5. Mai 2020

Kinder keine Treiber der Pandemie

Weltweit wurden bis anhin über 3,5 Millionen Infektionen mit dem neuen Coronavirus Sars-CoV-2 bestätigt, knapp eine Viertelmillion Menschen ist mit der Infektion verstorben. Unzählige Forscherteams sammeln die verschiedensten Daten zur Infektion, zum Pandemiegeschehen und zur vom Virus ausgelösten Krankheit Covid-19 und werten sie aus. Doch eine Personengruppe ist in den Daten nur schwach vertreten: die Kinder. 

Kinder sind nicht Treiber der Epidemie - warum die Öffnung der Schulen trotzdem überwacht werden muss, NZZ, 5.5. von Stephanie Kusma

Erst Wochen nach den ersten Anzeichen der Pandemie wurde der erste Fall eines infizierten Kindes bekannt; im April waren Daten zu gerade einmal knapp über tausend Fällen bei Kindern publiziert, wie die Autoren einer noch nicht wissenschaftlich begutachteten Übersichtsstudie feststellten.



Diesen Mangel an Informationen konstatierte auch die Expertengruppe der Swiss National Covid-19 Science Task Force, die am Freitag ihre Zusammenfassung zur Rolle von Kindern bei der Übertragung von Sars-CoV-2 veröffentlicht hat. Sie bleibe in hohem Masse unsicher, heisst es gleich zu Anfang des Berichts. Die Daten, die man hierzu habe, zeigten aber alle in dieselbe Richtung, sagt der Basler Epidemiologe Marcel Tanner, Mitautor des Berichts: nämlich dahin, dass Kinder nicht die Treiber der Epidemie seien. Das sind nach bisherigem Wissen Jugendliche und Erwachsene im erwerbstätigen Alter. Sie stellen weltweit das Gros der Infizierten und gelten als die Altersklasse, die das Virus weltweit verbreitete und im höchsten Mass weitergibt.

Eine andere Frage ist, wie empfänglich verschiedene Altersgruppen für das Virus sind. Eine am Freitag in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift «Science» erschienene Studie zeigt, dass das Risiko von Kindern bis 14 Jahren, sich beim Kontakt mit einer infizierten Person anzustecken, nur ein Drittel von dem von Personen zwischen 15 und 64 Jahren beträgt. Woran das liegt, ist noch unklar. Eine These besagt, dass die sogenannten ACE2-Rezeptoren, über die das Virus Zellen infiziert, bei Kindern seltener sind als bei Erwachsenen, was die Chancen des Virus auf eine erfolgreiche Infektion senken dürfte. 
Wenn sich ein Kind allerdings ansteckt, entspricht die Virusmenge in seinen Atemwegen derjenigen bei Erwachsenen, wie eine Auswertung des deutschen Virologen Christian Drosten zeigt. Der Forscher von der Berliner Charité und seine Kollegen analysierten anhand von gut 3700 bestätigten Fällen das Verhältnis zwischen dem Alter der Betroffenen und der berechneten Menge an Sars-CoV-2 in deren Speichel oder Abstrich-Proben. Bei einer detaillierteren Analyse von 47 Fällen von Kindern bis 10 Jahren zeigten sich auch keine Unterschiede in den Virusmengen zwischen Fällen mit und solchen ohne Symptome, wie Drosten in seinem NDR-Podcast erklärte.

Allerdings konnte auch er sich nicht auf viele Kinderdaten stützen: Knapp 50 der analysierten Proben stammten von Kindern zwischen 1 und 10 Jahren, knapp 80 weitere von Kindern und Jugendlichen zwischen 11 und 20 Jahren. Zudem zeigte sich in seinen Daten ein gewisser Trend zu niedrigeren Virusmengen bei Kindern im Vergleich zu Erwachsenen – der allerdings nicht statistisch signifikant war. Letzteres könnte an der vergleichsweise geringen Zahl der Proben in den verschiedenen Altersgruppen der Kinder liegen, gibt Tanner zu bedenken.

Doch was heisst das in Bezug darauf, wie infektiös Kinder für andere sind? Für die Beantwortung dieser Frage sind Drostens Daten nur Indizien. Drosten selbst schliesst aus seinen Resultaten, dass Kinder genauso infektiös sein könnten wie Erwachsene.
Aus den bisherigen epidemiologischen Daten lässt sich das laut Tanner allerdings nicht ablesen. So hätten sich beispielsweise in allen bekannten Fällen Kinder bei infizierten Erwachsenen angesteckt. Der umgekehrte Weg, dass nämlich ein Kind einen Erwachsenen infiziert habe, sei dagegen nicht belegt, und entsprechende Berichte seien nur anekdotisch. Selbst auf Island, wo Schulen offen blieben, seien Kinder jeweils von Erwachsenen infiziert worden.

Wären Kinder ebenso infektiös wie Erwachsene, würde man erwarten, dass dies bereits vor den Schulschliessungen aufgefallen wäre und sich ein anderes Bild der Pandemie präsentiert hätte – wenigstens irgendwo, sagt der Epidemiologe. Das habe man bis anhin aber nirgends gesehen. Von daher änderten auch die neuen Studien die Einschätzung der Task-Force zur Rolle von Kindern in der Pandemie nicht, sagt Tanner. Kinder könnten sich anstecken, aber seltener als Erwachsene. Zudem erkrankten sie viel weniger schwer.

Im Sinne der Güterabwägung erlaubt das nach Meinung der Task-Force den Schritt zur Öffnung der Schulen – die allerdings von einer Überwachung mithilfe von Antikörper- und Virustests an repräsentativ ausgewählten Bildungsstätten in allen Landesteilen begleitet sein muss, wie Tanner betont. Auch empfiehlt die Task-Force eine vorsichtige, schrittweise Öffnung, mit Hygienemassnahmen sowie solchen zur sozialen Distanzierung – also kein «business as usual». Zudem soll im Sinn des Vorsorgeprinzips auch weiterhin nur im Notfall auf öffentliche Betreuungsangebote zurückgegriffen werden. Die Kinder sollen wenn möglich zu Hause betreut werden – und dies, ebenfalls als Vorsichtsmassnahme, nicht von den Grosseltern, wie Tanner betont.


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