Die Leistungsbewertung von Schülerinnen und
Schülern mittels Noten ist verzerrend und schon lange umstritten. Höchste
Zeit, dass sich die Schule hin zu einem zeitgemässen, fairen und am Kind
orientierten System der Beurteilung weiterentwickelt. Hierzu
braucht es auch das Vertrauen der Eltern.
Die Bewertung von Leistungen unserer Schülerinnen und Schüler durch
Noten ist wahrscheinlich so alt wie die Schule selbst und nicht erst seit heute
umstritten. Schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts untersuchten Studien
systematisch die Prüfungs- und Beurteilungspraxis an öffentlichen Schulen.
Diese stellten schon damals die Legitimation der Bewertungen grundsätzlich
infrage. Spätestens ab den 1950er-Jahren wurden die wissenschaftlichen
Bedenken dann auch in der Praxis diskutiert.
Dagmar Rösler ist Primarlehrerin in Bellach und Präsidentin LCH, Bild: Paolo Dutto
Dass die Notenthematik bis heute immer wieder hochkocht, hat sicherlich auch mit der Existenz Dutzender unwiderlegter Untersuchungen zu tun. Diese zeigen, dass herkömmliche Leistungsurteile sehr anfällig für eine Reihe von Verzerrungen sind und deshalb an der eigentlichen Leistung unserer Kinder vorbeiurteilen. Denn Noten vermitteln eine Scheingenauigkeit. Die Lernfortschritte der einzelnen Schülerinnen und Schüler sind weder erfasst noch sichtbar gemacht, und ausschliesslich mit Noten können Leistungen nicht adäquat abgebildet werden.
Ungleiche Voraussetzungen
Zur Veranschaulichung: Stellen Sie sich vor, Sie müssten Ihren Kindern,
während diese das Fahrradfahren erlernen, Noten geben. Wie und was würden Sie
beurteilen? Die Schnelligkeit, wie das vonstattengeht? Hätte die Tatsache,
dass Ihr Kind hinfällt und wie oft das geschieht, auch Einfluss auf Ihre Note?
Ein Kind, das die Möglichkeit hat, ein Laufrad zu benutzen, bevor es auf ein
richtiges Velo umsteigt, geniesst mit Bestimmtheit den Vorteil, das
Gleichgewicht auf einem Zweirad bereits halten zu können. Es ist folglich viel
schneller fähig, auf ein Velo zu steigen und loszupedalen als eines, das noch
nie auf einem zweirädrigen Gefährt sass und sich diese Balancefähigkeit zuvor
nicht aneignen konnte.
Wie sollen diese Kinder nun bewertet werden? Das Kind mit dem Laufrad
lernt logischerweise schneller und mit weniger Unfällen Velo zu fahren als
jenes, das das erste Mal mit einem Zweirad unterwegs ist. Demzufolge müsste das
zweite Kind die schlechtere Note bekommen, auch wenn es gar nicht die gleichen
Voraussetzungen und Chancen hatte wie unser erstes Kind. Kann dann
schlussendlich die gesetzte Zahl aufzeigen, wie und was das Kind gelernt hat
und wo es noch üben sollte?
Was sich hier wie eine Posse liest, ist für Lehrerinnen und Lehrer eine
tägliche Gratwanderung und ein Leben mit Widersprüchen. Vor allem in den ersten
Schuljahren tummeln sich in den Klassen Kinder mit verschiedenen
Leistungsniveaus, ungleichen Voraussetzungen und in ganz unterschiedlichen
Entwicklungsstadien. Aus diesem Grund haben Lehrerinnen und Lehrer ja auch den
berechtigten Auftrag, innerhalb der Klasse nach Möglichkeit differenziert zu
unterrichten. Das heisst, die Schülerinnen und Schüler dort abzuholen, zu
fordern und zu fördern, wo sie sich in ihrem Leistungsstand gerade befinden.
