5. Mai 2020

Lesen und Schreiben verfassungsmässig geschützt


Ein amerikanisches Appellationsgericht hat entschieden, dass Lesen und Schreiben ein Recht sei, das die Verfassung garantiere. Es hat damit in ein Wespennest gestochen, denn Bildung ist in den USA ein emotionsgeladenes und geschichtlich belastetes Thema.

Gilt «gleiches Recht für alle» auch für die Bildung? NZZ, 5.5. von Peter Winkler

Von Ratten und Kakerlaken verseucht, von Schimmel befallen, im bitterkalten Winter des mittleren Westens ohne Heizung und im schwülen Sommer ohne Kühlung: Den Schulen in Detroit fehlte es nicht nur an Unterhalt, Material und Büchern, sondern auch an Lehrern. Die Lage war Anfang 2016 so schlimm, dass sie sich aus Protest reihenweise krankmeldeten. Andere gaben, wegen des völligen Mangels an Unterstützung entnervt, kurz nach Stellenantritt gleich ganz auf. Wenn Unterrichtsstunden überhaupt stattfanden, sassen deshalb bis zu 45 Schüler im Klassenzimmer, doppelt so viele wie im landesweiten Durchschnitt.

Kein Recht auf Bildung

Bürgermeister Mike Duggan, der seit 2014 mit einigem Erfolg versucht, die einst todgeweihte Stadt wiederzubeleben, meinte entsetzt, die Zustände brächen ihm das Herz. Seither ist auch einiges geschehen. Der Schulbezirk Detroit wurde 2016 zweigeteilt. Die massiven Schulden blieben beim alten Bezirk, die Verwaltung der Schulen für rund 46 000 Schüler ging an den neuen über, der unbelastet bleiben sollte. Doch da war einigen Eltern der Kragen bereits geplatzt. In einer Sammelklage für fünf ihrer Kinder wollten sie den Schulbezirk und den Staat Michigan zwingen, allen Schülern ein Minimum an Bildung zu garantieren, insbesondere die Fähigkeit, zu lesen und zu schreiben («literacy»). Sie stützten sich dabei auf den 14. Verfassungszusatz, der allen Bürgern der USA gleiche Behandlung vor dem Recht verspricht. 

Eine dreiköpfige Kammer des Bundesappellationsgerichts in Cincinnati (Ohio) hat der Klage mit einem Mehrheitsentscheid von 2 zu 1 recht gegeben. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig; es könnte durch einen Spruch des gesamten Richterkollegiums umgestossen werden, und im Fall eines Weiterzugs durch die Gouverneurin Gretchen Whitmer müsste sich der Supreme Court in Washington dazu äussern. Die Klage hatte sich ursprünglich gegen den republikanischen Gouverneur Rick Snyder und dessen Schulbehörde gerichtet. 2018 wurde die Demokratin Whitmer gewählt, und sie liess vorläufig nur mitteilen, man studiere das Urteil.
Der Spruch aus Cincinnati erregt aber bereits Aufsehen, denn es ist das erste Mal, dass ein höheres Gericht ein Minimum an Bildung zu einem verfassungsmässig garantierten Bürgerrecht deklariert. Noch 1973 hatte der Supreme Court in einem ähnlich gelagerten Fall aus Texas mit einer konservativen 5-4-Mehrheit entschieden, die Verfassung garantiere kein Recht auf Bildung und die Diskriminierung der Betroffenen sei nicht systematisch. Zwar hat der Supreme Court auch jetzt eine konservative Mehrheit, aber gerade in Sachen Rassenbeziehungen und Diskriminierung ist die Zeit seither nicht stehengeblieben. 
Ein anderer Rechtsstreit über das gleiche Recht auf die Fähigkeit zum Lesen und Schreiben in Kalifornien endete im Februar mit einem Vergleich. Der «Golden State» verpflichtete sich, 75 Schulen in Notlage 53 Millionen Dollar zu zahlen – natürlich nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Im Fall von Detroit ist noch unklar, welche konkreten Massnahmen ergriffen werden müssten, um Missstände zu beheben.
Klar ist, dass mit einer Lawine von ähnlichen Bemühungen im ganzen Land gerechnet werden müsste, falls das Urteil Bestand hätte. Denn Amerikas Schulen sind alles andere als gleich. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass sie – abgesehen von Mitteln aus den Budgets der Gliedstaaten und der Bundesregierung – zu einem beträchtlichen Teil mit den Grundstücksteuern auf der Ebene der Countys oder der Gemeinden finanziert werden. 

