Ein amerikanisches Appellationsgericht hat entschieden, dass Lesen und Schreiben ein Recht sei, das die Verfassung garantiere. Es hat damit in ein Wespennest gestochen, denn Bildung ist in den USA ein emotionsgeladenes und geschichtlich belastetes Thema.
Gilt «gleiches Recht für alle» auch für die Bildung? NZZ, 5.5. von Peter Winkler
Von
Ratten und Kakerlaken verseucht, von Schimmel befallen, im bitterkalten Winter
des mittleren Westens ohne Heizung und im schwülen Sommer ohne Kühlung: Den
Schulen in Detroit fehlte es nicht nur an Unterhalt, Material und Büchern,
sondern auch an Lehrern. Die Lage war Anfang 2016 so schlimm, dass sie sich aus Protest
reihenweise krankmeldeten. Andere gaben, wegen des völligen Mangels an
Unterstützung entnervt, kurz nach Stellenantritt gleich ganz auf. Wenn
Unterrichtsstunden überhaupt stattfanden, sassen deshalb bis zu 45 Schüler im
Klassenzimmer, doppelt so viele wie im landesweiten Durchschnitt.
Kein Recht auf Bildung
Bürgermeister Mike Duggan, der seit 2014 mit einigem Erfolg
versucht, die einst todgeweihte Stadt wiederzubeleben, meinte entsetzt, die
Zustände brächen ihm das Herz. Seither ist auch einiges geschehen. Der Schulbezirk Detroit wurde
2016 zweigeteilt. Die massiven Schulden blieben beim alten
Bezirk, die Verwaltung der Schulen für rund 46 000 Schüler ging an den neuen
über, der unbelastet bleiben sollte. Doch da war einigen Eltern der Kragen
bereits geplatzt. In einer Sammelklage für fünf ihrer Kinder wollten sie den
Schulbezirk und den Staat Michigan zwingen, allen Schülern ein Minimum an
Bildung zu garantieren, insbesondere die Fähigkeit, zu lesen und zu schreiben
(«literacy»). Sie stützten sich dabei auf den 14. Verfassungszusatz, der
allen Bürgern der USA gleiche Behandlung vor dem Recht verspricht.
Eine dreiköpfige Kammer des Bundesappellationsgerichts in
Cincinnati (Ohio) hat der Klage mit einem Mehrheitsentscheid von 2 zu
1 recht gegeben. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig; es könnte durch einen
Spruch des gesamten Richterkollegiums umgestossen werden, und im Fall eines
Weiterzugs durch die Gouverneurin Gretchen Whitmer müsste sich der Supreme
Court in Washington dazu äussern. Die Klage hatte sich ursprünglich gegen
den republikanischen Gouverneur Rick Snyder und dessen Schulbehörde gerichtet.
2018 wurde die Demokratin Whitmer gewählt, und sie liess vorläufig nur
mitteilen, man studiere das Urteil.
Der Spruch aus Cincinnati erregt aber bereits Aufsehen, denn
es ist das erste Mal, dass ein höheres Gericht ein Minimum an Bildung zu einem
verfassungsmässig garantierten Bürgerrecht deklariert. Noch 1973 hatte der
Supreme Court in einem ähnlich gelagerten Fall aus Texas mit einer
konservativen 5-4-Mehrheit entschieden, die Verfassung garantiere kein Recht
auf Bildung und die Diskriminierung der Betroffenen sei nicht systematisch.
Zwar hat der Supreme Court auch jetzt eine konservative Mehrheit, aber gerade
in Sachen Rassenbeziehungen und Diskriminierung ist die Zeit seither nicht
stehengeblieben.
Ein anderer Rechtsstreit über das gleiche Recht auf die Fähigkeit zum Lesen und
Schreiben in Kalifornien endete im Februar mit einem Vergleich. Der «Golden
State» verpflichtete sich, 75 Schulen in Notlage 53 Millionen Dollar zu zahlen
– natürlich nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Im Fall von Detroit ist
noch unklar, welche konkreten Massnahmen ergriffen werden müssten, um
Missstände zu beheben.