Nur, bei der Notengebung hat dann diese Differenzierung des kindlichen Entwicklungsstandes aufzuhören. Am Ende einer Lerneinheit werden alle wieder mit der gleichen Elle gemessen, und es muss meist anhand von Tests in einer Momentaufnahme festgehalten werden, wie viele Aufgaben richtig gelöst oder wie viele Fragen richtig beantwortet worden sind. Anhand eines bestechend einfachen Systems (Zahlen von 1 bis 6), welches Schülerinnen und Schüler wie auch Eltern in unserem Land seit Generationen prägt, wird also der Lernstand unserer Kinder festgehalten.
Nur, bei der Notengebung hat dann diese Differenzierung des kindlichen Entwicklungsstandes aufzuhören. Am Ende einer Lerneinheit werden alle wieder mit der gleichen Elle gemessen, und es muss meist anhand von Tests in einer Momentaufnahme festgehalten werden, wie viele Aufgaben richtig gelöst oder wie viele Fragen richtig beantwortet worden sind. Anhand eines bestechend einfachen Systems (Zahlen von 1 bis 6), welches Schülerinnen und Schüler wie auch Eltern in unserem Land seit Generationen prägt, wird also der Lernstand unserer Kinder festgehalten.
Denken Sie bitte wieder an das Beispiel mit dem Erlernen des
Velofahrens. Noten haben den trügerischen Vorteil, dass sie einfach aufzuzeigen
scheinen, wie das Kind in einem bestimmten Thema abgeschnitten hat. Sie sind
ein altbewährtes Mittel, Leistungen und vielleicht auch Anstrengungen von
Schülerinnen und Schülern zu etikettieren. Noten sind aber kein taugliches
Mittel, um einen Lernprozess oder eine Lernentwicklung aufzuzeigen. Deshalb hat
die Schule schon seit mehreren Jahren den Auftrag, nicht nur summative (bilanzierend
mittels Noten), sondern auch formative (förderorientierte) und prognostische
Beurteilungen vorzunehmen.
Letztere basieren auf einer engen Kommunikation zwischen Lehrerinnen und Lehrern und ihren Schülerinnen und Schülern und sollen ebenfalls Einfluss auf die Zeugnisnote des Schülers oder der Schülerin haben. Sie geben Lehrerinnen und Lehrern die Möglichkeit, jenseits eines starren Zahlensystems auf die Lernprozesse der Kinder einzugehen. So weit, so gut. In der Praxis wird es dann schwierig, wenn Zeugnisnoten als reine Durchschnittsrechnungen von geschriebenen Schulprüfungen gesehen werden. Vielerorts geraten Lehrerinnen und Lehrer unter Druck, wenn die Zeugnisnoten nicht dem errechneten Durchschnitt entsprechen.
Letztere basieren auf einer engen Kommunikation zwischen Lehrerinnen und Lehrern und ihren Schülerinnen und Schülern und sollen ebenfalls Einfluss auf die Zeugnisnote des Schülers oder der Schülerin haben. Sie geben Lehrerinnen und Lehrern die Möglichkeit, jenseits eines starren Zahlensystems auf die Lernprozesse der Kinder einzugehen. So weit, so gut. In der Praxis wird es dann schwierig, wenn Zeugnisnoten als reine Durchschnittsrechnungen von geschriebenen Schulprüfungen gesehen werden. Vielerorts geraten Lehrerinnen und Lehrer unter Druck, wenn die Zeugnisnoten nicht dem errechneten Durchschnitt entsprechen.
Fürs Leben statt für Noten
lernen
Auch wenn der Abschied von Althergebrachtem und Bekanntem nicht leicht
ist, das Ziel der Schule muss langfristig sein, neue Wege der
Leistungsbegleitung und -bewertung zu suchen und zu erproben. So, dass Können,
Querdenken, Kreativität, Fantasie, aber auch Fähigkeiten wie Durchhaltewillen,
Zusammenarbeit mit anderen, Teamgeist, Anstrengungsbereitschaft und
Frustrationstoleranz besser berücksichtigt werden können. Denn wenn schulisches
Streben nur auf «Notenerwerb» zielt, Unterricht zum «teaching to the test» oder
«learning for the test» mutiert, lernen wir alle an dem vorbei, was in Zukunft
immer wichtiger wird: Kreativität, soziales Lernen und die Fähigkeit, mit
Fantasie Probleme zu lösen.
