Die Schulöffnungen am 11. Mai offenbaren einen föderalen
Flickenteppich. Westschweizer Kantone, das Tessin, aber auch Zürich, Bern und
St. Gallen öffnen die Schulen mit Halbklassen und Sonderstundenplänen. Die
übrigen Kantone starten mit ganzen Klassen und normalem Stundenplan. Grund für
diese Vielfalt: In seinem am Mittwoch publizierten Empfehlungsschreiben lässt
das Bundesamt für Gesundheit den Kantonen freie Hand.
Bloss: In diesem Schreiben
wurden die Experten der wissenschaftlichen Taskforce des Bundes nur bedingt
berücksichtigt. In einem sogenannten Policy Brief mahnten die Wissenschaftler
zu einem vorsichtigen Vorgehen. Am Freitag wurde das Papier der Taskforce
öffentlich. Darin heisst es: Eine Obergrenze von 15 Kindern pro Klasse für alle
Schulen sollte «dringend berücksichtigt werden». Und weiter: «Die Rolle von
Kindern und Jugendlichen bei der Übertragung von Sars-CoV-2 ist nach wie vor
höchst ungewiss.» Das habe wichtige Konsequenzen für die politischen
Entscheide, insbesondere bei der Öffnung von Schulen.
«Keine
vertiefte Kenntnis», sagt Steiner
Im Empfehlungsschreiben des
Bundesamts für Gesundheit (BAG) fehlt eine solche Obergrenze. Man habe bewusst
darauf verzichtet, weil eine solche nicht konsequent umsetzbar sei, heisst es
auf Anfrage. Zudem wurden die Konzepte «in Zusammenarbeit mit der Erziehungsdirektorenkonferenz
(EDK) erstellt».
Dem widerspricht die EDK-Präsidentin und Zürcher Erziehungsdirektorin Silvia Steiner (62). «Als der EDK der Vorschlag des BAG zur Öffnung der Schulen unterbreitet wurde, war die Empfehlung der Taskforce mit einer Obergrenze nicht dabei», sagt Steiner zu SonntagsBlick. Die EDK habe «keine vertiefte Kenntnis» des Berichts der Taskforce und habe darum keine Stellungnahme dazu abgegeben.
Dem widerspricht die EDK-Präsidentin und Zürcher Erziehungsdirektorin Silvia Steiner (62). «Als der EDK der Vorschlag des BAG zur Öffnung der Schulen unterbreitet wurde, war die Empfehlung der Taskforce mit einer Obergrenze nicht dabei», sagt Steiner zu SonntagsBlick. Die EDK habe «keine vertiefte Kenntnis» des Berichts der Taskforce und habe darum keine Stellungnahme dazu abgegeben.
Steiner räumt aber auch ein,
dass sie selbst Kenntnis von der Existenz des Taskforce-Dokuments hatte. «Am
20. April wurde das Papier der Covid-19-Taskforce in einer Sitzung des Staatssekretariats
für Bildung, Forschung und Innovation besprochen», sagt sie. Selber sei sie
aber nicht an der Sitzung dabei gewesen, doch sie sei «informiert worden, dass
dieses Papier existiert».
Einheitliche
Regeln wären wünschenswert
So verschwurbelt das alles
klingt – klar ist: Die Kantone, welche die Schulöffnung umsetzen müssen, wurden
in Unkenntnis gelassen. So sagt der St. Galler Regierungsrat Stefan Kölliker
(49), dass sein Kanton zwar auf Halbklassen setze. «Wir hatten aber keine
Kenntnis, dass eine Taskforce des BAG zum selben Ergebnis gekommen ist.»
Empört zeigt sich die
Präsidentin des Verbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz, Dagmar Rösler (48).
«Ich hätte mir genau solche weitergehenden, verbindlichen Regelungen für alle
Kantone gewünscht», sagt die oberste Lehrerin des Landes. Der Lehrerverband
habe sich in Briefen an den Bundesrat und das BAG gewandt und eben solche
Richtlinien verlangt. «Wir sind damit aber nicht durchgedrungen», so Rösler.
Ähnlich tönt es bei Thomas Minder (43), dem Präsidenten des
Schulleiter-Verbandes. «Wir hätten uns einheitliche Regeln zur Wiedereröffnung
gewünscht», sagt Minder. «Es ist zu befürchten, dass die unterschiedlichen
Weisungen der kantonalen Bildungsdirektionen zu Verunsicherung bei den Eltern
und dem Schulpersonal führen.»
Auch andere
Aspekte berücksichtigt
Offenbar hat das BAG statt
auf seine Taskforce auf eine andere beratende Stimme gehört: Es ist die Stimme
der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie, des Dachverbandes der Schweizer
Kinderärzte. Die Kinderärzte vertreten den Standpunkt: «Alle bisherigen Studien
und Beobachtungen unterstützen die Annahme, dass Kinder in der Schule die
Epidemie nicht unterhalten.»
Weshalb die Gesellschaft für
Pädiatrie zu einem anderen Schluss kommt, hat damit zu tun, dass sie «neben der
Virologie und der Epidemiologie auch andere Perspektiven» berücksichtigt, wie
sie auf Anfrage schreibt. Genauer sagt es der Infektiologe Andreas Cerny (64):
«Diese Beurteilung berücksichtigt auch psychosoziale und wirtschaftliche
Aspekte, die mit dem Fernbleiben der Kinder von der Schule verbunden sein
können.»
Obwohl sich diese Woche die
wissenschaftlichen Stimmen gemehrt haben, die vor einer zu unbegrenzten Öffnung
der Schulen warnen, bleibt der Verband der Kinderärzte bei seiner Aussage. So
hat der deutsche Virologe Christian Drosten (48) am Mittwoch eine Studie
veröffentlicht, die besagt: Es gebe keinen Unterschied zwischen infizierten
Kindern und Erwachsenen in Bezug auf die Virusmenge. Es gebe zwar Argumente, dass
Kinder andere Leute weniger ansteckten, weil sie aufgrund fehlender Symptome
weniger husten. Trotzdem müsse derzeit vor einer «unbegrenzten Wiedereröffnung
von Schulen und Kindergärten» gewarnt werden.
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