Klar ist, dass mit einer Lawine von ähnlichen Bemühungen im
ganzen Land gerechnet werden müsste, falls das Urteil Bestand hätte. Denn
Amerikas Schulen sind alles andere als gleich. Dies hängt unter anderem damit
zusammen, dass sie – abgesehen von Mitteln aus den Budgets der
Gliedstaaten und der Bundesregierung – zu einem beträchtlichen Teil mit
den Grundstücksteuern auf der Ebene der Countys oder der Gemeinden
finanziert werden.
Hier reich, da nicht
Amerikas Kinder gehen in der Regel dort zur Schule, wo sie wohnen.
Die Regel kann mit Charter-Schulen umgangen werden, die öffentlich finanziert,
aber privat betrieben werden und weniger Auflagen haben. Mit Geld ist auch der
Zugang zu Privatschulen käuflich. Doch im Gewebe der amerikanischen
Gesellschaft ist die Qualität des Schulbezirks ein wesentliches Kriterium für
die Wahl des Wohnorts. Das schlägt sich in den Preisen nieder: Gute öffentliche
Schulen liegen in teuren Quartieren oder Vororten. Darum spielt im Leben der
Amerikanerinnen und Amerikaner die Postleitzahl, die Aufschluss über den
Wohnort gibt, eine derart wichtige Rolle.
Das führt auch zu Spannungen, weil die Bevölkerung natürlich nicht
die gleiche bleibt, sondern sich stetig weiterentwickelt. Quartiere werden neu
erschlossen, manche steigen in der Gunst, andere fallen zurück. Periodisch
werden, wie bei den Wahlkreisen, auch bei den Schulbezirken Anpassungen nötig,
und dies geht immer mit einer Menge bitterer Auseinandersetzungen einher.
In Montgomery County (Maryland), einem Bezirk vor den Toren der Hauptstadt
Washington, sorgte schon die Nachricht, dass die Aufteilung der Schulkreise im
Hinblick auf eine Reform untersucht werde, für Panik unter einem Teil der
Eltern. Die Proteste hielten an, bis die Schulbehörde versprach, der
Untersuchungsbericht werde nicht zwingend zu Veränderungen führen. Doch das
Misstrauen blieb bestehen; der Bericht wurde nach zweimaliger Revision durch
politische Behörden über Nacht –
angeblich aus Versehen – ohne Ankündigung auf der Website der Schulbehörde
publiziert. Nur dem heftigen Ausbruch der Covid-19-Seuche ist
geschuldet, dass er vorläufig kaum Echo auslöste.
Das Grundproblem in Montgomery County ist das gleiche wie in
Detroit. Gewisse Schulen sitzen in einer Armutsfalle und sind überlastet.
Andere haben es recht komfortabel, sowohl was die Grundstücksteuern der
umliegenden Quartiere anbelangt als auch hinsichtlich der Zahl der Schüler.
Schliesslich leben in ausladenden Einfamilienhäusern naturgemäss weniger
Menschen als in Wohnblöcken, und mit den Zonenbestimmungen hielten sich
Immobilienbesitzer in den USA schon immer unerwünschte Nachbarn vom Leib.
Zweifache Strafe
Auch der Bericht in Montgomery County macht deutlich, dass die
Schülerzahl gemessen an der Kapazität der Schulen in den bevölkerungsreichen
Gegenden – beispielsweise entlang der grossen Verkehrsachsen –
deutlich grösser ist. Wer in einem privilegierten Schulkreis wohnt,
befürchtet aber, bei einer Änderung der Grenzen zweifach bestraft zu werden.
Die Kinder müssten dann vielleicht in eine Schule wechseln, die auf den
gängigen Bewertungsplattformen weniger gute Noten hat. Dies könnte zur Folge
haben, dass das Wohneigentum an Wert verlöre. Gerade dieser zweite Grund
bedeutet, dass auch Bürgerinnen und Bürger ohne schulpflichtige Kinder
engagiert an der Debatte teilnehmen.
Untersuchungen haben gezeigt, dass die ganze Sache unter günstigen Umständen
kein Nullsummenspiel ist, dass also Gewinne für die unterprivilegierten
Schulkreise nicht zwingend Verluste für die privilegierten auslösen. Aber ob
das jeweils auch für die eigene Situation der Fall ist, stellt sich für die
Betroffenen immer erst im Nachhinein heraus. Darum ist es schwierig, sie von
den Vorteilen einer gewissen Flexibilität und Offenheit zu überzeugen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen