise nur sehr beschränkt möglich ist. Die Situation ändert sich von Stunde zu Stunde. Ich könnte den Kantonsrat nicht einmal mit allen nötigen Informationen auf dem neuesten Stand halten. So läuft das in einer Krise. Wir sind seit Wochen nur am Reagieren und müssen oft innert sehr kurzer Zeit Entscheide fällen.


Glauben Sie, dass das nächste Schuljahr ohne grössere Einschränkungen beginnen kann?

Wenn die Infektionsrate nicht steigt, glaube ich, dass wir spätestens nach den Sommerferien wieder Normalbetrieb in den Schulen haben werden. Noch optimistischer wäre, dass wir den Betrieb bereits am 8. Juni wieder hochfahren können. Aber das hängt von ganz vielen verschiedenen Faktoren ab. Die Schule ist nicht der Treiber dieser Pandemie, sondern das Freizeitverhalten der Schweizerinnen und Schweizer. Hier stelle ich bereits eine gewisse Sorglosigkeit fest.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen