Kinder sind nicht Treiber der Epidemie - warum die Öffnung der Schulen trotzdem überwacht werden muss, NZZ, 5.5. von Stephanie Kusma
Erst Wochen
nach den ersten Anzeichen der Pandemie wurde der erste Fall eines infizierten
Kindes bekannt; im April waren Daten zu gerade einmal knapp über tausend Fällen
bei Kindern publiziert, wie die Autoren einer noch nicht wissenschaftlich
begutachteten Übersichtsstudie feststellten.
Diesen Mangel an Informationen konstatierte auch die
Expertengruppe der Swiss National Covid-19 Science Task Force, die am Freitag
ihre Zusammenfassung zur
Rolle von Kindern bei der Übertragung von Sars-CoV-2 veröffentlicht hat. Sie
bleibe in hohem Masse unsicher, heisst es gleich zu Anfang des Berichts. Die
Daten, die man hierzu habe, zeigten aber alle in dieselbe Richtung, sagt der
Basler Epidemiologe Marcel Tanner, Mitautor des Berichts: nämlich dahin, dass
Kinder nicht die Treiber der Epidemie seien. Das sind nach bisherigem
Wissen Jugendliche und Erwachsene im erwerbstätigen Alter. Sie stellen weltweit
das Gros der Infizierten und gelten als die Altersklasse, die das Virus
weltweit verbreitete und im höchsten Mass weitergibt.
Eine andere Frage ist, wie empfänglich verschiedene Altersgruppen
für das Virus sind. Eine am Freitag in der wissenschaftlichen
Fachzeitschrift «Science» erschienene Studie zeigt, dass
das Risiko von Kindern bis 14 Jahren, sich beim Kontakt mit einer infizierten
Person anzustecken, nur ein Drittel von dem von Personen zwischen 15 und 64
Jahren beträgt. Woran das liegt, ist noch unklar. Eine These besagt, dass die
sogenannten ACE2-Rezeptoren, über die das Virus Zellen infiziert, bei Kindern seltener
sind als bei Erwachsenen, was die Chancen des Virus auf eine erfolgreiche
Infektion senken dürfte.
Wenn sich ein Kind allerdings ansteckt, entspricht die Virusmenge
in seinen Atemwegen derjenigen bei Erwachsenen, wie eine Auswertung des deutschen Virologen
Christian Drosten zeigt. Der Forscher von der Berliner Charité und seine
Kollegen analysierten anhand von gut 3700 bestätigten Fällen das Verhältnis
zwischen dem Alter der Betroffenen und der berechneten Menge an Sars-CoV-2
in deren Speichel oder Abstrich-Proben. Bei einer detaillierteren Analyse von
47 Fällen von Kindern bis 10 Jahren zeigten sich auch keine Unterschiede in den
Virusmengen zwischen Fällen mit und solchen ohne Symptome, wie Drosten in seinem NDR-Podcast erklärte.
Allerdings konnte auch er sich nicht auf viele Kinderdaten stützen: Knapp 50
der analysierten Proben stammten von Kindern zwischen 1 und 10 Jahren, knapp 80
weitere von Kindern und Jugendlichen zwischen 11 und 20 Jahren. Zudem
zeigte sich in seinen Daten ein gewisser Trend zu niedrigeren Virusmengen
bei Kindern im Vergleich zu Erwachsenen – der allerdings nicht statistisch
signifikant war. Letzteres könnte an der vergleichsweise geringen Zahl der
Proben in den verschiedenen Altersgruppen der Kinder liegen, gibt Tanner zu
bedenken.
Doch was heisst das in Bezug darauf, wie infektiös Kinder für
andere sind? Für die Beantwortung dieser Frage sind Drostens Daten nur
Indizien. Drosten selbst schliesst aus seinen Resultaten, dass Kinder
genauso infektiös sein könnten wie Erwachsene.
Aus den bisherigen epidemiologischen Daten lässt sich das laut
Tanner allerdings nicht ablesen. So hätten sich beispielsweise in allen
bekannten Fällen Kinder bei infizierten Erwachsenen angesteckt. Der umgekehrte
Weg, dass nämlich ein Kind einen Erwachsenen infiziert habe, sei dagegen nicht
belegt, und entsprechende Berichte seien nur anekdotisch. Selbst auf Island, wo
Schulen offen blieben, seien Kinder jeweils von Erwachsenen infiziert worden.
Wären Kinder ebenso infektiös wie Erwachsene, würde man erwarten,
dass dies bereits vor den Schulschliessungen aufgefallen wäre und sich ein
anderes Bild der Pandemie präsentiert hätte – wenigstens irgendwo, sagt der
Epidemiologe. Das habe man bis anhin aber nirgends gesehen. Von daher änderten
auch die neuen Studien die Einschätzung der Task-Force zur Rolle von Kindern in
der Pandemie nicht, sagt Tanner. Kinder könnten sich anstecken, aber seltener
als Erwachsene. Zudem erkrankten sie viel weniger schwer.
Im Sinne der Güterabwägung erlaubt das nach Meinung der Task-Force den Schritt
zur Öffnung der Schulen – die allerdings von einer Überwachung mithilfe
von Antikörper- und Virustests an repräsentativ ausgewählten
Bildungsstätten in allen Landesteilen begleitet sein muss, wie Tanner betont.
Auch empfiehlt die Task-Force eine vorsichtige, schrittweise Öffnung, mit
Hygienemassnahmen sowie solchen zur sozialen Distanzierung – also kein
«business as usual». Zudem soll im Sinn des Vorsorgeprinzips auch weiterhin nur
im Notfall auf öffentliche Betreuungsangebote zurückgegriffen werden. Die
Kinder sollen wenn möglich zu Hause betreut werden – und dies, ebenfalls als
Vorsichtsmassnahme, nicht von den Grosseltern, wie Tanner betont.
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