Das Defizit
im Deutsch unserer Schulabgänger schreckt auf. Neben der Frühförderung gilt es,
das Bildungsprogramm viel stärker auf die schulische Erstsprache auszurichten.
Lesen und Schreiben lehren ist ein Grundauftrag der Volksschule. Was so banal
tönt, ist letztlich ein komplexer Lernprozess, der systematisch und
fächerübergreifend gefördert werden muss.
Kinder brauchen ein tägliches Bad in der Sprache, Tages Anzeiger, 9.3. von Hanspeter Amstutz
Kinder haben
Hunger nach Geschichten, bei denen sie in eine andere Welt eintauchen und sich
mit Erzählfiguren identifizieren können. Dabei spielt die Lehrerin oder der
Lehrer eine zentrale Rolle. Kinder lesen im Gesicht und in der Gestik der
Erzählerin, was sich in der Geschichte abspielt. Lebendige Erzählungen sind
enorm sprachfördernd und Bausteine des Sprachunterrichts.
Jugendliche
öffnen sich für Neues, wenn ein von einer Sache begeisterter Lehrer ihnen ein
Stück Welt anschaulich erklärt. Ihr Wortschatz kann so mit einer gewissen Leichtigkeit
entscheidend erweitert werden. Eine auf wesentlichen Inhalten beruhende
sprachliche Horizonterweiterung in den Realienfächern ist die beste
Voraussetzung für das Verstehen der meisten Texte. Wo eine Sache oder ein
Geschehen fasziniert, wollen die Schüler die Zusammenhänge verstehen und
darüber reden.
Eine
Lehrperson muss kreative Übungsformen finden und zeigen, dass sie Freude an den
sprachlichen Formen hat. Ähnlich wie ein guter Fussballtrainer beim Training
auf dem Fussballplatz höchste Präsenz ausstrahlt, wird dies auch eine Lehrerin
beim Sprachtraining im Klassenzimmer tun. Sie wird sich nicht hinter einem
Computer verstecken und sich mit der Rolle als Coach zufriedengeben. Erst wenn
diese primäre Unterrichtsform gelingt, kann individualisierendes Lernen mit
digitalen Programmen eine gute Ergänzung sein.
Jugendliche
sollen den Wahrheitsgehalt von Texten erkennen können. Doch wie schafft man
dies didaktisch? Mit etwas Medienkunde allein ist es nicht getan. Wer hingegen
selber zu einigen Themen differenziert etwas schreiben kann, wird eine
kritischere Grundhaltung gegenüber Massenmedien und den sozialen Medien
einnehmen. Jugendlichen Vertrauen zum eigenen schriftlichen Ausdruck zu
vermitteln, ist für die Orientierung in der Medienwelt und im Internet
allgemein von zentraler Bedeutung. Für Lehrpersonen bedeutet die Arbeit in der
schulischen Schreibwerkstatt oft eine Herkulesarbeit. Doch die
Korrekturarbeiten und individuellen Nachbesprechungen lohnen sich, wenn die
Schüler dadurch eine bessere sprachliche Sensibilität erwerben.
Im
mündlichen Bereich gibt es unzählige Möglichkeiten für ein tägliches Sprachbad.
So lässt eine Ballade wie Fontanes «John Maynard» keinen Schüler gleichgültig,
wenn das Gedicht packend vorgetragen, erhellend interpretiert und
sprachlich-spielerisch von den Jugendlichen gestaltet wird. Ähnlich verhält es
sich mit geeigneten Theaterstücken oder der gemeinsamen Klassenlektüre eines
Jugendbuchklassikers. Anregende Bibliotheksbesuche und die Ermunterung zum
Lesen in der Freizeit helfen mit, einen weiteren Zugang zur deutschen Sprache
zu öffnen.
Deutsch lernen ist sehr zeitintensiv. Abkürzen kann man
dabei nicht. Doch genau bei dieser Aussage wird es bildungspolitisch brisant.
Vor allem die Primarschule ist arg unter Druck, ausserhalb der
Bildungskernbereiche noch eine ganze Reihe von Wunschzielen erreichen zu
müssen.
Wer die
Schüler im Deutsch ganzheitlich fördern will, wird mit einer Geschichtsstunde
pro Woche und dem schmalen Zeitbudget beim Aufsatzunterricht nicht zufrieden
sein. Nötig sind eine Neubewertung der Prioritäten und eine stärkere
Fokussierung des Bildungsprogramms auf die schulische Erstsprache.
Hanspeter
Amstutz Der pensionierte Sekundarlehrer ist Kursleiter für
Geschichtsdidaktik.
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