Hier reich, da nicht

Amerikas Kinder gehen in der Regel dort zur Schule, wo sie wohnen. Die Regel kann mit Charter-Schulen umgangen werden, die öffentlich finanziert, aber privat betrieben werden und weniger Auflagen haben. Mit Geld ist auch der Zugang zu Privatschulen käuflich. Doch im Gewebe der amerikanischen Gesellschaft ist die Qualität des Schulbezirks ein wesentliches Kriterium für die Wahl des Wohnorts. Das schlägt sich in den Preisen nieder: Gute öffentliche Schulen liegen in teuren Quartieren oder Vororten. Darum spielt im Leben der Amerikanerinnen und Amerikaner die Postleitzahl, die Aufschluss über den Wohnort gibt, eine derart wichtige Rolle.
Das führt auch zu Spannungen, weil die Bevölkerung natürlich nicht die gleiche bleibt, sondern sich stetig weiterentwickelt. Quartiere werden neu erschlossen, manche steigen in der Gunst, andere fallen zurück. Periodisch werden, wie bei den Wahlkreisen, auch bei den Schulbezirken Anpassungen nötig, und dies geht immer mit einer Menge bitterer Auseinandersetzungen einher.
In Montgomery County (Maryland), einem Bezirk vor den Toren der Hauptstadt Washington, sorgte schon die Nachricht, dass die Aufteilung der Schulkreise im Hinblick auf eine Reform untersucht werde, für Panik unter einem Teil der Eltern. Die Proteste hielten an, bis die Schulbehörde versprach, der Untersuchungsbericht werde nicht zwingend zu Veränderungen führen. Doch das Misstrauen blieb bestehen; der Bericht wurde nach zweimaliger Revision durch politische Behörden über Nacht – angeblich aus Versehen – ohne Ankündigung auf der Website der Schulbehörde publiziert. Nur dem heftigen Ausbruch der Covid-19-Seuche ist geschuldet, dass er vorläufig kaum Echo auslöste.
Das Grundproblem in Montgomery County ist das gleiche wie in Detroit. Gewisse Schulen sitzen in einer Armutsfalle und sind überlastet. Andere haben es recht komfortabel, sowohl was die Grundstücksteuern der umliegenden Quartiere anbelangt als auch hinsichtlich der Zahl der Schüler. Schliesslich leben in ausladenden Einfamilienhäusern naturgemäss weniger Menschen als in Wohnblöcken, und mit den Zonenbestimmungen hielten sich Immobilienbesitzer in den USA schon immer unerwünschte Nachbarn vom Leib.

Zweifache Strafe

Auch der Bericht in Montgomery County macht deutlich, dass die Schülerzahl gemessen an der Kapazität der Schulen in den bevölkerungsreichen Gegenden – beispielsweise entlang der grossen Verkehrsachsen – deutlich grösser ist. Wer in einem privilegierten Schulkreis wohnt, befürchtet aber, bei einer Änderung der Grenzen zweifach bestraft zu werden. Die Kinder müssten dann vielleicht in eine Schule wechseln, die auf den gängigen Bewertungsplattformen weniger gute Noten hat. Dies könnte zur Folge haben, dass das Wohneigentum an Wert verlöre. Gerade dieser zweite Grund bedeutet, dass auch Bürgerinnen und Bürger ohne schulpflichtige Kinder engagiert an der Debatte teilnehmen.
Untersuchungen haben gezeigt, dass die ganze Sache unter günstigen Umständen kein Nullsummenspiel ist, dass also Gewinne für die unterprivilegierten Schulkreise nicht zwingend Verluste für die privilegierten auslösen. Aber ob das jeweils auch für die eigene Situation der Fall ist, stellt sich für die Betroffenen immer erst im Nachhinein heraus. Darum ist es schwierig, sie von den Vorteilen einer gewissen Flexibilität und Offenheit zu überzeugen.


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