13. Juni 2016

Warum verlassen Kinder die Volksschule?

Rund vier Prozent der Kinder in der Schweiz besuchen während der obligatorischen Schulzeit eine private Einrichtung. Warum verlassen Kinder die Volksschule? Warum entscheiden sich Eltern für die teure Alternative? Drei Familien berichten.
Das Problem ist das System, Bild: Samuel Trümpi
















Wenn Schule zur Privatsache wird, Migros Magazin, 13.6. von Erika Burri


Privat oder öffentlich? Für Jero (16), Kim (14) und Laïn (11) hat sich diese Frage nie gestellt: Sie kennen nichts anderes als die Welt der Zeit-Kind-Privatschule. Ihre Eltern,Armin und Martina Fähnrich, haben die Einrichtung 2003 gegründet. Armin Fähnrich (46) bezeichnet sich als leidenschaftlichen Pädagogen, der zunehmend Mühe damit hatte, dass die Volksschule sich Ende der 90er-Jahre zu verändern begann: Die Lehrerausbildung wurde akademisiert, die Schulen erhielten Schulleiter, und die Klassen, die nun zunehmend integrativ geführt wurden, bekamen Besuch von Spezial- und Förderlehrern.

Was für Armin Fähnrich bei all den Umstrukturierungen zu kurz kam, war die Beziehung zum Kind. Wenn Primarschüler von mehreren Lehrern unterrichtet würden, sagt er, sei es mit dem Aufbau von Beziehungen zwangsläufig schwierig. Und: «Lehrer, die ein Kind nicht kennen, können kaum einen Erfolg bewirken.» Lernen basiere auf Vertrauen – und Vertrauen entstehe nur, wenn die Lehrperson eine Beziehung zum Kind aufbaue. Für ihn war deshalb bald klar: Das System ist das Problem.

Für Armin und Martina Fähnrich (41) war es aber nie Bedingung, dass auch ihre eigenen Kinder ihre Privatschule besuchen sollten. Denen gefiel es jedoch, und es erleichterte das Familienleben. 

Viele der Schulkollegen, die von der öffentlichen Schule an die Zeit-Kind-Schule gewechselt haben, erzählen ihnen, was sie zuvor erleben mussten. Es sind Geschichten, die die Volksschule nicht gerade ins beste Licht rücken: Geschichten von Mobbing, überforderten Lehrern, grossen Klassen und Lehrpersonen, die schlechte Noten verteilen, weil sie ein Kind nicht mögen. Zwar gebe es manchmal auch Probleme an der Zeit-Kind-Schule, sagen sie, aber keine, die man nicht lösen könnte. Im Prinzip sei man eine grosse Familie.

Die Volksschule als Irrweg
Mehrere Wege führen ans Ziel – der altbekannte Spruch treffe halt schon zu, sinniertSven Jutzi. Der 40-jährige Militärpolizist sitzt auf einem Kinderstuhl der Montessori-Schule in Bern, etwas tief und nicht sonderlich bequem. Eigentlich, räumt er ein, handle es sich ja eher um Wünsche für seine beiden Töchter Cinja (8) und Sarina (4) als um ein klares Ziel: «Sie sollen in ihrem Leben Freude am Lernen haben.» Seine Frau Nicole Jutzi (41) ergänzt: «Ich möchte, dass sie im Leben keine Angst haben, zu versagen.» In den Aussagen der Eltern schwingen die Erinnerungen mit, die sie mit der eigenen Schulzeit verbinden: Sven Jutzi litt an Prüfungsangst, die er auch später nie ganz überwinden konnte.

Auch Maristella Weiss ist Mutter zweier Privatschulkinder. Sie sieht ihre Aufgabe aber nicht darin, ihren Kindern alle Steine aus dem Weg zu räumen. Ihre Zwillingsbuben müssten sich schon auch anstrengen und merken, dass sie die Gestaltung der Zukunft in der eigenen Hand haben. 

Samuel und Mattia (14) waren keine guten Primarschüler. Hausaufgaben waren für Kinder wie Eltern nicht selten frustrierend. Die Zwillinge waren einen Monat zu früh auf die Welt gekommen; bei der Einschulung gehörten sie zu den Kleinsten. Diesen Rückstand haben sie nie ganz aufgeholt. Er wolle die öffentliche Schule überhaupt nicht kritisieren, sagt Vater Michael Weiss (43), die gäben sich wirklich Mühe. Aber bei zwischenzeitlich bis zu 27 Kindern in einer Klasse sei eine intensive individuelle Förderung nun mal mehr Wunsch als Realität.

