9. März 2020

Fokus auf Erstsprache legen


Das Defizit im Deutsch unserer Schulabgänger schreckt auf. Neben der Frühförderung gilt es, das Bildungsprogramm viel stärker auf die schulische Erstsprache auszurichten. Lesen und Schreiben lehren ist ein Grundauftrag der Volksschule. Was so banal tönt, ist letztlich ein komplexer Lernprozess, der systematisch und fächerübergreifend gefördert werden muss.
Kinder brauchen ein tägliches Bad in der Sprache, Tages Anzeiger, 9.3. von Hanspeter Amstutz

Kinder haben Hunger nach Geschichten, bei denen sie in eine andere Welt eintauchen und sich mit Erzählfiguren identifizieren können. Dabei spielt die Lehrerin oder der Lehrer eine zentrale Rolle. Kinder lesen im Gesicht und in der Gestik der Erzählerin, was sich in der Geschichte abspielt. Lebendige Erzählungen sind enorm sprachfördernd und Bausteine des Sprachunterrichts.

Jugendliche öffnen sich für Neues, wenn ein von einer Sache begeisterter Lehrer ihnen ein Stück Welt anschaulich erklärt. Ihr Wortschatz kann so mit einer gewissen Leichtigkeit entscheidend erweitert werden. Eine auf wesentlichen Inhalten beruhende sprachliche Horizonterweiterung in den Realienfächern ist die beste Voraussetzung für das Verstehen der meisten Texte. Wo eine Sache oder ein Geschehen fasziniert, wollen die Schüler die Zusammenhänge verstehen und darüber reden.

Eine Lehrperson muss kreative Übungsformen finden und zeigen, dass sie Freude an den sprachlichen Formen hat. Ähnlich wie ein guter Fussballtrainer beim Training auf dem Fussballplatz höchste Präsenz ausstrahlt, wird dies auch eine Lehrerin beim Sprachtraining im Klassenzimmer tun. Sie wird sich nicht hinter einem Computer verstecken und sich mit der Rolle als Coach zufriedengeben. Erst wenn diese primäre Unterrichtsform gelingt, kann individualisierendes Lernen mit digitalen Programmen eine gute Ergänzung sein.

Jugendliche sollen den Wahrheitsgehalt von Texten erkennen können. Doch wie schafft man dies didaktisch? Mit etwas Medienkunde allein ist es nicht getan. Wer hingegen selber zu einigen Themen differenziert etwas schreiben kann, wird eine kritischere Grundhaltung gegenüber Massenmedien und den sozialen Medien einnehmen. Jugendlichen Vertrauen zum eigenen schriftlichen Ausdruck zu vermitteln, ist für die Orientierung in der Medienwelt und im Internet allgemein von zentraler Bedeutung. Für Lehrpersonen bedeutet die Arbeit in der schulischen Schreibwerkstatt oft eine Herkulesarbeit. Doch die Korrekturarbeiten und individuellen Nachbesprechungen lohnen sich, wenn die Schüler dadurch eine bessere sprachliche Sensibilität erwerben.

Im mündlichen Bereich gibt es unzählige Möglichkeiten für ein tägliches Sprachbad. So lässt eine Ballade wie Fontanes «John Maynard» keinen Schüler gleichgültig, wenn das Gedicht packend vorgetragen, erhellend interpretiert und sprachlich-spielerisch von den Jugendlichen gestaltet wird. Ähnlich verhält es sich mit geeigneten Theaterstücken oder der gemeinsamen Klassenlektüre eines Jugendbuchklassikers. Anregende Bibliotheksbesuche und die Ermunterung zum Lesen in der Freizeit helfen mit, einen weiteren Zugang zur deutschen Sprache zu öffnen.

Deutsch lernen ist sehr zeitintensiv. Abkürzen kann man dabei nicht. Doch genau bei dieser Aussage wird es bildungspolitisch brisant. Vor allem die Primarschule ist arg unter Druck, ausserhalb der Bildungskernbereiche noch eine ganze Reihe von Wunschzielen erreichen zu müssen.

Wer die Schüler im Deutsch ganzheitlich fördern will, wird mit einer Geschichtsstunde pro Woche und dem schmalen Zeitbudget beim Aufsatzunterricht nicht zufrieden sein. Nötig sind eine Neubewertung der Prioritäten und eine stärkere Fokussierung des Bildungsprogramms auf die schulische Erstsprache.

Hanspeter Amstutz Der pensionierte Sekundarlehrer ist Kursleiter für Geschichtsdidaktik.

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