Um es ganz sachlich auf den Punkt zu bringen: Mit dem Wandel in unserer
Gesellschaft – der fortschreitenden Digitalisierung, der Kompetenzbeurteilung
in Verbindung mit dem Lehrplan 21, der schulischen Integration und der
Anerkennung der Unterschiedlichkeit unserer Kinder – muss das Bewertungssystem
in unserer Schule ebenfalls einen Wandel erfahren. Dies kann nur mit einem
transparenten Bewertungssystem und einem klaren, interkantonalen Konzept
erfolgreich sein, welches nebst oder anstelle von Noten auch das professionelle
Ermessen von Lehrerinnen und Lehrern zulässt. Vonseiten der Eltern wiederum
braucht es Vertrauen in die Professionalität von Lehrerinnen und Lehrern, damit
diese die Schülerinnen und Schüler in die Zukunft führen können. Schliesslich
sollte es sowohl Eltern als auch Lehrerinnen und Lehrern in der Sache ja nur um
eines gehen: eine faire, zeitgerechte und am Kind orientierte Beurteilung, die
es dort abholt, wo es gerade steht.
In der heutigen Schule, wo Schülerinnen und Schüler mit verschiedenen Leistungsniveaus in einer Klasse sitzen, wo es um die Kompetenzorientierung geht, wo man ins digitale Zeitalter aufbricht, ist es auch höchste Zeit, das Bewertungssystem zu modernisieren. Die Noten dabei wie einen heiligen Gral zu behandeln, ist nicht mehr zeitgemäss und bremst die Schule in ihrer Entwicklung aus.
In der heutigen Schule, wo Schülerinnen und Schüler mit verschiedenen Leistungsniveaus in einer Klasse sitzen, wo es um die Kompetenzorientierung geht, wo man ins digitale Zeitalter aufbricht, ist es auch höchste Zeit, das Bewertungssystem zu modernisieren. Die Noten dabei wie einen heiligen Gral zu behandeln, ist nicht mehr zeitgemäss und bremst die Schule in ihrer Entwicklung aus.
Frau Rösler möchte also die Leistungen der Kinder mit anderen als objektiv messbaren Kriterien darstellen. Es wäre interessant zu erfahren, wie und warum sie "Fähigkeiten wie Durchhaltewillen, Zusammenarbeit mit anderen, Teamgeist, Anstrengungsbereitschaft und Frustrationstoleranz" messen will.
AntwortenLöschenWie allen Lehrpersonen bekannt, kämpfte der LCH für den LP21. Damit wurde das alte Schweizer Schulsystem auf dem Hohenaltar der OECDs-standards geopfert und dem Pisa-Diktat unterstellt. Und nun wird "teaching to test" beklagt, die Noten als Auslaufmodell beschwört. Carl Bosshard hat schon viele Berichte über die Besonderheiten des bewährten Schweizer Schulsystems geschrieben. Leider sind diese Frau Rössler nicht bekannt. Bei den Deutschen wurde die Schule von Humboldt geprägt, bei uns von Pedtslozzi. Wobei Pestalozzis Ansatz " mit Kopf,Hand und Herz" wohl ganzheitlicher daherkommt. Und in diesem Konzept haben Noten Platz. Die Wirtschaft hat nach messbaren Kompetenzen geschrien. Diese erhält sie nun in den Stellwerkresultaten, den Pisa-Rankings... Deshalb können die Noten in den Leistungsfächern tatsächlich abgeschafft werden und die Schulen bewerten nur noch die Tugenden - natürlich nach den Massstäben des LCHs. Darüber wird sich Prof. Roland Reichenbach freuen, denn dann würden sich seine schlimmsten Befürchtungen erfüllen.
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