Samuels und Mattias Noten reichten nur knapp für den Übertritt an die Sekundarschule. Die Aussichten, ohne Fördermassnahmen einigermassen gut abzuschliessen, waren eher klein. Den Eltern wäre es am liebsten gewesen, ihre Buben hätten die 6. Klasse wiederholen können. Ein schlechter Sekundarschulabschluss, fanden sie, ist ein schlechter Start ins Erwachsenenleben.

Dass ihre Kinder keine Hochbegabten sind, weiss Maristella Weiss. Aber sie und ihr Mann waren überzeugt, dass etwas mehr drinläge. Mattia absolviert nun an der Ortega-Schule in St. Gallen die Sekundarschulvorbereitung, Samuel die erste Sekundarstufe. Die Klassen sind kleiner, und die Lehrer haben mehr Zeit.

Eine Alternative, die ihren Preis hat
Es lässt sich kaum wegdiskutieren: Viele Kinder aus dem Schweizer Mittelstand, die in der Schweiz eine Privatschule besuchen, haben diese Alternative gewählt, weil es an der öffentlichen Schule Probleme gab – mit Mitschülern, mit Lehrpersonen. Oder weil das Umfeld einfach nicht stimmte. 

Daneben gibt es die Privilegierten und die Expats. Für sie hat die Schule oft auch den Charakter einer Dienstleistung, die man einkauft. Die meisten Privatschulen befinden sich folglich dort, wo Reiche und Expats wohnen: in einigen Gemeinden am Zürichsee, im Kanton Zug, am Genfersee und in Basel-Stadt. Rund vier Prozent der Kinder in der Schweiz besuchen nicht die Volksschule; diese Quote ist seit Jahren stabil.

24'000 Franken Schulgeld pro Jahr zahlen die Jutzis für die beiden Mädchen. Was Nicole Jutzi als Spitex-Schwester verdient, fliesst mehr oder weniger direkt aufs Konto der Montessori-Schule. Die Familie verzichtet auf teure Ferien, Restaurantbesuche sind eine Seltenheit. Privatschule war für die Jutzis lange Zeit gar kein Thema – bis die Älteste sich im zweiten Kindergartenjahr zu langweilen begann und nicht mehr gern hinging. Also schauten sich die Jutzis nach Alterna­tiven um – und fanden die Montessori-Schule. Sie schätzen die Art, wie die Schule mit Fehlern umgeht. «Es heisst nicht einfach: Etwas ist falsch», sagt Nicole Jutzi. Die Montessori-Lehrer gäben den Kindern die Chance, Fehler selber zu entdecken und zu beheben. Es ist Nicole und Sven Jutzi etwas wert, ihren Mädchen vieles vom dem zu ersparen, was sie selber erlebt haben.

Zahlungswille ist noch kein Eintrittsticket
Die Zwillinge Samuel und Mattia wissen sehr wohl, wie viel die Ortega-Schule in St. Gallen kostet: 100 Franken pro Kind und Schultag. Viel Geld. Die Schulgemeinde ihres Wohnorts übernimmt davon etwas mehr als die Hälfte. Mattia will vielleicht mal Kindergärtner werden, Samuel «irgendwas mit Technik» machen. Zur Schule, darin sind sich die beiden einig, gehen sie jetzt viel lieber.

Die elterliche Bereitschaft zu zahlen garantiert indes noch nicht, dass die Privatschulen die Kinder auch aufnehmen. Sie laden zu Besuchstagen ein und führen intensive Gespräche mit den Eltern. «Wir nehmen im Prinzip nicht die Schüler auf, sondern die Eltern», sagen Armin und Martina Fähnrich, die Gründer der Zeit-Kind-Schule. Sie wollen von den Eltern wissen: Was sind ihre Motive? Geht es darum, die Privatschule für ihre eigenen Ziele einzuspannen? Oder geht es ihnen wirklich um das Wohl des Kindes? 

«Wenn Eltern zu uns kommen und sagen, sie wollten, dass ihr Kind die Matura schaffe», sagt Armin Fähnrich, «dann sagen wir ab.» Auch die anderen beiden Schulen bestätigen, dass sie Kinder ablehnen, wenn sie merken, dass die Eltern sich gar nicht mit der Philosophie der Schule auseinandergesetzt haben.

Die Fähnrichs haben es oft erlebt: Kinder scheitern in der Schule, weil die Erwartungen der Eltern zu hoch sind. «Die Eltern übertragen ihre Ängste oft auf ihre Kinder», sagt Martina Fähnrich, ausgebildete Schauspielerin und Theaterpädagogin. Die Angst etwa, sozial abzusteigen und im Leben nicht zu bestehen. Diese Ängste führten dazu, dass man nicht sehe, was das Kind eigentlich sei: ein Individuum, das in dieser Welt seinen eigenen Weg zu gehen hat. 


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